Konkurrenz, sittliche Pathologien und Marktsozialismus. Ein Kommentar zu Kuchs Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus
Competition, ethical pathologies and market socialism. A comment on Kuch's Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus
Zusammenfassung: Im sechsten Kapitel seiner Studie, Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus, untersucht Hannes Kuch sittliche Pathologien der kapitalistischen Gesellschaft. Er argumentiert, dass solche Pathologien entstehen, wenn Lernerfahrungen im Markt zu Einstellungen führen, die negative Auswirkungen auf andere soziale Sphären haben und den demokratischen Ethos untergraben. In diesem Kommentar gehe ich auf zwei Aspekte seiner These ein. Erstens untersuche ich ihre empirischen Grundlagen in der Verhaltensökonomie; zweitens die neue Analyse des Autoritarismus, den sie vorschlägt. Kuchs Diagnose der sittlichen Pathologien des Kapitalismus stützt sich zum Teil auf verhaltensökonomische Studien zu den moralischen Konsequenzen von Marktbeziehungen. Diese Studien zeigen, dass Marktbeziehungen langfristig zur Erosion moralischer Handlungsmotive führen können. Dieser Tendenz kann aber entgegengewirkt werden, wenn Marktbeziehungen in rechtsstaatliche Institutionen und eine vertrauensbildende Kultur eingebettet sind. Die verhaltensökonomischen Studien, die Kuch diskutiert, beziehen sich jedoch auf Entscheidungen, in denen Subjekte zwischen Geld und moralischem Handeln wählen müssen oder Geld verteilen müssen, und nicht um Marktbeziehungen, in denen Konkurrenz und Wettbewerb eine Rolle spielen. Ich argumentiere, dass solche Konkurrenzsituationen besonders zersetzend für moralische Beziehungen sein können, weil sie Subjekte gegeneinander ausspielen. Die Frage ist, ob es möglich ist, auch gegen diese Erosion moralischer Motive wirksame Gegenmittel zu finden. Kuchs Analyse des Autoritarismus besagt, dass Menschen im Kapitalismus lernen, dass das Recht des Stärkeren ein legitimes Handlungsprinzip ist, und dass die Normalisierung solcher Prinzipien im Umgang mit schwächeren Gruppen eine wesentliche Rolle in der Erklärung des neuen Autoritarismus spielt. Das ist plausibel. Insbesondere glaube ich, dass eine neoliberale Version des meritokratischen Gedankens dieser Entwicklung zu Grunde liegt. Subjekte sehen sich als Gewinner oder Verlierer ständiger Statuswettbewerbe, und wenn sie auf der Verliererseite stehen, kompensieren sie den drohenden Statusverlust mit der Unterdrückung schwächerer. Die Frage ist, ob eine weniger radikale Reaktion dieser Art auch im Marktsozialismus drohen könnte, weil dieser ja noch transparenter als der Kapitalismus den Subjekten zeigt, wieviel Wert ihr je eigener gesellschaftlicher Beitrag hat. Kann der Marktsozialismus einer solchen Entwicklung entgegenwirken?
Schlagwörter: Verhaltensökonomie, Wettbewerb, Konkurrenz, Autoritarismus, Statusverlust
Abstract: In the sixth chapter of his study, Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus, Hannes Kuch examines moral pathologies of capitalist society. He argues that such pathologies arise when learning experiences in the market lead to attitudes that have negative effects on other social spheres and undermine the democratic ethos. In this comment, I address two aspects of his thesis: its empirical foundations in behavioural economics, and the new analysis of authoritarianism that it proposes. Kuch’s diagnosis of the moral pathologies of capitalism is based in part on studies in behavioural economics about the moral consequences of market relations. These studies show that market relations can lead to the erosion of moral motives for action in the long term. This tendency can be counteracted if market relations are embedded in constitutional institutions and a trust-building culture. However, the studies that Kuch discusses relate to decisions in which subjects have to choose between money and moral action or have to distribute money, and not to market relations in which competition and rivalry play a role. I argue that such competitive situations can be particularly erosive to moral relations because they pit subjects against each other. The question is whether it is possible to find effective antidotes to this erosion of moral motives. Kuch’s analysis of authoritarianism suggests that people in capitalism learn that the right of the strongest is a legitimate principle of action, and that the normalization of such principles in dealing with weaker groups plays an essential role in explaining the new authoritarianism. This is plausible. In particular, I believe that a neoliberal version of the meritocratic idea underlies this development. Subjects see themselves as winners or losers in constant status competitions, and if they are on the losing side, they compensate for the impending loss of status by oppressing weaker groups. The question is whether a less radical reaction of this kind could also threaten market socialism, because it shows subjects even more transparently than capitalism how much value their own social contribution has. Can market socialism counteract such a development?
