‘Divers’ divers denken

Für eine kategorielle Pluralität der Geschlechtsanerkennung

Autor:innen

  • Christoph Rehmann-Sutter Universität zu Lübeck

Schlagworte:

Geschlechtsidentität, Geschlechtskategorien, (Non-)Binarität, Dritte Geschlechtsoption, Heteronormativität

Key words:

Gender identity, Gender categories, (Non-)binarity, Third gender option, Heteronormativity

Abstract

Was kann die ‚dritte‘ Geschlechtsoption jenseits von ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ bedeuten? Auf der Grundlage der Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts von 2017, welche die explizite Anerkennung einer dritten Geschlechtskategorie ‚divers‘ forderte, diskutiert dieser Beitrag die soziale Funktion von nichtbinären Geschlechtskategorien. Es argumentiert, dass die dritte Option nicht nur ein negativer Begriff ist, der beide traditionellen Geschlechter verneint. Sie muss auch als positive Kategorie (oder als Familie von Kategorien) gedacht werden, welche über eine Identifikation mit der Freiheit von traditionellen Geschlechtsidentitäten und Geschlechternormen gebildet ist. Die Kategorie ‚divers‘ kann deshalb keine einheitliche Identifikationskategorie sein. ‚Divers‘ soll vielmehr selbst als eine in sich diverse Kategorie gedacht werden – als ein offener Möglichkeitsraum. Wie weit kann aber die Diversifizierung der Geschlechtsidentität gehen? Der Beitrag argumentiert für eine kategorielle Pluralität der Geschlechtsanerkennung. Diese Position beinhaltet zwei Aussagen: (a) Die soziale, intersubjektive Geschlechteranerkennung braucht in der Tat Kategorien; eine vollständige Individualisierung von Geschlecht auch in dem Bereich ‚inter‘ ist nicht möglich und wäre auch nicht wünschbar. (b) Gesellschaften sollten es zulassen, dass die Geschlechtermatrix dynamisch erweitert wird, über nur zwei (oder nur drei) Kategorien hinaus. Die Gründe für diese Position werden in drei Schritten erklärt: (i) Die Pluralität von Geschlechtsidentitäten innerhalb des dritten Raumes ist eine soziale Tatsache, die zuerst einmal anerkannt werden muss. (ii) Pluralität innerhalb der dritten Geschlechtskategorie ist ethisch erforderlich, weil andere in sozialen Beziehungen ein Recht darauf haben, darüber anerkannt zu werden, als was sie gesehen werden wollen. Dieses Argument ergibt sich aus einer Rekonstruktion von Emmanuel Lévinas’ phänomenologische Ethik der Intersubjektivität. (iii) Aus der Dekonstruktion von Geschlechtsidentitäten in Werken von Judith Butler, Gundula Ludwig und Finn Mackay ist zu lernen, dass Geschlechtsidentitäten eine soziale Funktion haben: Sie machen Subjekte intelligibel, d. h. sie ermöglichen es anderen, sie zu ‚lesen‘. Deshalb müssen Geschlechtsidentitäten dem Leben des Individuums in Varianten auch vorgängig anerkannt sein und sie müssen eine Gemeinsamkeit für eine Mehrzahl von Menschen konstituieren.

English version

What can a ‘third’ gender option beyond ‘female’ and ‘male’ signify? Based on the decision of the German Constitutional Court of 2017 that demands the introduction of an explicit third gender category ‘diverse’ the paper discusses the social function of nonbinary gender categories. It argues that the third option is not only a negative term, rejecting both traditional binary genders. It is also a positive category (or a family of categories) that identifies with the freedom from traditional identities and gender norms. The category ‘diverse’ therefore cannot signify a unified third kind. Rather, ‘diverse’ is in itself a diverse category – an open room of possibilities. But the question is, how broadly can gender identities be diversified? The paper argues for a pluralism of recognized gender identity categories. This position encompasses two assertions: (a) The intersubjective, social recognition of gender needs categories; a complete individualization of gender, also within the sector ‘inter’, is neither possible nor desirable. (b) Societies should allow the gender matrix to expand dynamically beyond just two (or just three) categories. The reasons for this position are explained in three steps. (i) Plurality of gender identities within the third space is a social fact that needs to be acknowledged. (ii) Plurality within the ‘diverse’ category is ethically required, since others in social relationships have a legitimate claim to be seen and recognized as what they wish to be seen. This point is made with reference to Emmanuel Lévinas’ phenomenological ethics of intersubjectivity. (iii) Learning from deconstruction of gender identities in the work of Judith Butler, Gundula Ludwig and Finn Mackay, the point is made that gender identities have a social function: to make subjects intelligible, i.e. to enable them to be ‘read’. This requires gender identities and variants thereof to antecede the life of the individual and to constitute a commonality for a plurality of people.

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Zitationsvorschlag

Rehmann-Sutter, C. (2024). ‘Divers’ divers denken: Für eine kategorielle Pluralität der Geschlechtsanerkennung. Zeitschrift für Praktische Philosophie, 11(1). https://doi.org/10.22613/zfpp/11.1.5

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Aufsätze