„Dann sei dankbar und höre auf mit der Prahlerei“

Über die religiösen Quellen von John Rawls’ Kritik des Verdienstes

Autor:innen

  • Peter Vogt

Schlagworte:

Verdienst, Sünde, Zufall, Gerechtigkeit

Key words:

Desert, Sin, Chance, Justice

Abstract

Zusammenfassung: In Abschnitt (1) dieses Aufsatzes diskutiere ich Rawls’ theologische Kritik des Verdienstes in seiner frühen Schrift Über Sünde, Glaube und Religion. Im Gegensatz zur Theorie der Gerechtigkeit kritisiert der frühe Rawls eine Berufung auf das eigene Verdienst nicht als kognitiven Irrtum oder moralische Willkür, sondern sieht darin den sündhaften Ausdruck menschlichen Stolzes. Diese Kritik des Stolzes beruht auf einem schöpfungstheologischen Argument und mündet in ein Plädoyer für religiöse Demut. Abschnitt (2) zeigt, dass Rawls’ Diskussion von Verteilungsgrundsätzen in den übergreifenden Versuch einer gerechtigkeitstheoretischen Zähmung des Zufalls eingebettet ist. Rawls entwickelt in der Theorie der Gerechtigkeit eine bestimmte Typologie des Zufalls und diskutiert, wie die vier von ihm diskutierten Lesarten des zweiten Grundsatzes der Gerechtigkeit auf den Zufall reagieren. Die gerechtigkeitstheoretische Zähmung des Zufalls distanziert sich sowohl von der Dystopie einer völligen Eliminierung des Zufalls als auch von einer fatalistischen Affirmation des Zufalls. In Abschnitt (3) erläutere ich zunächst die unterschiedlichen Begriffe des Verdienstes, welche Rawls in der Theorie der Gerechtigkeit vorstellt. Ich versuche Rawls’ Kritik des Verdienstes zu klären, indem ich diese gegen ein Missverständnis in Schutz nehme, welches Samuel Schefflers und Thomas Scanlons Interpretationen kennzeichnet. Schließlich beschäftige ich mich mit Robert Nozicks Suche nach dem „positive argument“ von Rawls’ Kritik des Verdienstes, komme dabei jedoch zu einem ganz anderen Ergebnis als Nozick. Meiner Meinung findet sich das „positive argument“, nach dem Nozick vergeblich sucht, nicht in der Theorie der Gerechtigkeit, sondern verdankt sich dem kreatürlichen Egalitarismus von Rawls’ theologischer Frühschrift.

English version

In the first part of this paper (1), I discuss Rawls’ theological criticism of desert in his early publication A Brief Inquiry into the Meaning of Sin and Faith. In marked contrast to his Theory of Justice, the early Rawls criticizes claims of desert not as a cognitive mistake or as arbitrary from a moral point of view, but as an expression of the sin of pride. Rawls’ criticism of pride is founded on a certain understanding of divine creation and finally leads to a plea for religious humility. In the second part of the paper (2), I show that Rawls’ discussion of the principles of distribution is a result of his more general attempt to domesticate the role of chance in human life. I summarize Rawls’ typology of various forms of chance and accident. The different interpretations of the second principle of justice can be understood as specific ways to cope with the role of chance in human life. However, Rawls’ project of a domestication of natural and social chance should neither be confused with a complete annihilation of chance nor with its fatalistic acceptance. In the third part of the paper (3), I discuss the role Rawls ascribes to various concepts of desert in his discussion of “distributive shares”. I defend Rawls’ understanding of the legitimacy of the “desert principle” against a certain misunderstanding formulated by Samuel Scheffler and Thomas Scanlon. Finally, I take a closer look at Robert Nozick’s search for the “positive argument” of Rawls’ criticism of desert. I think Nozick was on a right track. However, Nozick’s search was exclusively focused on the Theory of Justice. Thus, he ignored the relevance of Rawls’ early “creatural egalitarianism” for an adequate understanding of Rawls’ criticism of desert.

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Zitationsvorschlag

Vogt, P. (2022). „Dann sei dankbar und höre auf mit der Prahlerei“: Über die religiösen Quellen von John Rawls’ Kritik des Verdienstes. Zeitschrift für Praktische Philosophie, 8(2), 209–230. https://doi.org/10.22613/zfpp/8.2.8

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt: 100 Jahre John Rawls, 50 Jahre "Eine Theorie der Gerechtigkeit"