Sind „vulnerable Gruppen“ vor Kritik zu schützen?
Die Funktionen der Redefreiheit für die liberale Demokratie und die Ideologisierung der Vulnerabilität
Schlagworte:
Demokratie, Legitimität, gefühlte Redefreiheit, epistemische Kompetenz, VulnerabilitätKey words:
democracy, vulnerability, free speech, concept creep, hate speechAbstract
Der Artikel verteidigt den Wert und die Unverzichtbarkeit der freien Debatte gegen neuere Tendenzen, gewisse kontroverse Beiträge zur öffentlichen Diskussion als Schädigungen vulnerabler Menschen zu delegitimieren. In den Abschnitten 1–2 werden zwei elementare Funktionen der Redefreiheit für eine liberale Demokratie vorgestellt: Erstens ist die Möglichkeit zum gewaltfreien politischen Widerspruch gegen Mehrheitsentscheidungen eine Bedingung ihrer Geltung auch für Andersdenkende. Zweitens ist sie eine notwendige Bedingung für die Erzeugung der politischen Kompetenz, die eine Demokratie am Leben hält und vernünftige politische Entscheidungen ermöglicht. In Abschnitt 3 erläutere ich, welche individuellen und sozialen Schwierigkeiten auftreten, und welche Tugenden daher entwickelt werden müssen, damit sich in einer freien Debatte kollektive Kompetenz entwickeln kann. Ausgehend von der Frage nach den Grenzen der Redefreiheit geht der 4. Abschnitt auf neuere Debatten über Hate Speech ein und hinterfragt deren tendenzielle Gleichsetzung mit physischer Gewalt. Der 5. Abschnitt führt die suggestive Kraft der Rhetorik der Vulnerabilität auf Concept Creep zurück und beschreibt die ideologische Nutzung dieser Rhetorik für die Ziele von Interessengruppen, wodurch reale Macht- und Interessenkonflikte als moralische Fragen ausgegeben werden.
The article defends the value and indispensability of free debate against new tendencies to delegitimize controversial contributions to public debate by describing them as harming vulnerable people. Sections 1–2 discuss the two elementary functions of freedom of expression for liberal democracy. First, the possibility of non-violent political objection to majority decisions is a necessary condition of their validity even for dissenters. Secondly, it is a necessary condition for generating the individual and collective competence needed to keep a democracy alive and to make sound political decisions. In the 3th section, I address the social and individual obstacles to free debate and explain what virtues are required to generate collective competence. Starting from the question of the limits of free speech, Section 4 addresses recent debates about hate speech and questions the tendency to equate hate speech almost with physical violence. Section 5 traces the rhetoric of vulnerability to concept creep and describes the ideological use of this rhetoric as leverage for interest and pressure groups, whereby real conflicts of power and interest are passed off as moral issues.
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