Call for Papers: Thomas von Aquin und die Praktische Philosophie
Am 7. März vor 750 Jahren starb Thomas von Aquin. 2025 feiern wir den 800. Geburtstag des doctor angelicus. Grund genug, das Denken des Dominikaners und dessen Einfluss auf die Praktische Philosophie der Gegenwart zu beleuchten. Was hat uns Thomas heute zu sagen? Welche seiner Erkenntnisse sind nach wie vor aktuell? Welche gilt es wiederzuentdecken? Thomas hat Überlegungen zu fast allen Bereichen der Praktischen Philosophie angestellt, die in zunehmendem Maße wieder in laufende Diskurse eingebracht werden.
Das betrifft erstens das Feld der Ethik und Moralphilosophie. Im Zuge der Renaissance tugendethischer Positionen gerät auch Thomas՚ Habitus- und Tugendlehre wieder in den Blick (Nickl 2001, Schönberger 2021). Interessant erscheint hier sowohl seine Rezeption und Interpretation der Ethik des Aristoteles (Hoffmann/Müller/Perkams 2013) als auch seine christliche Transformation dieser Tradition. Wie unterscheidet sich z.B. die Glückslehre des Thomas vom antiken Eudämonismus einerseits und von Positionen innerhalb der protestantischen Ethik andererseits (Brachtendorf 2012)? Ist Thomas՚ Tugendverständnis genuin christlich und damit unvereinbar mit dem des Aristoteles (Stump 2011)? Deckt gerade eine christliche Lesart sowohl seine Eigenständigkeit als auch seine Anschlussfähigkeit an neuere empirische Forschungen, etwa zu „joint attention“ und Triangulation, auf (Pinsent 2012)? Hilft uns Thomas, die von Aristoteles behauptete These von der Einheit bzw. Reziprozität der Tugenden nachzuvollziehen (Halbig 2013, Kap. 4)? Löst die Strukturierung in Kardinaltugenden und deren Spezifizierung das Problem der ‚Proliferation der Tugenden‘ (Halbig 2013, Kap. 2.5)? Trägt Thomas՚ Theorie der Laster dazu bei, moralisch schlechtes Handeln besser zu verstehen (McCluskey 2017)? Zeigen sich in Thomas Ethik eher universalistische oder partikularistische Tendenzen (Perkams 2023)? Und was folgt aus der These vom Guten als einem Transzendentalbegriff für das Verständnis von Ethik im Allgemeinen? Neben diesen gesamttheoretischen Fragen sind es auch einzelne, von Thomas zum Teil recht ausführlich behandelte Tugenden, auf die in den einschlägigen Debatten der Gegenwart Bezug genommen wird, etwa Dankbarkeit (Nisters 2021) oder Liebe (Rohr 2018, Oderberg 2021).
Damit ist zweitens die Affekt- bzw. Emotionstheorie angesprochen, ist Liebe für Thomas doch – genauso wie Hoffnung – sowohl Affekt bzw. Leidenschaft als auch Tugend. Wie aber können Liebe und Hoffnung beides sein, wenn zugleich gilt, dass Affekte keine Tugenden und Tugenden keine Affekte sind (Tegtmeyer 2018)? Was hält die Formen der Liebe, die Thomas unterscheidet – affektives Begehren, rationales Streben, Freundschafts-, Gottes- und Nächstenliebe – begrifflich zusammen? Und was können wir aus seinem Verständnis für den heutigen Liebesdiskurs lernen? Martin Pickavé zufolge ist die Theorie der Affekte, die Thomas im zweiten Teil der Summa theologiae entfaltet, „die ausführlichste Abhandlung über Emotionen, die wir in Antike und Mittelalter finden können“ (Pickavé 2012, S. 201-202). Ist sie als solche historisch überholt? Oder hilft sie uns, den Menschen als sinnlich-leibliches Wesen, das in vielerlei Hinsicht den anderen Tieren gleicht, besser zu verstehen (Miner 2009)? Ist die Zusammengehörigkeit von Leidenschaft und Tugend, von emotionalen und rationalen Kräften, die Thomas betont, gar eine heute dringend notwendige Erinnerung an „echtes menschliches Handeln“ (Nickl 2023, S. 315)?
