Die epistemische Ambiguität der Verwundbarkeit

Unterdrückungserfahrungen zwischen epistemischer Ungerechtigkeit und Standpunkttheorie

Autor:innen

  • Mariana Teixeira

Schlagworte:

Epistemische Ungerechtigkeit, Komplizenschaft, Macht, Standpunkttheorie, Verwundbarkeit

Key words:

Epistemic injustice, complicity, power, standpoint theory, vulnerability

Abstract

Angesichts der angeblichen axiologischen Neutralität des Wissens, die in Teilen der Wissenschaft proklamiert wird, bieten seit langem mehrere philosophische Strömungen verschiedene Darstellungen der internen Verbindung zwischen Wissen und Machtverhältnissen. Diese reiche Geschichte umfasst Beiträge u. a. aus dem Poststrukturalismus, dem Marxismus, der Kritischen Theorie, den Decolonial und Critical Race Studies, dem Feminismus und den Theorien der epistemischen Ungerechtigkeit. Trotz ihrer vielen theoretischen Divergenzen stimmen sie alle mit der grundlegenden diagnostischen Prämisse überein, dass Machtungleichheiten eine bedeutsame Rolle bei der Definition dessen spielen, was als „Wissen“ zählt, und dass infolgedessen sozial und politisch unterdrückte Gruppen dazu neigen, auch im Bereich der epistemischen Praktiken wie der Systematisierung, Legitimierung und Übertragung von Wissen unterdrückt zu werden. Diese Kritiker:innen einer positivistischen Objektivität des Wissens haben jedoch sehr unterschiedliche Ansichten über die Wurzeln, die Auswirkungen und das Funktionieren der Verbindung zwischen epistemischen Praktiken und Machtungleichheiten. In diesem Beitrag wird eine dieser Differenzen untersucht, nämlich in Bezug auf die Frage: Bedeutet soziale und politische Unterdrückung notwendigerweise, dass die betroffenen Subjekte im Vergleich zu privilegierten Gruppen in einer schlechteren Position sind, um ihre Unterdrückung zu verstehen und ihr Widerstand zu leisten? Zwei möglichen Antworten auf diese Frage werden hier unter Rekurs auf eine Gegenüberstellung von Miranda Frickers Theorie der epistemischen Ungerechtigkeit einerseits und der feministischen Standpunkttheorie von Dorothy Smith andererseits untersucht. Während der erstgenannte Ansatz Unterdrückung vor allem als epistemisch und politisch schwächend ansieht, betrachtet der letztere die einzigartige Position der Unterdrückten als potenzielle Quelle von Wissen und politischem Handeln. Diese Gegenüberstellung wird eine Kritik einseitiger Darstellungen der Erfahrung von Unterdrückung ermöglichen. Eine Vermittlung zwischen den Polen dieses Gegensatzes wird anschließend durch das Konzept der Verwundbarkeit versucht. Um angesichts der Mehrdeutigkeit des Konzepts genauer zu bestimmen, was mit „Verwundbarkeit“ gemeint ist, wird eine analytische Unterscheidung zwischen Verwundbarkeit als einerseits konstitutiv und andererseits kontingent getroffen. Die Hypothese ist, dass ein vielschichtiges Verständnis von Verwundbarkeit – zeitgleich als kontingentes Risiko der Unterwerfung unter die Fremdheit und als konstitutive Öffnung zum Anderssein – ein wichtiges konzeptionelles Instrument sein kann, um die epistemischen und politischen Ambiguitäten sozialer Ungerechtigkeiten zu erfassen.

English version

Against the purported axiological neutrality of knowledge often proclaimed in mainstream science, several philosophical strands have long offered diverse accounts of the internal connection between knowledge and power relations. This rich history includes contributions from poststructuralism, Marxism, critical theory, decolonial and critical race studies, feminism, and theories of epistemic injustice, among others. Despite their many theoretical divergences, they all agree on the basic diagnostic premise that power inequalities play a significant role in defining what counts as “knowledge” and that, as a result, socially and politically oppressed groups tend to be oppressed also in epistemic practices such as systematization, legitimization, and transmission of knowledge. Critics of a positivist objectivity of knowledge, however, have very different views about the roots, implications, and even workings of the connection between epistemic practices and power inequalities. This paper explores one of these disagreements, namely whether social and political oppression necessarily implies that the subjects affected are in a worse position compared to privileged groups to understand and resist their oppression? Two possible answers to this question are explored here with reference to a contraposition between Miranda Fricker’s theory of epistemic injustice on the one hand and Dorothy Smith’s feminist standpoint theory on the other. While the former approach views oppression as primarily epistemically and politically debilitating, the latter views the unique position of the oppressed as a potential source of knowledge and political action. This contraposition will allow for a critique of one-sided accounts of the experience of oppression. A mediation between the poles of this opposition will then be attempted with the concept of vulnerability. In order to determine more precisely what is meant by vulnerability, given the polysemous nature of the concept, the paper draws an analytical distinction between vulnerability as constitutive or contingent. The hypothesis is that a multi-layered understanding of vulnerability – simultaneously as a contingent risk of submission to the other and as a constitutive opening to otherness – can be an important conceptual tool for addressing the epistemic and political ambiguities of social injustices.

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Zitationsvorschlag

Teixeira, M. (2022). Die epistemische Ambiguität der Verwundbarkeit: Unterdrückungserfahrungen zwischen epistemischer Ungerechtigkeit und Standpunkttheorie. Zeitschrift für Praktische Philosophie, 9(1), 155–178. https://doi.org/10.22613/zfpp/9.1.6

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt: Epistemische Ungerechtigkeiten