Keywords: Behavioural economics, competition, rivalry, authoritarianism, loss of status
1. Im sechsten Kapitel seiner Studie, Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus, untersucht Hannes Kuch die sittlichen Pathologien der kapitalistischen Gesellschaft, also diejenigen Pathologien, die die moralischen Dispositionen zersetzen oder aushöhlen, die zur Aufrechterhaltung einer demokratischen Gerechtigkeit erforderlich sind (Kuch 2023:297).1 Kuchs These ist, dass der Markt eine soziale Sphäre ist, in der Subjekte durch Lernerfahrungen Einstellungen, Absichten und Haltungen herausbilden. Sittliche Pathologien entstehen, wenn diese Einstellungen, Absichten und Haltungen in anderen sozialen Sphären zu Problemen führen, die die Bildung und Reproduktion eines lebendigen demokratischen Ethos untergraben (303). In diesem Kommentar möchte ich auf zwei Aspekte von Kuchs These eingehen: erstens, ihre empirische Grundlage in der Verhaltensökonomie, und zweitens die Analyse des neuen Autoritarismus, die sie ermöglicht. Insbesondere möchte ich fragen, welche Rolle die Konkurrenz (oder der Wettbewerb) in Kuchs Argumenten spielt.
2. Kuchs Diagnose der sittlichen Pathologien des Kapitalismus stützt sich zum Teil auf Ergebnisse aus der Verhaltensökonomie. Dort geht es unter anderem um die Frage, ob situative Aspekte dafür verantwortlich sind, dass Subjekte eigeninteressiert oder prosozial handeln, wenn es um die Verteilung von Gütern geht. Er bezieht sich zum Beispiel auf eine bekannte Studie von Falk und Szech (2013), die zeigt, dass Marktbeziehungen zur Erosion moralischer Standards beitragen. Langfristig führen Marktbeziehungen zur endogenen Formung von Präferenzen, die die Verfolgung von Eigeninteressen über moralische Einwände hinweg fördern (Bowles 2016). Allerdings zeigen verhaltensökonomische Studien auch, dass der Erosion moralischer Handlungsmotive entgegengewirkt werden kann, wenn Marktbeziehungen in rechtsstaatliche Institutionen und eine vertrauensgenerierende liberale staatsbürgerliche Kultur eingebettet sind.2 Für Kuch führt das zu zwei Fragen: was sind die Kriterien für das Bestehen und Aufrechterhalten einer solchen Kultur, und ist es unseren kapitalistischen Gesellschaften in jüngeren Zeiten gelungen, eine solche Kultur aufrecht zu erhalten (309)?
3. Es ist natürlich immer möglich, zu fragen, ob bestimmte verhaltensökonomische Experimente wirklich die externe Gültigkeit haben, die sie für sich in Anspruch nehmen, oder sogar, ob die experimentellen Versuchsanordnungen überhaupt die Einstellungen, Absichten oder Haltungen testen, die die Wissenschaftler nachweisen wollen.3 Hier will ich kurz ein Problem diskutieren, das für beide Formen der Gültigkeit Relevanz hat. Was genau ist die Erfahrung der Marktbeziehung, die Subjekte in den klassischen verhaltensökonomischen Experimenten machen, und was folgt daraus für die Möglichkeiten, der Erosion moralischer Motive entgegenzuwirken? In den klassischen Experimenten, die Kuch diskutiert, geht es in der Regel entweder um Entscheidungen, in denen Subjekte zwischen Geld und moralischem Handeln wählen müssen, oder um das Aufteilen von Geld, wodurch sich zeigen soll, ob Subjekte eigeninteressiert oder moralisch handeln.4 In diesen Situationen geht es also um knappe Güter, „win-lose“ Ergebnisse, und um Einstellungen wie Fairness und Vertrauen. Aber es geht nicht um Konkurrenz.
