Zur Bewertung ethischer Gedankenexperimente – „Intuitionspumpen“ vs. Ansatz des „rationalen Wollens“

Autor:innen

  • Maria Schwartz

Schlagworte:

Gedankenexperiment, Ethik, Intuition, Kant, Flugzeugentführung

Key words:

Thought Experiment, Ethics, Intuition, Kant, abducted Plane

Abstract

Im Beitrag wird die übliche, intuitionsbasierte Bewertung ethischer Gedankenexperimente hinterfragt und stattdessen für ein neo-kantisches Verfahren der Bewertung (Ansatz des „rationalen Wollens“) argumentiert. Hierzu wird nach einer kurzen systematisch-historischen Verortung zunächst eine grobe Kategorisierung vorgenommen, die erstens nach der Funktion, zweitens nach der Fragestellung erfolgt, auf die Gedankenexperimente antworten. Das vorgeschlagene, neo-kantische Verfahren eignet sich insbesondere zur Bewertung einer bestimmten Kategorie von Gedankenexperimenten: Dilemmatische Situationen, in denen eine Abwägung von Menschenleben zur Debatte steht, weil nicht alle Beteiligten überleben können. Anhand von drei ausgewählten Gedankenexperimenten (Abschuss des entführten Flugzeugs, Jim und die Indianer, Trolley-Experiment) wird das jeweilige Bewertungsverfahren betrachtet. Im Zuge des neokantischen Verfahrens wird ein „Rollentausch“ vorgenommen und danach gefragt, was alle Betroffenen „rationalerweise wollen“ können. Während die Präferenzen der Täter, die das Dilemma erst verursachen, nicht in die Überlegung eingehen, hängt die Bewertung der Perspektive der Opfer von Art und Ausmaß ihrer Bedrohung ab. Passagiere und Crew des entführten Flugzeugs, deren Tod unausweichlich bevorsteht, könnten einem Abschuss, der vielen anderen das Leben rettet, rationalerweise zustimmen. Beim Gedankenexperiment von Jim und den Indianern ist dies nur bedingt der Fall. In fast allen Varianten des Trolley-Experiments kann nicht davon ausgegangen werden, dass die jeweilige Person der Opferung ihres Lebens für andere zustimmt. In einem letzten Punkt wird auf den Einwand Humes eingegangen, dass weder ein radikal egoistisches noch ein übertrieben altruistisches Wollen als „irrational“ bezeichnet werden kann.

English version

Thought experiments are traditionally, albeit not under this term, a vital part of practical philosophy. They can be categorized according to their function or according to the ethical question they are supposed to answer. Surprisingly often they deal with the question if human lives can be traded off against each other – given an imaginary, dilemmatic situation where it is impossible to save everyone. Discussing three of these thought experiments (Shooting an abducted plane, Jim and the Indians, Trolley-Experiment) the contribution suggests replacing a simple method of evaluating the reader’s intuitions by a more complex, neokantian evaluation asking what everyone affected can rationally want and hence, choose. While the preferences of the offenders causing the dilemma in the first place are discarded as “irrational”, an evaluation of the victim’s perspective is related to the kind and amount of danger they are facing. It can be assumed that passengers and crew of the abducted plane could rationally want their plane to be shot to save hundreds of others, because their death is inevitable either way. In the thought experiment of Jim and the Indians this solution only applies under certain circumstances. In nearly all variations of the Trolley Problem it cannot be assumed that the potential victim would agree to sacrifice her or his life for others. Lastly, a fundamental objection is addressed: Hume’s claim that neither the radical egoist’s choice nor an exaggerated altruism can be considered as “irrational”.

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Zitationsvorschlag

Schwartz, M. (2022). Zur Bewertung ethischer Gedankenexperimente – „Intuitionspumpen“ vs. Ansatz des „rationalen Wollens“. Zeitschrift für Praktische Philosophie, 8(2), 351–374. https://doi.org/10.22613/zfpp/8.2.14

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt: Gedankenexperimente in der praktischen Philosophie