Sittlichkeit, liberaler Sozialismus und die Frage der Transformation: Eine Erwiderung

Ethical Life, Liberal Socialism, and Social Transformation: A Reply

Zusammenfassung: In dieser Replik antworte ich auf Rückfragen und Einwände, die mein Buch Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus hervorgerufen hat. In dem Buch entwickle ich eine normative Theorie, die zeigt, dass demokratische Gesellschaften auf ein Ethos der demokratischen Gerechtigkeit angewiesen sind. Die kritische Diagnose lautet, dass dieses Ethos durch die Institutionen des kapitalistischen Marktes unterwandert wird. Schließlich biete ich eine gesellschaftliche Kur an, indem ich zwei Alternativen zum Kapitalismus vergleiche, die Eigentümerdemokratie und den liberalen Sozialismus, um die Überlegenheit des Letzteren aufzuzeigen. 

In dieser Replik ergänze ich meine Argumentation um neue Elemente, die im Buch aus Platzgründen weitgehend ausgespart blieben. Dies betrifft vor allem das Problem der Transformation, also die Frage, wie der Weg zu einem liberalen Sozialismus aussehen könnte. Ich wende mich dabei insbesondere gegen den Einwand, dass die Struktur meines Arguments die Potenziale einer solchen Transformation durch die Grundausrichtung der Analyse von vornherein verstellen würde. Als Antwort arbeite ich unsere Doppelnatur als soziale geprägte Wesen heraus, die zugleich über Vernunft verfügen, und damit über die Fähigkeit zur reflexiven Prägung der Umstände, die uns prägen. Zudem zeige ich die Sittlichkeitspotenziale unterschiedlicher sittlicher Sphären der Gesellschaft auf. Und schließlich mache ich deutlich, wie wichtig es ist, Menschen, die in den Kampfzonen des kapitalistischen Alltags gelernt haben, die Gesellschaft als eine bloße Verlängerung des Naturzustands zu betrachten, ein neues Deutungsmuster anzubieten. Das kann dazu beitragen, die eingespielten Deutungsmuster bis zum Kipppunkt zu verschieben, an dem ein Motivationsschub zur emanzipatorischen Transformation begünstigt wird. 

Im Rest des Aufsatzes widme ich mich vor allem der Entkräftung von Einwänden und der Präzisierung meiner Argumentation. Dafür setze ich mich mit grundlegenden Fragen der wirtschaftsinternen Bildung zur Sittlichkeit auseinander, ein­schließ­lich komplexer Fragen der kollektiven Selbsttransformation, auf die diese Theorie der Sittlichkeit angewiesen ist. Zudem reagiere ich Rückfragen zu meiner Kritik an der Eigentümerdemokratie. Schließlich wende ich mich Einwänden gegenüber meinem Plädoyer für einen liberalen Sozialismus zu. Dabei setze ich mich sowohl mit der Kritik auseinander, der liberale Sozialismus gehe im Vergleich zu einer Eigentümerdemokratie zu weit und beinhalte ungemessen starke Forderungen, als auch der Kritik, der liberale Sozialismus sei gerade zu wenig weitreichend. 

Schlagwörter: Sittlichkeit, liberaler Sozialismus, Eigentümerdemokratie, Transformation, Bildung 

 

Abstract: In this reply, I address questions and objections raised by my book Economy, Democracy, and Liberal Socialism. In the book I develop a normative theory that demonstrates how democratic societies crucially depend on an ethos of democratic justice. The critical diagnosis is that this ethos is undermined by the institutions of the capitalist market. Finally, I propose a social cure by comparing two alternatives to capitalism, a property-owning democracy and liberal socialism, to argue for the superiority of the latter.

In this reply, I expand my argument by introducing new elements that I had to bracket in the book due to space constraints. This concerns the question of transformation, that is, the question of what the path to liberal socialism might look like. I address the objection that the structure of my argument obscures, from the outset, the potential for such a transformation due to the fundamental structure of my analysis. In response, I spell out our dual nature as socially shaped beings who are also endowed with reason, thus endowed with the ability to reflexively shape the conditions that shape us. I also elaborate on the moral potentials of different ‘ethical’ (sitt-liche) spheres of society. Finally, I emphasize the importance of offering a new interpretative framework to those who, in the battle zones of capitalist everyday life, have come to view society as a mere extension of the state of nature. This new interpretative framework can help shift entrenched patterns of interpretation toward a tipping point, at which a motivational push towards emancipatory transformation is encouraged. 

In the remainder of the paper I focus primarily on refuting objections and clarifying my argument. To this end, I engage with fundamental questions regarding ethical formation within the economy, including complex issues of collective self-transformation, upon which this theory of ethical formation depends. I move on to respond to questions pertaining to my critique of a property-owning democracy. Finally, I address objections to my plea for liberal socialism. Here, I engage with both the criticism that liberal socialism goes too far compared to a property-owning demo-cracy and entails excessively strong demands, as well as the opposite criticism that liberal socialism is not sufficiently far-reaching. 

 

Keywords: Ethical life, liberal socialism, property-owning democracy, transformation, ethical formation 

Es ist eine große Ehre zu erleben, auf welch breite Resonanz die Überlegungen stoßen, die ich in meinem Buch Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus entwickelt habe. Die in diesem Buchsymposium versammelten Kommentare von Charlotte Baumann, Simon Derpmann, Niklas Dummer, Timo Jütten, Johanna Müller und Lea Prix geben Zeugnis davon, wie eine ernsthafte philosophische Auseinandersetzung im besten Fall aussehen kann. In all den unterschiedlichen Rekonstruktionen meiner Überlegungen, die sich in den vier Kommentaren finden, erkenne ich mich nicht nur wieder, sondern finde meine eigenen Gedanken oft noch klarer artikuliert, als es mir ursprünglich gelungen ist. Abgesehen von gelegentlich erkennbaren trivialen Missverständnissen sind die vorgebrachten Einwände beinahe durchweg systematisch relevant und tragen produktiv zur Weiterentwicklung der Diskussion bei. Ich bin dankbar für die Anregungen und die Gelegenheit, meine Überlegungen weiter zu verfeinern und auszubauen.

Mein Buch entwickelt eine normative Theorie, eine kritische Diagnose und eine gesellschaftliche Kur. Die normative Theorie geht von der Annahme aus, dass demokratische Gesellschaften, wenn sie ernsthaft auf die Verwirklichung von Gerechtigkeit zielen wollen, auf einen lebendigen Sinn für Gerechtigkeit, ein Ethos demokratischer Gerechtigkeit, angewiesen sind. Darin liegt der Kern meiner Erneuerung von G.W.F. Hegels Theorie der Sittlichkeit. Das erforderliche Ethos demokratischer Gerechtigkeit muss eingeübt und wachgehalten werden, und dies insbesondere in der für die Gesellschaftsmitglieder prägendsten Lebenswirklichkeit, der Teilnah­me an der wirtschaftlichen Arbeitsteilung. Die kritische Diagnose meines Buches besteht im Aufweis einer Unterwanderung des erforderlichen Ethos durch die Institutionen des kapitalistischen Marktes. Die gesellschaftliche Kur, welche auf die kritische Diagnose folgt, geht vom Vergleich zweier Vorschläge für Alternativen zum Kapitalismus aus, der Eigentümerdemokratie und dem liberalen Sozialismus (oder Marktsozialismus). Der liberale Sozialismus ist einer Eigentümerdemokratie überlegen, so weise ich nach, weil jener viel stärker als diese eine wirtschaftsinterne Gerechtigkeits­verwirklichung ermöglicht, demokratische Partizipationsmöglichkeiten in den wirtschaftlichen Institutionen schafft und die solidarischen Potenziale, die in jeder Form wirtschaftlicher Kooperation latent schlummern, erst zur angemessenen Entfaltung bringt.

Anstatt die vier Kommentare der Reihe nach und isoliert voneinander zu diskutieren, widme ich mich übergreifenden Themensträngen, die sich oft durch mehrere Kommentare hindurchziehen. Einige Rückfragen, die in mehreren Kommentaren artikuliert wurden, waren für mich sogar wie unverhoffte Vorlagen, die mir nun den Vorstoß auf bislang unberührte Teile des philosophischen Spielfelds erlauben; ich kann meine Argumentation mit dieser Replik also um gänzlich neue Elemente erweitern, die ich im Buch aus Platzgründen weitgehend aussparen musste. Das betrifft vor allem das Problem der gesellschaftspolitischen Transformation, also die Frage danach, wie der Weg zu einem liberalen Sozialismus aussehen könnte. Diese Frage werde ich im ersten Teil der Replik ausführlich erörtern. In den darauffolgenden Teilen widme ich mich stärker der Entkräftung von Einwänden und der Schärfung meiner Argumentation. Dafür setze ich mich im zweiten Teil mit grundlegenden Fragen der wirtschaftsinternen Bildung zur Sittlichkeit auseinander, einschließlich komplexer Fragen der kollektiven Selbsttransformation, auf die diese Theorie der Sittlichkeit angewiesen ist. Der dritte Teil stellt sich Rückfragen zu meiner Kritik der Eigentümerdemokratie. Im vierten und letzten Teil widme ich Einwänden gegenüber meinem Plädoyer für einen liberalen Sozialismus. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass ich in dieser Replik nicht auf jede einzelne der Fülle an Rückfragen eingehen konnte, die in den vier Kommentaren artikuliert wurden, dieser Aufgabe werde ich mich hoffentlich zu einer anderen Gelegenheit widmen können.

