Liberalismus und die situierte Epistemologie der Ungerechtigkeit
Schlagworte:
Liberalismus, Ungerechtigkeit, Standpunkttheorie, Marginalisierung, soziale IdentitätKey words:
liberalism, injustice, standpoint theory, marginalisation, social identityAbstract
Dieser Beitrag untersucht die Frage, ob und wie der Liberalismus mit der situierten Epistemologie der Ungerechtigkeit umgehen kann. Diese Frage stellt sich im Zuge der liberalen Annäherung an Ungerechtigkeitskonzepte beispielsweise durch die nicht-ideale Theorie sowie die Rezeption Judith Shklars, und ist durch eine Diskrepanz liberaler Theoriebildung motiviert: einerseits steht das konstitutive normative Interesse des Liberalismus an Ungerechtigkeit; andererseits steht die weitgehend auf Abstraktion basierende Methodologie des Liberalismus, die spezifisches Wissen über Ungerechtigkeit verunmöglicht. Insbesondere in Fällen struktureller Ungerechtigkeit gilt die soziale Identität von Akteur:innen als relevantes Merkmal, von der aber qua partikularer Eigenschaft abstrahiert wird. Gegen diese Methodologie der Abstraktion spricht jedoch insbesondere die These der feministischen Standpunkttheorie, der zufolge Wissen sozial situiert sei und Mitglieder sozial marginalisierter Gruppen privilegierten Zugang zu Wissen über Ungerechtigkeit haben können. Dieses Wissen besitzt, so meine These, für den Liberalismus normative Relevanz. Ich werde in diesem Beitrag am Beispiel von Judith Shklars Liberalismus zeigen, dass die Integration situierten Wissens über Ungerechtigkeit in konfliktive Varianten liberaler Theorien konzeptuell möglich ist. Nach einer Übersicht über die soziale Variante feministischer Standpunkttheorie, die sich auf die Epistemologie der Ungerechtigkeit fokussiert, argumentiere ich für die grundsätzliche Vereinbarkeit des Liberalismus mit der These der sozialen Situiertheit von Wissen in normativer und methodologischer Hinsicht. Ich zeige erstens, dass der normative Individualismus, auf den jede liberale Theorie definitorisch festgelegt ist, auch der sozialen Standpunkttheorie zugrunde liegt, wie ich am Konzept epistemischer Ungerechtigkeit zeige. Zweitens differenziere ich in methodologischer Hinsicht zwischen idealer und nicht-idealer liberaler Theorie. Ich zeige, dass die ideale liberale Theorie bei Rawls das für strukturelle Ungerechtigkeit relevante Merkmal der sozialen Identität nicht konzeptualisieren kann, dass jedoch Tommie Shelbys nicht-ideale liberale Theorie eine der sozialen Standpunkttheorie analoge Argumentation verfolgt, da sie Erfahrungen in Abhängigkeit von sozialer Identität zum Ausgangpunkt der Frage nach sozialer Gerechtigkeit macht. Drittens argumentiere ich, dass Judith Shklars konfliktiver Liberalismus besonders geeignet ist, die situierte Epistemologie der Ungerechtigkeit zu integrieren, da sie die Schnittstelle der beiden Ansätze auf die Ebene der liberalen Gesellschaft verlagert. Auf dieser kann das situierte Wissen über Ungerechtigkeit, das Mitglieder marginalisierter sozialer Gruppen haben, als Expert:innenwissen verarbeitet werden und so soziale und politische Reformen anstoßen.
This article analyses the question if and how liberalism can accommodate the situated epistemology of injustice. This question is set in the context of the liberal approach to injustice made by non-ideal theory and the reception of Judith Shklar’s account, and is motivated by a striking discrepancy in liberal theorising: on the one hand, liberalism’s constitutive normative interest in injustice; on the other hand, the established liberal methodology of abstraction, which renders knowledge of injustice impossible. Especially in cases of structural injustice, social identity is generally regarded as a crucially relevant aspect. However, according to liberal methodology, it must be abstracted away from, seeing that it is a particular feature of an agent. Considering feminist standpoint theory’s thesis that members of marginalized social groups can have privileged knowledge of injustice, the methodology of abstraction seems inadequate given liberalism’s normative commitment. I will defend the claim that especially conflictive versions of liberalism such as Judith Shklar’s account can conceptually accommodate situated knowledge on injustice. After an overview of the social version of feminist standpoint theory and its focus on the epistemology of injustice, I argue for liberalism’s compatibility with situated knowledge on injustice. First, I show that normative individualism not only defines all liberal theories, but also underlies the social version of standpoint theory, as the concept of epistemic injustice shows. Second, I distinguish ideal from non-ideal liberal methodology. I show that ideal theory does not explicitly conceptualise social identity. However, I argue that Tommie Shelby’s non-ideal theory proceeds analogously to social standpoint epistemology, as it explicitly takes social identity as its starting point. Third, I show that Judith Shklar’s conflictive liberalism is particularly able to integrate liberalism and standpoint epistemology, seeing that it shifts their intersection from the level of theorising onto the level of liberal societies themselves. On this level, the privileged knowledge of injustice that members of marginalised social groups have can be integrated as expert knowledge, and thus motivate social and political reform.
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