Der Vorrang des Pflichtbegriffs in kollektiven Kontexten
Schlagworte:
Moralische Pflicht, unvollkommene Pflichten, moralische Verantwortung, Aggregate, Kant, kollektive KontexteKey words:
Moral Obligation, obligations in a broad sense, Moral Responsibility, Aggregates, Kant, Collective ContextsAbstract
Obgleich die Ausdrücke ‚moralische Pflicht’ und ‚moralische Verantwortung’ auf den ersten Blick nahezu austauschbar scheinen, ist in einigen Debatten dennoch fast ausschließlich von moralischer Verantwortung die Rede. Dies gilt insbesondere für die moralische Beurteilung von individuellen Handlungen in kollektiven Kontexten. Hier scheint die Rede von einer ‚kollektiven Verantwortung‘ besonders attraktiv zu sein. In diesem Aufsatz setze ich mich diesem Trend entgegen und argumentiere dafür, dem Pflichtbegriff in kollektiven Kontexten gegenüber dem Begriff der Verantwortung den Vorrang zu geben. Mein Fokus liegt hierbei auf einer bestimmten Art von Handlungen in kollektiven Kontexten, nämlich auf Handlungen in sogenannten Aggregatkollektiven. Von Aggregatkollektiven verursachte Schäden sind häufig kumulative Schäden, bei denen die Handlungen der Mitglieder eines Aggregatkollektivs einzeln betrachtet keinen merklichen Unterschied für das Auftreten des Schadens machen. Die Rede von Verantwortung legt ein Haftbarkeitsmodell moralischer Verantwortung nahe, welches sich in Bezug auf Handlungen in Aggregatkollektiven als problematisch erweist. Ich zeige, dass Kants Konzeption unvollkommener Pflichten eine vielversprechende Alternative zu dem kausal gefärbten Begriff der moralischen Verantwortung darstellt. Durch den Spielraum, den unvollkommene Pflichten Akteuren lassen, bieten sie eine ähnliche Offenheit wie der Begriff der moralischen Verantwortung. Anders als die Zuschreibung von Verantwortung vermeidet die Rede von unvollkommenen Pflichten jedoch die in kollektiven Kontexten oft inadäquate und kontraproduktive Assoziation von Haftung und Schuld.
Although the terms ‘moral obligation‘ and ‘moral responsibility‘ seem almost interchangeable at first glance, many debates are almost entirely about moral responsibility.
This especially applies to moral judgement of individual actions in collective contexts.
Here, using the concept of ‘collective responsiblity‘ is particularly favoured. In this article I oppose this trend and argue for prioritising the concept of obligation in collective contexts over the concept of responsibility. My focus is on a specific form of actions in collective contexts, namely actions in so called ‘aggregate collectives’.
Damage caused by aggregate collectives is often cumulative damage: When considered individually, the action of each member of the aggregate collective has no noticeable impact on the occurrence of the damage. Talking about responsibility seems to suggest a liability model of moral responsibility that turns out to be problematic regarding actions in aggregate collectives. I show that Kant’s conception of obligations in a broad sense is a promising alternative to the causally connoted concept of moral responsibility. Obligations in a broad sense leave enough room for choices and thus allow for a similarly broad scope as the concept of moral responsibility. In contrast to allocating responsibility, talking about obligations in a broad sense in collective contexts leaves out the association of liability and guilt which often proves to be inadequate and counterproductive.
Downloads
Zitationsvorschlag
Ausgabe
Rubrik
Lizenz
Copyright (c) 2015 Maike Albertzart
Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International.