I. Von hier nach dort: Das Problem der Transformation

Angenommen, die Schlussfolgerung des Buches trifft zu und der liberale Sozialismus überzeugt als realistische Utopie: Wie können wir dann dorthin gelangen, wie kommen wir von hier nach dort? Das ist die Frage der gesellschaftspolitischen Transformation. Diese Frage war nicht Gegenstand meiner Arbeit, zunächst schlicht aus Platzgründen. Doch die Transformationsfrage stand auch deshalb nicht im Fokus, weil ihr in der Tradition der kritischen Theorie von Karl Marx über Jürgen Habermas und Axel Honneth bis hin zu Rahel Jaeggi stets ungleich größere Beachtung beigemessen wurde als der Frage, wohin die Transformation überhaupt führen soll.1 Es scheint daher so, als könnte ich mich bequem zurückzulehnen, um auf die Möglichkeit zu verweisen, dass meine Überlegungen direkt durch die Analysen von Marx, Habermas, Honneth und Jaeggi ergänzt werden können – allerdings nur unter einer gewichtigen Voraussetzung: Die Struktur meines Arguments für einen liberalen Sozialismus dürfte nicht die Potenziale der Transformation von vornherein durch die Grundkategorien der Analyse verstellen. Genau dieses Problem diagnostizieren jedoch Dummer, Müller und Prix ebenso wie Baumann; in beiden Kommentaren wird ein „binnenlogisches Problem“ (Dummer et al. 279) meiner Überlegungen in Bezug auf die Frage der Transformation konstatiert.

Gesellschaftliche Potenziale der Transformation

Baumann bezweifelt, wie „eine Utopie ‚gangbar‘, also realisierbar sein“ könne, „wenn die derzeitige Gesellschaft systematisch die subjektive Motivation zu einer solchen Veränderung zerstört“ (Baumann 293). Wenn meine Diagnose sittlicher Pathologien kapitalistischer Gesellschaft zutrifft, so Baumanns Einwand, mag zwar die Notwendigkeit eines liberalen Sozialismus wohlbegründet sein, doch nur um den Preis, dass sich die Potenziale der politischen Transformation in Luft aufgelöst haben. Denn woher sollen die solidarischen Energien zur Transformation kommen, wenn der Kapitalismus Solidarität zersetzt?

Hier sind drei Gedankenschritte entscheidend, die in der Arbeit eher verstreut auftauchen und zum Teil gänzlich fehlten: Erstens bin ich von der Annahme ausgegangen, dass wir janusköpfige Wesen sind, die vernunftbegabt und mit einer moralischen Sensibilität ausgestattet sind, zugleich jedoch sind wir soziale Wesen mit verkörperten Dispositionen, die von geteilten sozialen Strukturen geprägt werden und die nicht gänzlich von ihren natürlichen oder naturalisierten Dispositionen absehen können. Wir sind weder moralisch perfekte Vernunftwesen noch totalsozialisierte Marionetten institutioneller Strukturen oder bloße Ausführungsautomaten körperlicher Impulse. Nimmt man diesen Gedanken ernst, wird ein entscheidendes Möglichkeitsfenster eröffnet, nämlich dafür, genau diejenigen Strukturen zu formen, die uns geformt haben und uns zukünftig formen werden. Darin liegt der Kern des Potenzials zur kollektiven Selbsttransformation. Ungeachtet der Prägekraft der Wirtschaft kommt der Politik und dem Denken eine ‚relative Autonomie‘ (Althusser et al. 2015: 87) zu. Die ökonomische Sphäre übt eine starke, aber keine unilaterale, monokausale Prägekraft aus, und das lässt die Möglichkeit zu, dass wir uns gleichsam am eigenen Schopf packen, um uns selbst aus dem Sumpf undemokratischer, gerechtigkeitsadverser Wirtschaftsstrukturen und Habitusformen ziehen.

Zweitens habe ich in der Arbeit betont, wenngleich vielleicht zu schwach, dass es neben der Wirtschaft viele weitere Sphären und Ordnungen der Subjektbildung und sittlichen Formierung gibt, dazu gehören Freundschafts- und Familienbeziehungen, die politische Sphäre, zivilgesellschaftliche Vereinigungen und Praktiken, aber auch Kultur im weitesten Sinn, darunter Geistes- und Sozialwissenschaften. All diesen Sphären und Ordnung sind wichtige Quellen der subjektiven Motivation zur Transfor­mation unsolidarischer, gerechtigkeitszersetzender Wirtschaftsinstitu-tionen. Auch die Versittlichungspotenziale in kapitalistischen Marktwirtschaften dürfen nicht unterschätzt werden, etwa in den dominanten Institutionen in ihrer bestehenden Form, beispielsweise der Kooperation in Unternehmen, oder in kapitalismusinternen Gegen- und Alternativinstitutionen, wie Gewerkschaften oder Genossenschaften.2 Aus diesen moralischen Quellen schöpfte sich die Motivation der Arbeiterbewegung (die nicht gänzlich von der Bildfläche verschwunden ist), und aus diesen Quellen schöpft sich die Motivation immer neuer Generationen des Systemprotests junger Erwachsener, von den Neuen Sozialen Bewegungen über die Globalisierungskritiker:innen, die Occupy-Proteste bis hin zum gegenwärtigen Kli­ma-Aktivismus.

An einem dritten Punkt weite ich meine bisherigen Überlegungen am stärksten um neue Argumente aus. Für die politische Transformationspraxis wird es von erheblicher Bedeutung sein, bei zwei wichtigen Mentalitätsmustern auf eine radikale Veränderung der Deutungsschemata zu zielen. Eines der beiden Mentalitätsmuster ist naheliegend: Es findet sich bei der Gruppe der Wohlmeinenden, die sich aufrichtig für Gerechtigkeit engagieren, auch auf Kosten eigener Interessen; diese Gruppe setzt sich vermutlich recht stark aus Personenkreisen zusammen, deren interne Tätigkeitsformen von den Verwertungsimperativen des kapitalistischen Marktes weitgehend verschont geblieben sind, darunter Personen, die in der öffentlichen Verwaltung tätig sind oder in Pflege, Bildung und Erziehung. Für diese Gruppe lautet die zentrale Botschaft der Arbeit, nicht jenem Trugschluss von John Rawls und Jürgen Habermas zu erliegen, den ich in meinem Buch kritisiere (und der auch bis hinein in weite Teile der sozialdemokratischen Tradition vorherrschend ist): Wir sollten die Wirtschaft nicht einfach als sittlich neutrale Wohlfahrtsmaschine behandeln, die wir nach Belieben mit den Schalthebeln demokratischer Macht steuern könnten. Wenn dieses Trugbild im öffentlichen Diskurs erfolgreich zersetzt und durch das angemessenere Deutungsmuster ersetzt werden kann (dass nämlich Wirtschaft unsere moralischen Habitusformen prägt, ob wir wollen oder nicht), wäre für die politische Transformation bereits viel gewonnen.

Ein zweites Mentalitätsmuster spielt für die Frage der politischen Transformation ebenfalls eine wichtige Rolle, es geht hier um die Haltung des „deprimierten Einzelkämpfertums“.3 Es findet sich vor allem in verarmten oder zumindest prekären Milieus, bei der unterbezahlten Leiharbeiterin ebenso wie beim abstiegsbedrohten Facharbeiter, und es reicht vermutlich bis hin zur Neureichen, die sich einen randständigen Platz in der unteren Oberschicht erkämpft hat. Robert Misik fasst die Haltung der resignierten Einzelkämpfer:innen so zusammen: „‚Ich kümmere mich nur um mich selbst, denn der andere ist ein potenzieller Konkurrent.‘“ (Misik 2019: 129) Was die Einzelkämpfer:innen in den Kampfzonen der kapitalistischen Alltagskultur gelernt haben, ist die vermeintliche Einsicht, in einer erbarmungslosen Welt zu leben, in der es um ein Fressen und Gefressenwerden geht. Im präventiven Verteidigungskrieg um die relative Verbesserung ihrer Wettbewerbsposition versuchen sie vor allem, nicht unter die Räder zu kommen. Oft wird der Konkurrenzkampf naturalisiert und in sozialdarwinistischer Manier zur verlängerten Natur verewigt. Ein Teil dieser Gruppe wird bereits zu fatalistisch für jede Form der emanzipatorischen Transformation sein, oder schlimmer noch, man ist bereits in einen gänzlich faktenresistenten Verschwörungsglauben abgedriftet.