4. Bei Konkurrenz geht es natürlich auch um knappe Güter und „win-lose“ Ergebnisse, aber es geht auch um andere Dinge. Insbesondere geht es bei Konkurrenz darum, etwas zu gewinnen, sich gegen andere durchzusetzen, und im direkten Vergleich mit anderen besser zu sein. Im Wettbewerb versuchen Subjekte, ihre Ziele durch Anstrengung und unter Nutzung ihrer Fähigkeiten zu erreichen. Oft haben Wettbewerbe eine „winner-takes-all“-Struktur (Frank und Cook 1995), das heißt, dass es nicht um die relative Verteilung von Gütern geht, sondern um alles oder nichts. Wiederholte Wettbewerbe können zur Verfestigung hierarchischer Strukturen führen, in denen Subjekte eine individuelle Position relativ zu anderen innehaben. Der springende Punkt ist, dass genau diese Form der Konkurrenz die gängigste Erfahrung der Marktbeziehung ist. Sie zeigt sich in den Momenten, die das Subjekt als Marktteilnehmer bilden und formen: auf dem Arbeitsmarkt im Wettbewerb um offene Stellen, und am Arbeitsplatz im Wettbewerb um Beförderung und die relative Höhe der Bonuszahlung. Darüber hinaus ist der allgemeine Gedanke, dass Subjekte sich ganz generell immer in Konkurrenz zu ihren Mitbürgern befinden, in Marktgesellschaften weit verbreitet. Dies zeigt sich auch in tagtäglichen Statuskämpfen, zum Beispiel wenn Subjekte konsumieren, weil Freunde oder Nachbarn es tun („keeping up with the Joneses“) und anderen Formen von conspicuous consumption. Im Vergleich zu diesen Momenten der Konkurrenz sind Erfahrungen der Marktbeziehung, die strukturell einer doppelten Auktion ähneln, in der zwei Subjekte sich auf einen Preis oder eine Güterverteilung einigen müssen (also der Erfahrung, die Falk und Szech als paradigmatisch ansehen), weniger subjektbildend oder formativ.5
5. Nun gibt es vergleichsweise wenig verhaltensökonomische Studien über Konkurrenzverhalten, aber es gibt eine Reihe von Experimenten, die den Willen, an einem Wettbewerb teilzunehmen, untersuchen (das heißt, sie untersuchen, ob Subjekte in einem „real effort task“ lieber um höheres Preisgeld konkurrieren wollen, als einen Stücklohn bezahlt zu bekommen, der unabhängig von der Leistung anderer ist). Das erste robuste Resultat wird in fast allen Studien bestätigt und lautet, dass es eine relativ große Gruppe (mehr als 40%) von Subjekten gibt, die Wettbewerb einer Stücklohnbezahlung unter fast allen Umständen vorzieht. Gleichzeitig gibt es eine relativ große Gruppe, die Wettbewerb unter fast allen Umständen ablehnt.6 Ein zweites Resultat ist, dass Subjekte davon ausgehen, dass ihre Konkurrenten, wann immer es möglich ist, betrügen werden, und deshalb oft selbst betrügen. Das heißt, dass Konkurrenzsituationen moralische Handlungsmotive in den Hintergrund drängen.7 Gibt es funktionale Äquivalente zu den rechtsstaatlichen Institutionen gibt, die laut Bowles moralisches Verhalten in Marktbeziehungen fördern auch auch für Konkurrenzsituationen (oder gibt es andere Möglichkeiten gibt, Wettbewerb fairer zu machen)?
6. Diese Frage ist für das institutionelle Design des Marktsozialismus von besonderer Wichtigkeit, denn es ist ja gerade das Besondere am Marktsozialismus, dass er die ökonomische Funktionalität des Marktes nutzen will, ohne sich die moralischen und sozialen Probleme einzuhandeln, die die kapitalistische Marktwirtschaft charakterisieren. Diese Probleme sitzen jedoch tief. Wie Waheed Hussain überzeugend gezeigt hat, ist es eine charakteristische Eigenschaft von Wettbewerb, Subjekte so „gegeneinander aufzustellen“ (pitting people against each other; Hussain 2020), dass ihre Ziele miteinander unvereinbar sind. Mein Gewinn muss eines anderen Verlust sein, und umgekehrt. Diese win-lose-Struktur kann selbst in fairem Wettbewerb negative Folgen haben, weil es Gemeinschaft schwächt. Gemeinschaft ist ein wichtiger Wert für Sozialisten, der unabhängig von Gleichheit dafür sorgt, dass Subjekte sich umeinander kümmern und miteinander solidarisch sind (Cohen 2009). Konkurrenz um knappe Güter, zum Beispiel Plätze in nachgefragten Schulen oder Universitäten, oder prestigeträchtige und intrinsisch wertvolle Arbeit würde Gemeinschaft auch im Marktsozialismus schwächen, weil sie auch dort zu materiellen und Statusungleichheiten führen kann (auch wenn diese geringer sind als in kapitalistischen Gesellschaften). Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass Gewinner disproportionale soziale Macht ausüben können, wenn ihr Erfolg als Zeichen ihrer höheren Kompetenz und besseren Urteilskraft verstanden wird.
