Grundzüge einer demokratischen Ethik der freien (Wider-)Rede
Schlagworte:
Meinungsfreiheit, demokratische Ethik, Toleranz, Konfliktfähigkeit, StreitkulturKey words:
freedom of speech, democratic ethics, tolerance, ability to deal with conflict, culture of debateAbstract
Die Frage moralischer und/oder rechtlicher Grenzen der Meinungsfreiheit, der Grenzen des Sagbaren und Tolerierbaren, stellt zunehmend eine gesellschaftliche und politische Metadebatte dar, in der Versuche, komplexe Phänomene des Aushandelns von Grenzen des Zulässigen bzw. Notwendigen semantisch zu fixieren, von erheblichem Lagerdenken zeugen. Wer von „Politischer Korrektheit“, „Cancel Culture“, „Meinungsdiktatur“ oder „Kontaktschuld“ spricht, steht klar auf der einen Seite, so scheint es; wer von „Diskriminierung“, „Rassismus“, „Hassrede“ oder „weißen Privilegien“ spricht, auf der anderen. Vor dem Hintergrund solch verfestigter Diskursbahnen stellt die Frage, ob wir alles tolerieren müssen, was andere sagen, eine Erwägungsaufgabe dar, die nur mit einem Schritt zurück überhaupt adressierbar ist, will man nicht mit dem Jargon der einen Seite die Anliegen der anderen ausschließen und damit den ungeprüften Eindruck befördern, es handle sich hier tatsächlich um eine unversöhnliche Polarisierung, der die Philosophie nichts hinzuzufügen habe, außer vielleicht ein Lamento oder eine moralische Geste. Der Umweg, über den ich im Folgenden die von dieser Schwerpunktausgabe gestellte Frage behandeln möchte, führt zunächst zu einer Analyse der Ansprüche, die plurale Demokratien an ihre Mitglieder stellen. Diese sind nicht nur grundsätzlich hoch, sondern mitunter auch in sich konfliktträchtig. Konkret betrifft dies die Anforderung an Mitglieder demokratischer Gemeinwesen, sowohl bürgerliche Toleranz zu üben als auch diskursives Engagement als Vorbedingung qualitätsvoller demokratischer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung an den Tag zu legen. Die jeweils ‚richtige Mitte‘ lässt sich dann am besten finden, wenn die Risiken zweier Extreme bewusstgemacht werden, die daran geknüpft sind, dass einerseits ein zu hohes Maß an ziviler Toleranz zulasten diskursiven Engagements geht und andererseits ein Mangel an bürgerlicher Toleranz diskursives Engagement gefährdet. Entlang dieser beiden Formen einer verhängnisvollen Dysbalance des demokratischen Ethos möchte ich Grundzüge einer demokratischen Ethik der freien Rede und freien Widerrede herausarbeiten und Implikationen für Grenzen von Meinungsfreiheit bzw. Kritik beleuchten.
For some time now, the question of moral and/or legal limits to freedom of expression, the limits of what can be said and tolerated, continues to be a highly controversial social and political meta-debate, in which attempts to semantically fix complex phenomena of negotiating boundaries of what is permissible or necessary bear witness to considerable polarization and thinking in stereotypes. Those who speak of “political correctness,” “cancel culture,” or “guilt by association” are all on one side, it seems; and those who speak of “discrimination,” “racism,” “hate speech,” or “white privilege” on the other. Against the backdrop of such a strained discursive landscape, the question of whether we have to tolerate everything that others say can only be addressed by taking a step back, if one does not want to use the jargon of one side to exclude the concerns of the other and thus promote the unchecked impression that we are confronted indeed with an irreconcilable polarization to which philosophy has nothing to add, except perhaps a lament or a mere moral gesture. The detour through which I would like to deal with the question posed by this special issue first leads to an analysis of the demands that plural democracies make on their members. These are not only high in principle, but sometimes also inherently conflictual. Specifically, this concerns the requirement for members of democratic communities both to exercise civic tolerance and to demonstrate discursive engagement as a precondition for quality democratic opinion-forming and decision-making. This tension, as I will show, can only be balanced if the risks of two extremes are brought to mind: On the one hand, too much civic tolerance comes at the expense of discursive engagement; on the other hand, a lack of civic tolerance endangers discursive engagement. Along these two manifestations of a fatal disbalance of the democratic ethos, I would like to carve out basic features of a democratic ethics of free speech/ free dissent and highlight implications for the question of the limits of freedom of expression and critique.
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