Doch ein anderer Teil der Gruppe ist noch erreichbar. Davon kann man ausgehen, wenn man das lautstark bekundete Einzelkämpfertum als enttäuschte normative Erwartung entziffert. Wenn es anfänglich substanzielle normative Erwartungen gegenüber den sozialen Potenzialen der Kooperation gab, getragen von den vielfältigen genuin kooperativen sozialen Ordnungen und Sphären (der Familie, Freundschaft, Demokratie und Kultur usw.), dann können die kapitalismustypischen Erfahrungen von Ausbeutung, Unterordnung und Konkurrenz ein Gefühl der Enttäuschung und des Vertrauensbruchs auslösen. In dieser Konstellation treten die Gefühle der Enttäuschung und des Vertrauensbruchs besonders stark hervor, anders als im Fall von Personen, die von vorherein lediglich kühl kalkulierende Maximierer:innen ihres privaten Nutzens sind: Denn diese können von nichts enttäuscht sein, da sie nichts anderes erwarteten als Ausbeutung, Unterordnung und Konkurrenz. Im Fall enttäuschter normativer Erwartungen ist die demonstrativ bekundete Haltung eines Einzelkämpfertums jedoch die naheliegende Reaktion.

Bei dieser Gruppe der Einzelkämpfer:innen besteht die folgende begründete Hoffnung: Deren eingespielte Deutungsmuster können bis an einen Kipppunkt verschoben werden, an dem ein Motivationsschub zur emanzipatorischen Transformation begünstigt wird. Ganz ähnlich wie bei Ludwig Wittgensteins Kippbild des Hasen-Enten-Kopfes (Wittgenstein 1984: 519ff.) geht es hier darum, einen fundamental anderen Blick auf ein und denselben Gegenstand, in diesem Fall die Gesellschaft, plausibel zu machen. Wenn alles gutgeht, entsteht beinahe mit einem Schlag ein gänzlich anderes Deutungsmuster.

Für diese Gruppe der Einzelkämpfer:innen lautet die Kernaussage meiner Überlegungen: Es stimmt, die Gesellschaft wirkt wie ein unbarmherziger Kampfs ums Überleben, bei dem die Großen die Kleinen fressen. Doch das ist nicht notwendig so, es ist kein natürlicher Umstand, keine Verlängerung des tierischen Naturzustands ins menschliche Leben hinein. Es ist das Produkt ganz bestimmter gesellschaftlicher Strukturen, nämlich des kapitalistischen Marktes. Die Welt könnte anders sein. Selbst in der scheinbar durchkapitalisierten Gegenwart einer allumfassenden Marktlogik gibt es bereits vielfältige Formen der Kooperation, die eine solche andere Welt vorwegnimmt, sei es in der Kooperation unter Freund:innen und Nachbar:innen, sei es in der Zusammenarbeit im Unternehmen, in der die Kolleg:innen meist sehr viel solidarischer sind, als der bloße Dienst nach Vorschrift verlangen würde. Zudem kann meine Arbeit eine starke Anfangsevidenz für eine gesellschaftsweite Alternative herausschälen, die hinreichend gut funktioniert und die vor allem so beschaffen ist, dass wir alle uns durch sie zum Besseren verändern können. Für diese Alternative braucht es also weder perfekte Altruist:innen noch überzeugte Kommunist:innen oder lupenreine Kantianer:innen. Die Institutionen des liberalen Sozialismus nehmen uns als die Menschen, die wir sind, zum Teil vernunftbegabt und mit einer gewissen moralischen Sensibilität ausgestattet, zum Teil jedoch auch ängstlich und misstrauisch, manchmal auch egoistisch, machtversessen oder ressentimentgeladen. Doch diese pluralen Motivlagen sind nicht unveränderlich. Sie hängen zu einem erheblichen Teil vom sozialen Kontext ab. Der liberale Sozialismus enthält das Versprechen auf einen solchen veränderten Kontext, er schafft einen stützenden Kontext, in dem wir uns gemeinsam in unserer Fähigkeit und Bereitschaft zur demokratischen Gerechtigkeit bestärken.

Ökonomische Subjektformierung und politische Transformation

Dummer, Müller und Prix setzen in ihrer kritischen Diagnose an einem anderen Punkt als Baumann an, sie konstatieren ein ‚binnenlogisches Problem‘ folgender Art:

„Wenn diese Transformation kein leeres Versprechen, sondern eine realistische Utopie sein soll, dann stellt sich die Frage, wodurch und von wem sie angestoßen wird. Kuchs Argumentation lässt auf diese Frage, ausschließlich die folgende Antwort zu: nur die politischen Subjekte, die hinreichend moralisch gebildet sind, können die Notwendigkeit dieser Transformation einsehen und sie anstoßen. Genau hier zeigt sich ein binnenlogisches Problem von Kuchs Argumentation: während die Bedeutung der moralischen Bildung der ökonomischen Subjekte den kritischen Einsatzpunkt seiner Argumentation darstellt, läuft diese dennoch darauf hinaus, dass die moralische Bildung der politischen Subjekte die moralische Deformation der ökonomischen Subjekte überwiegt. Damit bleibt die Frage offen, warum die moralische Bildung der ökonomischen Subjekte von so zentraler Bedeutung ist, wenn ihre moralische Deformation letztlich durch die moralische Bildung der politischen Subjekte ausgeglichen werden kann.“ (Dummer et al. 279)

Ich habe nicht behauptet, dass die moralische Deformation der ökonomischen Subjekte ohne Weiteres durch eine moralische Bildung der Akteure in ihrer Rolle als politische Subjekte ausgeglichen werden kann; ganz im Gegenteil, dabei handelt es sich um eine schwierige Aufgabe. Noch schwieriger und noch weniger aussichtsreich ist jedoch die Hoffnung auf einen permanenten Schutz der politischen Subjekte vor den korrosiven Einflüssen der ökonomischen Subjektformierung durch kapitalistische Institutionen. Das heißt aber nicht, dass wir diesen Einflüssen vollkommen hilflos ausgeliefert wären, so als wären wir einer Gehirnwäsche unterzogen. Wie gegenüber Baumann bereits angesprochen, mag die relative Autonomie von Politik und Denken nur gering ausgeprägt sein, sie ist jedoch mehr als nichts. Wir werden unweigerlich von wirtschaftlichen Strukturen geprägt, doch wir verfügen zugleich über die schwache, aber entscheidende Fähigkeit, genau diejenigen Strukturen zu prägen, die uns prägen. Darin liegt eine schwierige Paradoxie, zu der wir uns in der demokratischen Politik reflexiv verhalten müssen: Weder sollten wir verkennen, dass uns wirtschaftliche Strukturen unweigerlich prägen, noch sollten wir befürchten, dass wir den prägenden Wirkungen völlig hilflos ausgeliefert sind. Wir müssen uns in der politischen Sphäre gleichsam ständig der Unvollständigkeit und Schwäche der politischen Demokratie bewusst bleiben und fortlaufend darauf hinarbeiten, die vermeintlich vorpolitischen, vor allem materiellen Bedingungen der Subjektbildung und sittlichen Formierung auf die richtige Weise auszugestalten. Das heißt, diese Bedingungen müssen dem Geist der demokratischen Gerechtigkeit so weit wie möglich zuträglich sein. Selbst­verständlich bedeutet das nicht, dass Forderungen nach einer Transformation der Wirtschaft nicht durch ökonomische Subjekte angestoßen und vorangetrieben werden – so scheinen Dummer, Müller und Prix mich zum Teil zu verstehen (Dummer et al. 279). Natürlich gab und gibt es Kämpfe für mehr betriebliche Mitbestimmung ebenso wie vielfältige praktische Versuche, durch alternative Institutionen wie Genossenschaften oder Kollektivbetriebe den Logiken des kapitalistischen Marktes zu entkommen. Aber diese Kämpfe und Bestrebungen werden kaum gesellschaftsweiten Erfolg haben, wenn sie nicht auf institutionelle Veränderungen zielen, die durch die politische Demokratie durchgesetzt, verallgemeinert und auf Dauer gestellt werden. Es führt also kein Weg daran vorbei, dass ökonomische Subjekte auch in ihrer Rolle als politische Subjekte tätig werden und für Veränderungen eintreten.

II. Wirtschaftsinterne Bildung und kollektive Selbsttransformation

Wie erläutert, dreht sich eine zentrale Idee meines Buches um den Gedanken der kollektiven Selbsttransformation: Darunter verstehe ich einen spiralförmigen Prozess, der darin besteht, reflexiv diejenigen sozialen Strukturen zu prägen, die uns geprägt haben, um dann wieder von dieser veränderten Struktur geprägt zu werden. Baumann reformuliert die Grundidee der kollektiven Selbsttransformation in hegelianischen Begriffen der kollektiven Selbstbildung, allerdings verbunden mit einer spezifischen Kritik.

