Demokratische Urteilskraft nach Arendt
Schlagworte:
Pluralismus, Urteilskraft, Lebensformen, Hannah Arendt, Linda Zerilli, Rahel JaeggiKey words:
Pluralism, Judgment, Forms of Life, Hannah Arendt, Linda Zerilli, Rahel JaeggiAbstract
Als Signatur moderner demokratischer Gesellschaften gilt heute weithin, was John Rawls zu Beginn der 1990er Jahre als „vernünftigen Pluralismus“ bezeichnet hat. Mit ihm einher geht die Frage, wie divergierende Lebensformen miteinander ins Gespräch gebracht werden können und wie sich dabei zu legitimen politischen Urteilen kommen lässt. Ich werde in meinem Beitrag argumentieren, dass sich die genannte Frage lösen lässt, wenn wir uns der jüngeren Diskussion von Arendts Theorie der Urteilskraft von Linda Zerilli zuwenden und diese mit Rahel Jaeggis Überlegungen zur Kritik von Lebensformen verbinden. Dafür werde ich zunächst Arendts Überlegungen zur politischen Urteilskraft rekonstruieren und zeigen, wie diese Kants Modell der ästhetischen Urteilskraft auf den Bereich des Politischen zu übertragen versucht. Ich werde argumentieren, dass Arendt diese Transposition nur teilweise gelingt und eine Reihe von wichtigen Fragen ungelöst bleibt. Arendts Überlegungen sind damit jedoch keineswegs obsolet, sondern müssen vielmehr weiter gedacht werden. Zerilli hat hierfür jüngst einen wegweisenden Vorschlag vorgelegt, der Arendts Theorie der Urteilskraft nicht mehr im Ausgang von Kant, sondern von Wittgenstein zu denken versucht. Die damit einhergehende Perspektivverschiebung erlaubt es, den Streit zwischen divergierenden Lebensformen mit Jaeggi als eine mit den Mitteln der immanenten Kritik geführte Auseinandersetzung um deren Lernfähigkeit zu begreifen, was am Beispiel des Streits zwischen den Lebensformen der Kleinfamilie und der Kommune deutlich gemacht werden soll.
What John Rawls called “reasonable pluralism” in the early 90’s is today widely considered to be the key feature of democratic societies. It is accompanied by the question of how divergent ways of life can be brought into conversation with one another and how legitimate political judgements can be arrived at. In my contribution, I will argue that this question can be solved if we turn to the more recent discussion of Arendt’s theory of judgment by Linda Zerilli and combine it with the reflections on the critique of life forms by Rahel Jaeggi. To this end, I will first reconstruct Arendt’s reflections on political judgement and show how she attempts to transform Kant’s model of aesthetic judgement to the realm of the political. I will argue that Arendt only partially succeeds in this project and that a number of important questions remain unsolved. However, Arendt’s reflections are by no means obsolete, but rather need to be further thought anew. Zerilli has recently put forward a groundbreaking proposal for this, which attempts to understand Arendt’s theory of judgement no longer in reference to Kant but to Wittgenstein. The resulting shift in perspective makes it possible to understand the dispute between diverging forms of life with Jaeggi as a debate about their learning ability conducted with the means of immanent critique, which is to be made clear by the example of the dispute between the forms of life of the nuclear family and the commune.
Downloads
Zitationsvorschlag
Ausgabe
Rubrik
Lizenz
Copyright (c) 2019 Steffen Herrmann
Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International.