Ein drittes Feld, auf dem die Überlegungen des Thomas für fruchtbar erachtet werden, ist die Handlungstheorie (Rhonheimer 2008). Sie haben, nicht zuletzt seit ihrer Aufnahme durch G.E.M. Anscombe, „eine zeitübergreifende Wirkung“ entfaltet, so Klaus Mertens (Mertens 2005, S. 168). Als ein Dauerbrenner philosophischer Kontroverse erweist sich hier vor allem das so genannte Prinzip der Doppelwirkung, das Thomas in der Summa theologiae (II-II, q. 64, a. 7) formuliert. Greift das Prinzip eine echte Problematik auf, und kann es gewinnbringend auf heutige Debatten angewendet werden (Masek 2018)? Oder sollte es wegen seiner Vagheit und seiner nicht mehr allgemein geteilten Voraussetzungen aufgegeben werden (Steinhoff 2018)? Unstrittig scheint dagegen zu sein, dass Thomas wesentliche Einsichten zum Problem der Akrasie, der Unbeherrschtheit bzw. Willensschwäche, d.h. des freiwilligen Handelns wider besseres Wissen anzubieten hat (Hoffmann/Müller/Perkams 2006, Müller 2016). Im Vergleich zu Augustinus und Albertus Magnus hat sich Thomas intensiver und aus einem stärker systematischen Interesse mit diesem Phänomen beschäftigt. Seine Analyse liefert wichtige Erkenntnisse über den Begriff des praktischen Wissens. Darunter versteht Thomas, grob gesagt, dasjenige Wissen, das in praktische Überlegungen eingeht. Das ist, verglichen mit einigen modernen Konzeptionen, ein weites Verständnis, denn es umfasst mehr als ein knowing how oder ein Wissen von den Prinzipien moralischen Handelns. Doch was genau umfasst es? Wie kann Thomas die Paradoxien der Akrasie, in denen Aristoteles gefangen zu bleiben scheint, auflösen? Und welche moralpsychologischen Annahmen über den Menschen gehen in seinen Lösungsvorschlag ein? Schließlich ist es auch Thomas՚ Lehre vom Gewissen (conscientia), d.h. seine Beantwortung der Fragen, ob ein irrendes Gewissen verpflichtet und ob es entschuldigt (Sum. theol. I-II, q. 19, aa. 5-6), die bis heute als richtig und wichtig erachtet wird (Herzberg 2014).
Viertens regt das Denken des Dominikaners Debatten in der Rechtsphilosophie und der politischen Philosophie der Gegenwart an. So ist etwa sein lex-Traktat in der Summa theologiae (I-II, qq. 90-105) Referenzpunkt für neuere Verteidigungen des Naturrechts (Oderberg/Chappell 2004, Finnis 2011). Schlüsselfragen sind hier u.a. die Begründung des Rechts auf Eigentum und Privatsphäre, Probleme der Verteilungsgerechtigkeit und allgemein naturrechtliche Grundlagen des positiven Rechts (Rhonheimer 1987). Ebenso interessant ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Naturrechtsdiskurs bei Thomas und dem modernen Menschenrechtsdiskurs. Von besonderer Relevanz sind heutzutage auch wieder die Überlegungen zum bellum iustum, dem gerechten Krieg. Welche Bedingungen müssen z.B. erfüllt sein, damit der Kriegseintritt einer kämpfenden Partei als gerechtfertigt angesehen werden darf, etwa bei der Abwehr eines unprovozierten Angriffs oder bei der Hilfe für eine derart angegriffene Kriegspartei? Und welchen Bedingungen müssen die Methoden der Kriegführung entsprechen, um als legitim bzw. verhältnismäßig gelten zu dürfen (Fuchs 2017)?
Für den Schwerpunkt eingereicht werden können Beiträge zu diesen und weiteren Themenfeldern. Dabei sind systematische Auseinandersetzungen ebenso willkommen wie historische Analysen, die Thomas՚ Positionen ins Verhältnis setzen zu denen seiner Vorgänger (u.a. Platon, Aristoteles, Stoa, Augustinus, Albertus Magnus etc.), seiner Zeitgenossen (u.a. Bonaventura und die Franziskaner) und seiner „Wiederentdecker“ aus den vergangenen Jahrhunderten (z.B. im Neuthomismus, bei G.E.M. Anscombe, Peter Geach, Philippa Foot, Josef Pieper oder im heutigen Analytical Thomism). Willkommen sind darüber hinaus auch Beiträge, die die methodischen und disziplinären Voraussetzungen seines Denkens reflektieren: Ist mit Blick auf den Bereich der Praktischen Philosophie des Thomas von Aquin eine Trennung von Philosophie und Theologie möglich? Erweisen sich die von ihm verwendeten Analysemethoden als hilfreich oder hinderlich?
Die Einreichungsfrist für Beiträge ist der 31.Mai 2025. Die Veröffentlichung des Schwerpunkts ist für Dezember 2025 geplant. Die Einreichung erfolgt über die Homepage der ZfPP https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/schwerpunkte. Informationen zu Umfang und Gestaltung des Manuskripts finden Sie hier: www.praktische-philosophie.org.
Bei Rückfragen, insbesondere zur thematischen Ausrichtung der Beiträge, kontaktieren Sie gern die Schwerpunktherausgeberin: Dr. Kathi Beier (kbeier@uni-bremen.de).
Zitierte Literatur:
Brachtendorf, Johannes (Hrsg.). 2012. Thomas von Aquin: Über das Glück / De beatitudine. Hamburg: Meiner.
Finnis, John. 2011. Natural Law and Natural Rights. 2nd ed. Oxford: Clarendon Press.
Fuchs, Marko J. 2017. Die Lehre vom gerechten Krieg im Mittelalter. In: Handbuch Friedensethik, hrsg. von Ines-Jacqueline Werkner, Klaus Ebeling. Wiesbaden: Springer, 239-249.