Warum und wie wir über Bildung zur demokratischen Gerechtigkeit nachdenken sollten

Baumann kritisiert, ich würde die Ziele dieses Bildungsprozesses als vorgegeben behandeln, weshalb dieser Prozess selbst nicht mehr als frei und demokratisch bezeichnet werden könne. Das nennt Baumann das „Problem vorgegebener Ziele“ (Baumann 285):

„Das Problem ist, dass Kuch implizit sehr wohl an der Idee festzuhalten scheint, dass die Ziele des zu entwickelnden Gerechtigkeitssinns klar vorgegeben sind: Was Menschen lernen als gerecht zu empfinden, sind demokratische Ideale wie Solidarität, Offenheit für andere Meinungen, Eingehen auf Bedürfnisse anderer, Wertschätzung und gegenseitige Anerkennung. Die Selbsttransformation ist also nicht komplett frei und selbstbestimmt, sondern soll auf klar vorgezeichneten Bahnen verlaufen. Sein Bildungsverständnis scheint also eher in einem Appell zur Anpassung an extern vorgegebene Standards zu bestehen als in einem Bekenntnis zur freien kollektiven Selbstbestimmung.“ (Baumann 288)

Diese Problematisierung lässt sich leicht auflösen. Es stimmt, das Bildungsziel in meiner Arbeit liegt in demokratischen Werten, darunter all die Werte und Fähigkeiten, die Baumann nennt. Von diesen Bildungszielen gehe ich in der Tat aus, nicht aufgrund einer privaten Vorliebe, sondern weil diese Bildungsziele kaum strittig sind. Ich sehe nicht, wie wir Freiheit oder die von Baumann angesprochene ‚freie kollektive Selbstbestimmung‘ ohne demokratische Gerechtigkeit denken könnten. Falls Baumann das annimmt, scheint die Beweislast eher bei ihr zu liegen. Das heißt selbstverständlich nicht, dass wir Werte wie Freiheit, Demokratie oder Gerechtigkeit nicht als Ziele von Bildungsprozessen infrage stellen könnten. In der Philosophie ebenso wie in der öffentlichen Debatte wird durchaus über Sollgeltung höchster Bildungsziele debattiert. Darum geht es in vielen Debatten und Büchern, aber nicht in meinem Buch.

Die Fragestellung liegt auf einer anderen Ebene: Wenn vernünftige Freiheit Demokratie und Gerechtigkeit umfassen muss, muss man in einem philosophischen Kontext überhaupt erst darlegen, warum diese Themen stets auch im Hinblick auf Bildung analysiert werden müssen. Es genügt nicht, wie sonst unter Philosoph:innen häufig üblich, lediglich in einer gänzlich normativen Hinsicht darüber zu sprechen, was eine vernünftige Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit bedeuten sollen und wozu uns diese Werte idealerweise verpflichten, wenn wir als vernünftige Wesen handeln würden. Stattdessen muss man auch die Frage stellen, wie eine Bildung zur vernünftigen Freiheit, Demokratie oder Gerechtigkeit aussieht, die überhaupt erst zu einer Reflexion dieser Werte ebenso wie zur Selbstbindung an diese Werte befähigt. Der nächste Schritt in meiner Argumentation vollzieht sich innerhalb der Theorie der Bildung: Anstatt Bildung auf familiäre Sozialisation oder formelle Schulbildung zu begrenzen, wie es häufig geschieht, müssen wir die wirtschaftliche Arbeitsteilung als zentrales Medium der Bildung systematisch in den Fokus nehmen. Auch das ist eine kontroverse These, die überhaupt erst plausibel gemacht werden musste.

Die Dystopie ideologischer Selbstbeglaubigung und die Bedeutung historischer Lernprozesse

Baumann sieht ein weiteres Problem in meiner Konzeption kollektiver Selbsttransformation: die Gefahr eines Umschlags in Dystopie. Wenn Gerechtigkeit von Bildung abhängt, ist dann nicht die Gefahr gegeben, so fragt Baumann, dass Bildung einfach jedes gegebene Gerechtigkeitsverständnis beglaubigen und legitimieren kann? In Baumanns Worten: „Wie kann man so sicher sein, dass die ‚Bildung‘ nicht letztendlich ein Selbstläufer wird, indem sich ein Kollektiv in ein als gerecht empfundenes Unrechtssystem verrennt?“ (Baumann 290) An diesem Punkt ist vielleicht zu wenig deutlich geworden, dass eine Bildung zur vernünftigen Freiheit immer auch zu einer Infragestellung gegebener Begriffe von Freiheit, Vernunft und Gerechtigkeit befähigen muss, auch wenn ich diesen Gedanken angedeutet habe (Kuch 2023: Kap. 3.3). Damit wird der Gefahr der ideologischen Selbstbeglaubigung entgegengewirkt.

Allerdings folgt an diesem Punkt sogleich Baumanns nächster Einwand. Sie sieht nämlich bei der Förderung der Infragestellung der eigenen Bildungsbedingungen das nächste Problem heraufziehen: die Gefahr des Relativismus. Wenn Bildung heißt, alles infrage stellen zu können, kann das tatsächlich in einen fundamentalen Relativismus münden. Ich schätze diese Gefahr jedoch nicht als außergewöhnlich groß ein. Die eingehende Analyse dieser Gefahr führt zu weit, ich will an dieser Stelle nur andeuten, in welche Richtung meine Antwort führt, nämlich in eine, die Baumann ihrerseits problematisiert: Wir müssen an diesem Punkt Rekurs auf historische Lernprozesse nehmen. Bildung zur Freiheit muss immer auch zur Infragestellung aller gegebenen Begriffe von Freiheit, Vernunft und Gerechtigkeit einladen und befähigen, aber eine Antwort auf diese Infragestellung lässt sich kaum ohne die historische Analyse von Lernprozessen geben, im umfassenden, radikalen Vergleich unterschiedlicher historischer Epochen und Entwicklungspfade. Baumann befürchtet, dies führe zu einer falschen Glorifizierung der westlichen Aufklärung und Moderne (Baumann 288f.). Das mag eine Berufskrankheit vieler Hegelianer:innen sein, mir leuchtet jedoch nicht ein, warum das zwangsläufig der Fall sein sollte. Warum sollte eine offene Analyse historischer Lernprozesse nicht gerade zur Einsicht in die Errungenschaften „nicht-westlich-moderne[r] Gesellschaft[en]“ (Bau­mann 289) führen, wie das Bauman einfordert? Allgemein gesprochen ist mein Eindruck, Baumann kritisiert meine Überlegungen oft eher stellvertretend für eine Kritik, die sich eigentlich gegen Axel Honneth, John McDowell, Robert Pippin und Terry Pinkard richtet, auch wenn ich auf nur wenige Prämissen dieser Linie der Hegel-Interpretation angewiesen bin. Auf Fragen nach historischen Lernprozessen und Relativismusgefahren erschöpfend zu reagieren, geht auf jeden Fall weit über die Möglichkeiten einer Replik hinaus. Ich will nur festhalten, dass ich nicht sehe, wie man ohne jeden Bezug auf Bildung und historische Lernprozesse die Verwirklichung einer gerechten, vernünftigen – oder wenn man Baumann folgen will: „harmonischen“ (294) – Weise des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens verstehen können sollte. Auch an diesem Punkt sehe ich die Beweislast eher bei Baumann als bei mir.

III. Zur Kritik der Eigentümerdemokratie

Im Buch analysiere ich das Modell einer Eigentümerdemokratie, das Rawls ausdrücklich als „Alternative zum Kapitalismus“ (Rawls 2003: §41) entwirft, um zu zeigen, dass diese Systemalternative ihrem Anspruch nicht gerecht wird: Ihr gelingt es nicht, zentrale Dynamiken des kapitalistischen Marktes zu überwinden. Einer meiner Hauptkritikpunkte gegenüber Rawls’ Vorschlag für eine Eigentümerdemokratie lautet, dass sie die strukturelle Ausbeutung der Beschäftigten nicht wirklich verhindern kann. Derpmann bezweifelt die Reichweite dieser Kritik, indem er auf eine größere „bürgerliche Kontrolle der Betriebspraxen kapitalistischer Unternehmen“ (Derpmann 315) in einer Eigentümerdemokratie hinweist, da praktisch alle Bürger:innen Unternehmensanteile halten würden. Die „breite gesellschaftliche Beteiligung“ würde, so führt er weiter aus, „zumindest indirekt unternehmerische Zielsetzungen und Entscheidungen mitbestimmen. So bliebe zu hoffen, dass diese breiter gestreute Beteiligung zu mehr Transparenz und zu einer geringeren Akzeptanz ausbeuterischer Unternehmenspraxen führen würde.“ (Ebd.) Da gewissermaßen alle zu Investor:innen werden würden, wäre eine öffentliche Debatte darüber, was eine Unternehmensbeteiligung bedeutet und wozu sie verpflichtet, wahrscheinlicher, sodass Ausbeutung zurückgedrängt werden könnte. Darauf möchte ich nun etwas ausführlicher eingehen.

Ausbeutung in einer Eigentümerdemokratie

Zunächst ist folgender Umstand von Belang: Die „breite gesellschaftliche Beteiligung“ (ebd.) an den Unternehmen einer Eigentümerdemokratie, die Derpmann anspricht, klingt auf den ersten Blick nach einer schönen Sache. Doch sie bedeutet grundsätzlich nichts weiter, als dass sich die Unternehmen im Eigentum einer formlosen Masse an anonymen, zersplitterten Aktieninhaber:innen befinden. Derpmann folgt dabei meiner Diagnose, dass es auch in einer Eigentümerdemokratie aufgrund von Skalenvorteilen nur wenige große Unternehmen in den jeweiligen Branchen geben wird, die typischerweise als Aktienkonzerne strukturiert sind. Diese Konzerne werden jeweils eine praktisch unüberschaubar große Zahl an Aktieninhaber:innen haben, während die Beschäftigten ihr Vermögen aus Gründen der Risikostreuung in einer großen Zahl anderer Unternehmen investiert haben. Selbst wenn eine Einzelperson starkes Interesse an demokratischen Mit­bestimmungsmöglichkeiten hat und sich vor Ausbeutung im eigenen Unternehmen schützen will, ist der individuelle Erwerb von Anteilen an diesem Unternehmen dafür praktisch aussichtslos ist.

In einer Eigentümerdemokratie steht den Beschäftigten in einem Unternehmen also eine breite Masse anonymer, privater Aktieninhaber:innen gegenüber. So wird die Lage in den meisten Kapitalgesellschaften aussehen, in die der Großteil der Bevölkerung ihr Vermögen breit gestreut angelegt hat. Folgt aus dieser gesichtslosen Zersplitterung des Unternehmensbesitzes bereits eine geringere Akzeptanz von Ausbeutung, wie Derpmann hofft? Das bezweifle ich. Zwei zentrale Argumente sind hier von Belang, die vielleicht nicht hinreichend deutlich geworden sind.

Erstens verleitet Aktieneigentum zu einem verengten Fokus: Diese Eigentumsform lenkt den Blick strukturell auf die pure Geldverwertung (vgl. Kuch 2023: 446). Die Verbindung, die die anonyme Masse an Aktienbesitzer:innen zu der breit gestreuten Menge an Unternehmen unterhalten, in die sie investiert haben, schrumpft im Wesentlichen auf die Frage zusammen, wie hoch die Dividende ist. Denn sie sind in ihrem Urteil auf nackte Zahlen zurückgeworfen. Wenn man sich zwischen vier und fünf Prozent Dividende entscheiden muss, dann wohl eher für fünf. Dieses Zurückgeworfensein auf die Maßlosigkeit nackter Zahlen drängt sich bei Kleinunternehmer:innen und bei Genossenschaftsmitgliedern deutlich weniger stark auf, denn diese Akteure kommen kaum umhin, die Rendite von vornherein in einem umfassenderen Horizont zu bewerten, vor allem im Hinblick auf die Arbeitstätigkeit im Unternehmen und die Art und Weise bewertet, wie und was im Unternehmen produziert wird.

Derpmann kann an dieser Stelle einen wichtigen Grund für geringere Akzeptanz der Ausbeutung in einer Eigentümerdemokratie anführen: Da im Vergleich zum Status quo jeder und jede Aktieninhaber:in meist auch auf abhängiger Basis in einem Unternehmen beschäftigt ist, sollte das moralische Bewusstsein für das Problem der Ausbeutung steigen, sofern die Bürger:innen in ihrer Rolle als abhängig Beschäftigte urteilen (Derpmann 315f.). Das stimmt sicherlich, was ich in meiner Arbeit auch nicht leugne. Tatsächlich speist sich daraus die Hoffnung, die Aktieninhaber:innen einer Eigentümerdemokratie könnten ihr Vermögen verstärkt bei fairen Banken und sozial und ökologisch nachhaltigen Investitionsfonds anlegen. Die relative Nachfrage nach diesen Produkten wird im Vergleich zur Gegenwart wahrscheinlich steigen, über die veränderte öffentliche Debatte und Stimmung dürfte sich die Nachfrage vielleicht sogar leicht überproportional erhöhen. Allerdings steht dieser Weg vor erheblichen Hürden, da starke kollektive Handlungsprobleme bestehen bleiben. Warum soll man selbst auf die höhere Rendite verzichten, wenn man nicht sicher sein kann, dass die große Mehrheit ebenso bereit ist, diese Bürde auf sich zu nehmen? Das gilt umso mehr, als die Einzelnen wissen, dass ihre individuellen Privatentscheidungen lediglich einen minimalen, kaum spürbaren Unterschied machen. Zudem besteht die Gefahr des Greenwashings bei sozial und ökologisch nachhaltigen Investitionsfonds, was nicht nur die Motivation zu dieser Anlageform belastet, sondern auch bezweifeln lässt, ob diese Strategie grundsätzlich hinreichend aussichtsreich im Hinblick auf die Verringerung von Ausbeutung ist.

Bis zu diesem Punkt ist allenfalls ersichtlich geworden, dass es in einer Eigentümerdemokratie eine leichte Verringerung der Akzeptanz von Ausbeutung geben wird. Doch die Wirkmacht dieser veränderten Bewusstseinslage und eines entsprechend veränderten Investitionsverhaltens steht der Ausbeutungsdruck der Unternehmen gegenüber.

Das führt mich zum zweiten Argument, das ich in der Arbeit entwickle: Selbst wenn in einer Eigentümerdemokratie eine breitere Ächtung von Ausbeutung vorherrscht, steht dem eine erhebliche Gegenkraft des Ausbeutungsdrucks entgegen, unter dem Unternehmen stehen. Das liegt zum einen an der Dynamik der Konkurrenz, die Derpmann kurz erwähnt, das liegt zum anderen an der Persistenz der Machtasymmetrie zwischen Kapital und Arbeit. Diese Machtasymmetrie besteht auch dann fort, wenn die Klassenungleichheit zwischen Kapitaleigentümer:innen und Beschäftigten als unterscheidbaren Klassen überwunden ist, was in der Eigentümerdemokratie tatsächlich gelingt. Ich habe in der Arbeit drei distinkte Machtquellen aufgeschlüsselt, aus der die Kapitalseite auch in einer Eigentümerdemokratie ihre Machtüberlegenheit gegenüber den Beschäftigten ziehen kann: Das ist die größere Mobilität, die größere zeitliche Elastizität und eine überlegene Organisationsmacht (Kuch 2023: Kap. 7.4). Auf diese Faktoren geht Derpmann kaum ein, damit wird jedoch vernachlässigt, wie groß der Ausbeutungsdruck in einer Eigentümerdemokratie tatsächlich ist. Ich weise hier insbesondere ausführlich die Persistenz dieser Machtasymmetrie auch unter jenen Bedingungen nach, die gegeben sind, wenn die Beschäftigten einer Eigentümerdemokratie, in Derpmanns Worten, „den Markt nicht mittellos“ (317) betreten. Die Machtasymmetrie zwischen Kapital und Arbeit erzeugt eine strukturelle Gelegenheit zur Ausbeutung der Beschäftigung, und der Konkurrenzdruck drängt dazu, diese Gelegenheit zu nutzen. Derpmann hätte an diesem Punkt zeigen müssen, dass die Machtüberlegenheit der Kapitalseite geringer ist, als ich darlege, oder die Gegenmacht der Beschäftigten größer. Das Fazit muss insgesamt folglich lauten, dass es wenig wahrscheinlich ist, aufgrund des bloßen Umstands einer breiteren Beteiligung an Unternehmen auf eine hinreichend starke Verringerung des Ausbeutungsdrucks in den Unternehmen zu hoffen.

Autonomie durch kapitalistische Lohnarbeit?

Derpmann entwickelt noch eine leicht anders gelagerte Verteidigung der Eigentümerdemokratie. Sie setzt am Wert der Autonomie an, um zu zeigen, dass die Möglichkeit, Lohnarbeit in kapitalistischen Unternehmen verrichten zu können, eine wichtige Form der Verwirklichung der eigenen Autonomie sein könne. Im Gegensatz zum Marktsozialismus schließt die Eigentümerdemokratie diese Möglichkeit nicht aus, worin Derpmann einen zentralen Vorzug dieses Wirtschaftssystems sieht. Derpmann verweist auf die verbesserten Ausgangsbedingungen für eine materiale Verwirklichung von Autonomie in einer Eigentümerdemokratie: In diesem Wirtschaftssystem hätten die Beschäftigten die Chance, eben weil sie eigene Vermögensressourcen als Sicherheitspolster im Hintergrund haben, sich tatsächlich mit Kapitaleigentümer:innen, mit denen sie auf der Basis freier Wahlentscheidungen Arbeitsverträge schließen, ,„auf Augenhöhe begegnen“ (Derpmann 317) zu können. Derpmann schränkt allerdings rasch ein: „[I]n gegenwärtigen Markverhältnissen muss ein Großteil der abhängig Beschäftigten diesen Verweis auf die Bedeutung der Freiheit als Hohn empfinden. Aber in der Eigentumsdemokratie beträten die Wirtschaftssubjekte den Markt nicht mittellos […].“ (Ebd.) Das stimmt zwar, aber soeben hat sich noch einmal gezeigt, dass die meisten Beschäftigten in einer Eigentümerdemokratie nach wie vor der unterlegene Part innerhalb einer Machtasymmetrie gegenüber den Unternehmen sind. Angesichts der Persistenz dieser Machtasymmetrie dürfte also der Verweis auf die Bedeutung von Freiheit bzw. Autonomie weiterhin wie ein Hohn wirken. Das Autonomieargument zugunsten von kapitalistischer Lohnarbeit ist also nur sehr begrenzt gültig, und, wenn ich es richtig sehe, lässt Derpmann dieses Argument selbst nur insoweit gelten, als strukturelle Ausbeutungsgefahren erheblich verringert sind, was, wie sich erwiesen hat, nicht zutrifft.

Damit ist allerdings ein weiterer Einwand Derpmanns noch nicht entkräftet, der auf neue Formen von Abhängigkeiten und damit Bedrohungen der Autonomie im liberalen Sozialismus hinweist. Auf diesen Einwand werde ich im Lauf des nun folgenden letzten Teils zurückkommen.