Halbig, Christoph. 2013. Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik. Berlin: Suhrkamp.
Herzberg, Stephan. 2014. Die thomanische Deutung des Gewissens. In: Gewissen. Dimensionen eines Grundbegriffs medizinischer Ethik, hrsg. von Franz-Josef Bormann, Verena Wetzstein. Berlin/Boston: De Gruyter, 189-208.
Hoffmann, Tobias/Müller, Jörn/Perkams, Matthias (Hrsg.). 2006. Das Problem der Willensschwäche in der mittelalterlichen Philosophie. – The Problem of Weakness of Will in Medieval Philosophy. Recherches de Théologie et Philosophie médiévales, Bibliotheca 8, Leuven: Peeters.
Hoffmann, Tobias/Müller, Jörn/Perkams, Matthias (Eds.). 2013. Aquinas and the Nicomachean Ethics. Cambridge: Cambridge University Press.
Masek, Lawrence. 2018. Intention, Character, and Double Effect. Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press.
McCluykey, Coleen. 2017. Thomas Aquinas on Moral Wrongdoing. Cambridge: Cambridge University Press.
Mertens, Karl. 2005. Handlungslehre und Grundlagen der Ethik (S.th. I-II, qq. 6-21). In: Thomas von Aquin: Die Summa theologiae. Werkinterpretationen, hrsg. von Andreas Speer. Berlin: De Gruyter, 168-197.
Miner, Robert. 2009. Thomas Aquinas on the Passions: A Study of Summa theologiae 1a2ae 22-48. Cambridge: Cambridge University Press.
Müller, Jörn. 2016. Willensschwäche, Selbstkontrolle und Aufmerksamkeit. Thomas von Aquin im Spiegel der empirischen Psychologie. In: Aufmerksamkeit. Neue humanwissenschaftliche Perspektiven, hrsg. von Jörn Müller, Andreas Nießeler, Andreas Rauh. Bielefeld: Transcript, 177-233.
Nickl, Peter. 2001. Ordnung der Gefühle. Studien zum Begriff des habitus. Hamburg: Meiner.
Nickl, Peter. 2023. „[Q]anto virtus fuerit perfectior, tanto magis passionem causat.“ Tugend und Leidenschaft bei Thomas von Aquin. In: Thomas von Aquin, Meister Eckhart: Über die Tugend, hrsg. von Kathi Beier, Martina Roesner. Baden-Baden: Alber/Nomos, 302-315.
Nisters, Thomas. 2021. Gratitude, Anger, and the Horros of Asymmetry. Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie 4.1, 143-147.
Oderberg, David S./Chappell, Timothy (Eds.). 2004. Human Values: New Essays on Ethics and Natural Law. London: Palgrave Macmillan.
Oderberg, David. S. 2021. The Order of Charity. Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie 4.2, 337-355.
Perkams, Matthias. 2023. Der moralische Partikularismus bei Thomas und die kognitive Rolle der Tugenden. In: Thomas von Aquin, Meister Eckhart: Über die Tugend, hrsg. von Kathi Beier, Martina Roesner. Baden-Baden: Alber/Nomos, 316-337.
Pickavé, Martin. 2012. Thomas von Aquin: Emotionen als Leidenschaften der Seele. In: Handbuch Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, hrsg. von Hilge Landweer, Ursula Renz. Berlin: De Gruyter, 185-204.
Pinsent, Andrew. 2012. The Second-Person Perspective in Aquinas’s Ethics: Virtues and Gifts, New York: Routledge.
Rhonheimer, Martin. 1987. Natur als Grundlage der Moral. Die personale Struktur des Naturgesetzes bei Thomas von Aquin. Eine Auseinandersetzung mit autonomer und teleologischer Ethik. Innsbruck: Tyrolia.
Rhonheimer, Martin. 2008. The Perspective of the Acting Person: Essays in the Renewal of Thomistic Moral Philosophy.Washington D.C.
Rohr, Winfried (Hrsg.). 2018. Liebe – eine Tugend? Das Dilemma der modernen Ethik und der verdrängte Status der Liebe. Wiesbaden: Springer.
Schönberger, Rolf. 2021. Thomas von Aquin – Neue Tugenden und alte Tugendethik? In: Handbuch Tugend und Tugendethik, hrsg. von Christoph Halbig, Felix Timmermann. Wiesbaden: Springer, 177-197
Steinhoff, Uwe. 2018. The Secret to the Success of the Doctrine of Double Effect (and elated Principles): Biased Framing, Inadequate Methodology, and Clever Distractions. Journal of Ethics 22, 235–63.
Stump, Eleonore. 2011. The non-Aristotelian character of Aquinas’s Ethics: Aquinas on the passions. Faith and Philosophy 28.1, 29-43.
Tegtmeyer, Henning. 2018. Liebe als Affekt und Tugend. Reflexionen über eine komplexe Denkfigur bei Thomas von Aquin. In: Liebe – eine Tugend? Das Dilemma der modernen Ethik und der verdrängte Status der Liebe, hrsg. von Winfried Rohr. Wiesbaden: Springer, 129-146.