IV. Die Sittlichkeit der Demokratie und die Potenziale des liberalen Sozialismus

Auf der Ebene der gesellschaftlichen Kur, die ich als Gegenmittel zur Diagnose einer kapitalismusinduzierten Unterwanderung eines angemessenen demokratischen Ethos vorschlage, geht es um realistische Utopien, verstanden als Entwürfe gesellschaftlicher Alternativen, die prinzipiell machbar sind. In diesem sehr engen Sinn kann ich mit dem Etikett „Idealtheoretiker“, mit dem mich Baumann charakterisiert, gut leben, ich beschäftige mich tatsächlich mit den „wünschenswerten Zielen der gesellschaftlichen Entwicklung“ (Baumann 291). Zugleich stellt Baumann fest, ich würde auch „Idealisierungen, also positiv-vereinfachten Darstellungen sozialer Prozesse“ (ebd.), vornehmen, auch das ist eine Einschätzung, die ich nicht ablehne – sofern man nicht leugnet, dass Sozialwissenschaften grundsätzlich nicht ohne vereinfachte und zugespitzte Darstellungen sozialer Prozesse auskommen können.

In diesem letzten Teil dieser Replik, der zugleich der ausführlichste ist, widme ich mich nun beiden Dimensionen. Ich beginne mit dem Einwand unangemessener Idealisierungen, vor allem in Bezug auf meine Konzeptionen von Markt und Demokratie. Danach komme ich auf kritische Bemerkungen zu meinem Plädoyer für einen liberalen Sozialismus zu sprechen. Dabei muss ich mich sowohl der Kritik stellen, der liberale Sozialismus gehe im Vergleich zu einer Eigentümerdemokratie zu weit und beinhalte ungemessen starke Forderungen, als auch der Kritik, der liberale Sozialismus sei gerade zu wenig weitreichend. Zum Abschluss dieses letzten Teils gehe ich auf den liberalen Sozialismus im Kontext globaler Wirtschaftstransformationen ein.

Falsche Idealisierungen?

In meinen Überlegungen gehe ich davon aus, dass der liberale Sozialismus durch die politische Demokratie eingeführt werden kann, und mehr noch: dass ein zentrales Ziel des liberalen Sozialismus gerade darin liegt, die stabile sittliche Infrastruktur für eine vernünftige, gerechte Willensbildung in der politischen Demokratie zu schaffen. Während ich also viele Gründe für eine Kritik des kapitalistischen Marktes sehe, scheine ich relativ große Erwartungen gegenüber der politischen Demokratie zu hegen. Aus diesem Grund werfen mir Dummer, Müller und Prix eine „idealisierte Darstellung der politischen Sphäre“ (280) vor. Sie sehen in meinen Überlegungen eine partielle Blindheit gegenüber der Gefahr, dass politische Macht oligarchische Strukturen begünstigt und diejenigen Akteure, die über politische Macht verfügen, korrumpiert. Zudem gebe es auch innerhalb der Demokratie, ebenso wie am Markt, Konkurrenzverhältnisse (etwa die Konkurrenz um Wählerstimmen), die zu sittlichkeitsadversen Effekten führen könnten.

All das will ich nicht grundsätzlich bestreiten, im Vergleich zur Grundform des Marktes gehe ich jedoch von einem größeren intrinsischen Versittlichungspotenzial aus, welches der Demokratie in ihrer Grundform zukommt. Die Idee der Demokratie besteht grundlegend darin, alle öffent­lichen Angelegenheiten zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte machen zu können, sodass alle beteiligten Akteure fundamental unter Rechtfertigungsdruck gegenüber allen anderen gestellt werden, auch wenn dieses Potenzial in der tatsächlichen Funktionsweise von Demokratien oft verstellt und verzerrt ist.4 Die grundlegende Idee des Marktes besteht jedoch lediglich im formal freiwilligen Austausch zwischen zwei Akteuren, bei dem strukturell Kosten auf Dritte abgewälzt werden können, die keine Stimme bekommen, und bei dem Informationsasymmetrien und ungleiche Verhandlungsmacht die Ausnutzung der Schwächen einer Seite erlauben und vor allem auch gratifizieren, unter Nichtberücksichtigung der Normen von Fairness oder anderer moralischer Pflichten. In beiden Hinsichten ersetzt die Sprache der Preise die Sprache der öffentlichen Rechtfertigung. In diesem Zum-Schweigen-Bringen der öffentlichen Rechtfertigung liegt ein fundamentaler Unterschied zur Logik der Demokratie ist. Auch was die Konkurrenz betrifft, gibt es fundamentale Unterschiede zwischen Demokratie und Markt: Am Markt sind die Akteure als Einzelpersonen gezwungen, in existenzieller Weise um die Sicherung ihres Lebenserhalts zu kämpfen, und wie soeben erläutert, können Marktakteure hierbei zum Mittel rechtfertigungsloser ökonomischer Macht greifen. In der politischen Konkurrenz stehen sich hingegen genuin kollektive Akteure gegenüber, die um politischen Einfluss konkurrieren, nicht unmittelbar um ihre Lebenssicherung, und dabei lässt sich politischer Einfluss beinahe nie ohne jeden Rückgriff auf allgemeine Rechtfertigungsansprüche gewinnen.

Mit all dem will ich nicht die Gefahren der Oligarchisierung und Korrumpierung durch das Medium politischer Macht in Abrede stellen; das Argument ist vielmehr, dass die Grundform der Demokratie eine größeres Sittlichkeitspotenzial hat als der Markt. Daher sind die vielen Sittlichkeitsdefizite real existierender Demokratien grundsätzlich besser intern behebbar als die realer Märkte. Im Übrigen liegt einer der Gründe für meine Plädoyer für einen liberalen Sozialismus anstelle einer demokratischen Planung der Wirtschaft genau in den Gefahren der Hierarchisierung von po­litischer Macht, darauf verweise ich kurz zu Beginn der Arbeit.5 Auch im Vergleich unterschiedlicher Varianten des Marktsozialismus gibt die Be­rücksichtigung dieser Gefahr den Ausschlag für den spezifischen Marktsozialismus, für den ich plädiere, nämlich ein genossenschaftlicher Marktsozialismus anstelle eines Marktsozialismus jugoslawischer Prägung (vgl. Kuch 2023: Kap. 8.1).

Autonomie und Abhängigkeit im liberalen Sozialismus

Derpmann hält nicht nur Rawls’ Eigentümerdemokratie für weniger kritikwürdig, sondern den liberalen Sozialismus auch für problematischer, als von mir dargestellt. Wie erwähnt, setzt Derpmanns Kritik am Wert der Autonomie an und der Bedeutung der Möglichkeit zur Lohnarbeit für die Verwirklichung dieses Werts. Grundsätzlich bestreite ich keineswegs die Bedeutung der Möglichkeit von Lohnarbeit für den Wert der Autonomie, ich betone das sogar ausdrücklich (Kuch 2023: Kap. 8.2.). Ich hege lediglich starke Skepsis gegenüber Lohnarbeit in kapitalistischen Unternehmen, wie oben dargelegt. In Genossenschaften kann es hingegen durchaus begrenzte Spielräume für Lohnarbeit geben, was schwierig auszugestalten ist, aber nicht unmöglich erscheint (ebd.).

In einem liberalen Sozialismus sieht Derpmann jedoch noch eine weitere Quelle der Gefahr für den Wert der Autonomie, insofern dieses Wirtschaftssystem nämlich neue Abhängigkeiten schaffe. Er betont, dass „die Beteiligten der Genossenschaften durch Einlagen und Mitgliedschaft stärker an die Genossenschaft gebunden [sind] als es für ökonomisch stabil situierte Beschäftigte in einer Eigentumsdemokratie zu erwarten wäre.“ (Derpmann 317) Es ist sicherlich richtig: Die Verpflichtung zum Erwerb von Genossenschaftsanteilen stellt eine Bürde dar, die die persönliche Autonomie in gewisser Weise einschränkt. In einem genossenschaftlichen Markt­sozialismus wird diese Bürde jedoch akzeptabel, weil die Personen auf universelle Erbschaften zurückgreifen können. Universelle Erbschaften gibt es im liberalen Sozialismus genauso wie einer Eigentümerdemokratie, mit einem Unterschied: Ein größerer Teil der universellen Erbschaft, die alle Gesellschaftsmitglieder erhalten, ist von vornherein zweckgebunden und nur zum Erwerb von Genossenschaftsanteilen verwendbar. Mit den universellen Erbschaften gibt die Gesellschaft einen Teil ihres gemeinschaftlich er­zeugten Reichtums an die nachfolgende Generation weiter, im Gegenzug wird damit die Verpflichtung auferlegt, einen Teil dieses Reichtums als Beitrag zum kooperativen Unterfangen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zu verwenden – und dies buchstäblich in einem kooperativen, d.h. genossenschaftlichen, Unternehmen.

Aufgrund der universellen Erbschaften ist die Bürde des Erwerbs von Genossenschaftsanteilen also geringer, als es zunächst scheinen mag; dennoch liegt Derpmann mit seiner Diagnose teilweise richtig, dass in genossenschaftlichen Unternehmen stärkere direkte Bindungen und Abhängigkeiten als in kapitalistische Unternehmen. Doch diese Abhängigkeiten existieren ohnehin, entweder in der direkten, transparenten Form wie in den genossenschaftlichen Betrieben, oder in der indirekten, weniger sichtbaren, stärker anonymen Form von Abhängigkeit, die kapitalistische Strukturen mit sich bringen, auch in einer Eigentümerdemokratie. Denn selbstverständlich sind auch ‚stabil situierte Beschäftigte‘ in einer Eigentümerdemokratie auf vielfältige Weise abhängig: vor allem von der Gunst der Kapitalanbieter:innen ihres Unternehmens, auf die sie jedoch in ihrem Unternehmen keinen hinreichenden demokratischen Einfluss nehmen können. Die Kapitalanbieter:innen sprechen nur in der Sprache der Preise mit den Beschäftigten vor Ort, das macht sich bei den Beschäftigten als stummer Zwang der ökonomischen Verhältnisse geltend. In der Genossenschaft ist die Kapitalbildung hingegen von vornherein demokratisch verflüssigbar und gestaltbar (vgl. Kuch 2023: Kap. 8.3.). Es gibt direkte wechselseitige Abhängigkeiten, was die Verpflichtung zur Mitgliedschaft und zum Erwerb von Genossenschaftsanteilen betrifft, doch innerhalb eines Rahmens, der gemeinsam gestaltet werden kann, auf der Grundlage wechselseitiger Rechtfertigungspflichten. Mit diesem Recht und dieser Macht zur kollek­tiven Ausgestaltung geteilter Abhängigkeiten geht eine stärkere Verpflichtung einher und damit auch eine direktere Form der Abhängigkeit vom sozialen Ganzen des Unternehmens. Doch entscheidend ist, dass die geteilte Kapitalbildung von vornherein ausdrücklich und transparent als gemeinsame Aufgabe und Verantwortung gesetzt wird, in einem Rahmen, der die kollektive Selbstbestimmung in der gemeinsamen Arbeitstätigkeit und Kapitalbildung sichert und fördert. An dieser geteilten Verantwortungsübernahme führt kein Weg vorbei, das ist der Preis, den wir für die Sicherung eines wirksamen Gerechtigkeitsethos bezahlen müssen.

Fließende Übergänge zwischen Eigentümerdemokratie und liberalem Sozialismus?

Schließlich betont Derpmann, die beiden Systemalternativen Eigentümerdemokratie und liberaler Sozialismus müssten keine binären Gegensätze bilden, vielmehr solle die Möglichkeit „fließender“ Übergänge (Derpmann 318) in den Blick genommen werden. Derpmann macht geltend, ein liberaler Sozialismus könne „in überschaubaren Kontexten einvernehmliche Lohnarbeitsverhältnisse zulassen“ (ebd.). Was die begrenzte Möglichkeit von Lohnarbeit in genossenschaftlichen Unternehmen betrifft, stimme ich sofort zu, wie oben ausgeführt. Anders sieht es mit der Möglichkeit von Lohnarbeit in kapitalistischen Unternehmen aus, also in Privatunternehmen oder Kapitalgesellschaften.

Wenn man kapitalistische Unternehmen zulässt, wird sich sehr rasch eine gesellschaftliche Eigendynamik entfalten, die sich mit ungeheurer Wucht durchsetzen wird: Die genossenschaftlichen Betriebe werden in einen Abwärtswettlauf hineingezogen, der viele Genossenschaften zur Verwässerung und oftmals zur Abkehr von der genossenschaftlichen Form zwingen wird. Dafür arbeite ich mehrere Gründe heraus (vgl. Kuch 2023: 507-511), darunter die Wettbewerbsvorteile, die die kapitalistischen Unternehmen in einer Eigentümerdemokratie aufgrund der größeren Spielräume für die Ausbeutung der Beschäftigten erzielen können. Zudem handeln sich Genossenschaften leichte Effizienz- und damit Wettbewerbsnachteile ein, die eine hinreichend partizipative Unternehmensdemokratie mit sich bringt, und schließlich weisen sie leichte Effizienznachteile in der Kapitalallokation auf. Allerdings ist der erste Konkurrenznachteil für Genossenschaften ohnehin unfair, während die beiden zuletzt genannten Effizienznachteile aus triftigen normativen Gründen gesamtgesellschaftlich akzeptabel sind. Für die Genossenschaften bringen sie in einem kapitalistischen Kontext jedoch einen erheblichen Konkurrenznachteil mit sich. Das bedeutet: Ein genossenschaftlicher Sozialismus funktioniert nur als gesellschaftsweite Alternative. Wenn die Tür auch nur einen Spalt weit für kapitalistische Unternehmen geöffnet wird, wird ein Großteil der Genossenschaften nach und nach vom Markt verdrängt.

Diese Argumente deuten bereits an, weshalb ich auch der umgekehrten Variante, die Derpmann anführt, skeptisch gegenüberstehe: dass sich nämlich im Rahmen einer Eigentümerdemokratie „alternative Kooperationsformen“, also Genossenschaften und demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten, „institutionell begünstigen“ ließen (Derpmann 318). Meine Skepsis hat mit den gerade erwähnten mehrschichtigen und komplexen Konkurrenznachteilen von Genossenschaften gegenüber kapitalistischen Unternehmen zu tun, die normativ auch noch unterschiedlich zu bewerten sind: unfaire Konkurrenznachteile von Genossenschaften durch Ausbeutungsvorteile für kapitalistische Unternehmen auf der einen Seite, auf der anderen Seite jedoch tatsächliche, aber normativ akzeptable Effizienznachteile von Genossenschaften, etwa im Hinblick auf die Kapitalallokation. Mir scheint es praktisch und normativ kaum machbar, angesichts dieser Komplexität auf das richtige Maß der Subventionierung von Genossenschaften im Rahmen einer Eigentümerdemokratie zu hoffen. Gleichwohl ist es richtig, dass auf dem Weg zu einer schrittweisen institutionellen Transformation hin zu einem liberalen Sozialismus in einem Anfangsstadium die institutionelle Begünstigung von Genossenschaften eine wichtige Rolle spielen wird.

Reicht der liberale Sozialismus nicht weit genug?

Anders als Derpmanns Verteidigung der Eigentümerdemokratie führt Jüttens Argumentation in die entgegengesetzte Richtung: In seinem Beitrag wird indirekt die Frage aufgeworfen, ob ein liberaler Sozialismus vielleicht gar nicht weit genug reicht. Das hängt mit einem Problem zusammen, das auch in einem liberalen Sozialismus weiter bestehen wird: das Problem der Konkurrenz. Jütten plädiert in seinem Beitrag vor allem dafür, die sittlichkeitszersetzenden Folgeschäden der Marktkonkurrenz stärker in den Vordergrund zu rücken, als ich dies tue, insbesondere im Unterschied zu den Effekten von Marktaustauschverhältnissen im engeren Sinn (Jütten 300f.). Er weist auf die besonders tiefgehenden Subjektformierungseffekte hin, die von Konkurrenzbeziehungen ausgehen. Dieses Argument verstehe ich als willkommene Ergänzung und Verstärkung meiner Überlegungen.

Es ist vor allem ein Kernelement der neoliberalen Ausweitung der Wettbewerbsidee, das Jütten herausstellt, nämlich die Moralisierung des Wettbewerbs, der zufolge Erfolg und Scheitern im Wettbewerb zunehmend auf das Individuum, sein Verhalten und seine Entscheidungen, zurückgeführt wurden, bei einer wachsenden Ausblendung struktureller Faktoren. Diese problematische Verknüpfung von Erfolg und persönlichem Verdienst bezieht Jütten nun auf den Marktsozialismus. Er befürchtet, der Marktsozialismus könne ungewollt zu einer noch stärkeren falschen Moralisierung von Wettbewerbserfolg beitragen, als wir gegenwärtig bereits beobachten können: Da der Marktsozialismus, so Jütten, „fair und transparent aufzeigt, wieviel jedes Subjekt beiträgt, legitimiert er eine Statusordnung, die die fundamentale Gleichheit aller Subjekte untergraben kann, wenn diese Beiträge unterschiedlich genug sind, gerade auch in den Augen derer, die weniger erfolgreich sind.“ (Jütten 302) Der Anschein einer unverzerrten Ab­bildung der persönlichen Beiträge der Subjekte zur wirtschaftlichen Leistung werde dadurch gefördert, dass unfaire Eigentumsverhältnisse überwunden sind und daher von vornherein als wettbewerbsverzerrende Faktoren nicht mehr in Frage kommen. Von einem ‚falschen Anschein‘ von Transparenz muss Jütten zufolge deshalb gesprochen, weil „Scheitern“ als „persönliches Versagen“ interpretiert wird, „selbst wenn es strukturelle Gründe hat“ (Jütten 304), während umgekehrt Erfolg von den Gewinner:innen „als Zeichen ihrer höheren Kompetenz und besseren Urteilskraft verstanden wird“ (Jütten 302), wiederum unter Ausblendung struktureller Faktoren.

Ich kann Jüttens Befürchtung verstehen, auf eine Eigentümerdemokratie würde seine Kritik auch weitgehend zutreffen. Doch der Marktsozialismus, so wie ich ihn konzipiere, zielt im innersten Kern genau darauf, die von Jütten angeführten ideologischen Verblendungseffekte zu zersetzen. Denn in den zentralen Institutionen des Marktsozialismus gibt es garantierte Foren der demokratischen Deliberation, die aus sich heraus dazu anspornen, die strukturellen, nicht-individuellen Gründe für Erfolg und Scheitern im Wettbewerb in den Vordergrund zu rücken. Institutionelle Foren der Deliberation gibt es in Form demokratischer Strukturen innerhalb der Unternehmen (Kuch 2023: Kap. 8.3) wie auch jenseits der Unternehmen, zwischen Konkurrenzunternehmen einer Branche und unter Einbeziehung aller relevanten Interessengruppen, darunter Umweltschutzvereinigungen und Verbraucherschutzverbänden.6

Die demokratische Unternehmensform im Marktsozialismus etabliert im Wesentlichen einen interpersonalen Rechtfertigungstest (Kuch 2023: Kap. 5.2). Diese institutionelle Vorkehrung erlaubt es – und ermutigt dazu –, die Erfolgreichen im Unternehmen, diejenigen mit überdurchschnittlichen produktiven Beiträgen, auf die Bedingungen ihres Erfolgs zu befragen. So kann der falsche Anschein persönlichen Verdiensts vor Ort in Frage gestellt werden. Denn die deliberative Ermunterung zur interpersonalen Rechtfertigung wird früher oder später auf genau diejenigen strukturellen Faktoren führen, die auch Jütten vor Augen hat: die Abhängigkeit persönlicher Leistungen von kollektiven Institutionen und historischen Errungenschaften sowie von der willkürlichen Verteilung des Glücks, in die richtige Familie oder mit außergewöhnlichen Talenten geboren worden zu sein. Selbst eine scheinbar gänzlich subjektive Größe wie die Fähigkeit und Bereitschaft zur persönlichen Anstrengung und Mühe kann auf dieser Grundlage bald als von strukturellen Faktoren abhängig entlarvt werden.

Gibt es eine Garantie dafür, dass die produktiveren Akteure mit die­sen strukturellen Faktoren konfrontiert werden? Oder brauchen wir dafür philosophische Gerechtigkeitsexpert:innen? Es gibt keinen Grund zur Annahme, ausschließlich Philosoph:innen kämen dafür in Frage. Die Beteiligten vor Ort sind dazu prinzipiell ebenso in der Lage, und in dem von Jütten befürchteten Fall hätten sie auch jeden Anlass dazu: Denn sie würden die Selbstgerechtigkeit und Arroganz der produktiveren Firmenmitglieder hautnah erleben, tagtäglich würden sie deren selbstgefälliges Klopfen auf die eigene Schulter vor Augen geführt bekommen. Daher hätten sie jeden Grund, das scheinbar ureigene Verdienst der Produktiveren in Frage zu stellen. Und anders als heute gibt es im liberalen Sozialismus die garantierte Möglichkeit dazu. Daher wird es in einem liberalen Sozialismus nicht mehr, sondern weniger falschen Glauben an den persönlich verdienten Wettbewerbserfolg als in kapitalistischen Marktwirtschaften geben.

Trotz allem könnte Jütten geltend machen, dass eine Marktökonomie, einschließlich eines Marktsozialismus, zu problematischen Folgeeffekten führt: Diejenigen mit knappen Talenten und starken Ressourcen zur persönlichen Anstrengung werden Positionen mit anspruchsvolleren, abwechslungsreicheren, verantwortungsvolleren Tätigkeitsmustern erlangen können als gering qualifizierte Beschäftigte, die kaum eine Wahl haben, als eintönigere Routinetätigkeiten mit geringer Verantwortung zu akzeptieren. Selbst wenn alle Beteiligten diese Ungleichheit in der Arbeitsteilung nicht mehr als „persönliches Versagen“ interpretieren, sondern die „strukturel­le[n] Gründe“ (Jütten 304) dafür zu durchschauen lernen – wozu der Marktsozialismus, wie soeben gezeigt, beitragen kann –, bleiben zentrale Sittlichkeitsdefizite bestehen: Einige wenige können sich an anspruchsvollen und verantwortungsvollen Tätigkeiten erfreuen, während viele andere Menschen eintönigere Routinearbeiten verrichten müssen. Der Grund dafür ist, dass es auch in einem Marktsozialismus einen erheblichen Konkurrenzdruck gibt, der die Unternehmen dazu nötigt, die erheblichen Effizienzgewinne auszuschöpfen, die aus der Arbeitsteilung resultieren. Eine Gegenkraft hierzu ist die garantierte demokratische Selbstregierung in allen Unternehmen (so etwa Yeoman 2014). Doch ob diese Kraft ausreichend weit trägt, halte ich nicht für gesichert. Lässt sich dieses Problem nur überwinden, wenn der Markt abgeschafft und durch ein System demokratischer Planung ersetzt wird? Das könnte der Fall sein. Es ist aber durchaus möglich, dass in einem Marktsozialismus eine gesetzlich vorgeschriebene Rotation zwischen unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern eingeführt wird, sodass sich auch hochqualifizierte Beschäftigte regelmäßig an einfache Routine­tätigkeiten beteiligen. Der politische Wille zur Einführung gesetzlicher Regelungen dieser Art kann in einem liberalen Sozialismus vorhanden sein, denn die motivationale Bereitschaft zur Gerechtigkeit ist dort viel stärker zur zweiten Natur geworden.

Globale Wirtschaftsbeziehungen

Dummer, Müller und Prix ebenso wie Baumann kritisieren, das Problem globaler Wirtschaftsbeziehungen bleibe unberücksichtigt. Man muss an diesem Punkt eine schwierige Entscheidung treffen: Entweder man stellt die Frage nach globalen Institutionen und akzeptiert den kapitalistischen Markt bis auf weiteres, beispielsweise um sich für eine globale Mindeststeuer für Unternehmen einzusetzen. Oder man stellt die Frage nach Alternativen zum kapitalistischen Markt und rückt die Frage nach globalen Institutionen vorläufig in den Hintergrund. Da sich beide Fragen kaum simultan beantworten lassen, habe ich den zweiten Weg gewählt, denn die Dringlichkeit der Frage nach Alternativen zum kapitalistischen Markt dürfte kaum strittig sein. Die globale Durchsetzung einer Alternative zum Kapitalismus ist selbstverständlich ebenfalls von immenser Bedeutung; wie diese aussehen könnte, müsste Thema eines weiteren Buches sein. Schablonenhaft sei hier nur angedeutet: Eine globale Transformation des kapitalistischen Marktes muss, zumindest in normativer Hinsicht, in privilegierten Gesellschaften des globalen Nordens ihren Anfang nehmen, um dann über Bündnisse und Allianzen befreundeter Gesellschaften nach und nach Einflussmacht zu gewinnen, während parallel globale Gerechtigkeitsinstitutionen ausgebaut werden. Dass diese schrittweise Transformation einen „doublethink“ unausweichlich macht, wie Baumann befürchtet, der die Mitglieder privilegierter Gesellschaften des globalen Nordens dazu bringt, „dass man die Universalität seiner ethischen Ansprüche täglich ignoriert“ (Bau­mann 293), stellt sicherlich eine Gefahr dar. Aber gegenüber dieser Gefahr scheint mir die Chance höher zu sein, dass die verbesserte Sittlichkeit der eigenen Gesellschaft dazu befähigt, sich viel stärker für globale Gerechtigkeit einzusetzen, als dies heute der Fall ist.

Literatur


  1. Siehe zu Konzeptionen sozialer Transformation in der Kritischen Theorie vor allem Honneth (1994) und Jaeggi (2017).↩︎

  2. Es ist also ein Missverständnis, wenn Dummer, Müller und Prix den Eindruck gewannen, ich würde dem kapitalistischen Markt einen „ausschließlich negativen Einfluss auf die moralische Bildung der Subjekte“ (Dummer et al. 293) zuschreiben. Es gibt vielfältige marktinterne Sittlichkeitspotentiale (vgl. Kuch 2023: Kap. 4.3 sowie 493ff.). Allerdings sind diese nur latent wirksam und in ihrer Reichweite begrenzt, und letztlich überwiegen die negativen Sittlichkeitseffekte.↩︎

  3. Davon spricht Robert Misik in seiner klugen Milieustudie (Misik 2019: 39).↩︎

  4. Darin folge ich Habermas’ Konzeption der Demokratie (Habermas 2022: 21ff.), deren normativer Gehalt nicht als bloßes Ideal existiert, sondern mit den Ver­fassungsrevolutionen des späten 18. Jahrhunderts partiell zur Wirklichkeit wurde und seitdem im Modus einer „ungesättigten Norm“ (Habermas 2022: 12) über die Defizite jeder real praktizierten demokratischen Politik hinausweist.↩︎

  5. Kuch (2023: 20). In einem aktuellen Aufsatz arbeite ich die signifikanten Zentralisierungstendenzen heraus, die es sogar in einer partizipativ und dezentral angelegten Variante der demokratischen Wirtschaftsplanung gibt; siehe Kuch (2024).↩︎

  6. Das meine ich mit einer zivilgesellschaftlichen Demokratisierung des Markts (Kuch 2023: Kap. 8.4), Waheed Hussain hat einen ähnlichen Vorschlag jüngst als „intermediated market arrangement“ bezeichnet (Hussain 2023: Kap. 8).↩︎