7. Gleichzeitig gibt es gute Gründe zu der Annahme, dass institutionelle Strukturen des Marktsozialismus besonders dazu geeignet sind, fairen und für alle vorteilhaften Wettbewerb zu fördern.8 Die positive Vision sieht so aus: Während die Anreizfunktion der Konkurrenz im Marktsozialismus weiterlebt und soziale Effizienz steigert, verliert das Verlieren seine existentielle Dimension9, und Konkurrenten können darin Trost finden, dass die Leistung und Innovation der Gewinner letztendlich allen zugutekommen. Der „winner-takes-all“-Effekt der kapitalistischen Marktwirtschaft verschwindet, wenn Versorgung im Krankheitsfall und im Alter, Wohnsituation und die Zukunftschancen der Kinder nicht mehr direkt mit Erfolg im Markt zusammenhängen. Während Wettbewerb auch im Marktsozialismus nicht zum Spiel wird, und Konkurrenzdruck sich nicht völlig vermeiden lässt, sind die Einsätze geringer, und das kann dazu führen, dass Wettbewerb als positive Erfahrung für alle werden kann. Die Herausforderung sich mit anderen zu messen, ermöglicht es Subjekten, ihre Fähigkeiten zu entwickeln oder zu verbessern, sich selbst besser kennenzulernen, und zu einer Exzellenz-Kultur beizutragen. Allerdings wirft Wettbewerb im Marktsozialismus ein ihm spezifisches Problem auf. Da er fair und transparent aufzeigt, wieviel jedes Subjekt beiträgt, legitimiert er eine Statusordnung, die die fundamentale Gleichheit aller Subjekte untergraben kann, wenn diese Beiträge unterschiedlich genug sind, gerade auch in den Augen derer, die weniger erfolgreich sind. Ironischerweise könnte diese Gefahr im Marktsozialismus sogar noch größer sein als im Kapitalismus, weil der Wettbewerb nicht durch unfaire Besitzverhältnisse verzerrt wird. Darauf werde ich am Schluss noch einmal kurz zurückkommen. Hier soll nur festgehalten werden, dass Konkurrenz soziale Spannungen schafft, und dass es nicht klar ist, dass der Marktsozialismus diese Spannungen völlig auflösen kann.
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8. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit von dem allgemeinen Begriff der Marktbeziehungen auf die konkrete Erfahrung der Konkurrenzbeziehung verschieben, können wir auch neue Einblicke in die Diagnose des neuen Autoritarismus gewinnen, der in den letzten 20 Jahren zuerst in den USA und Großbritannien entstanden ist und heute in vielen Ländern existiert. Kuch analysiert den neuen Autoritarismus, in meinen Augen überzeugend, als die Reflektion einer Leidenserfahrung, die Subjekte im Neoliberalismus machen. Über die Konsequenzen neoliberaler Politik für die Bevölkerungsschichten, die am anfälligsten für den neuen Autoritarismus sind, schreibt Kuch, „gesteigerte Selbstverantwortung bei Verstärkung von Konkurrenz, Ungleichheit und Prekarität […] schüren eine Angst vor Statusverlust, einem Absturz ins Bodenlose, vor allem wenn ökonomischen Krisen die Situation weiter destabilisieren” (326). Im Hintergrund dieser Analyse steht die Idee, dass Menschen im Kapitalismus lernen, dass „das Recht des Stärkeren“ (327) ein legitimes Handlungsprinzip ist. Darunter leiden sie, wenn sie schwach sind, doch umgekehrt machen sie selbst davon Gebrauch, wenn sie es gegen schwächere soziale Gruppen anwenden. Welche Rolle spielt Konkurrenz in dieser Situation? Ich möchte vorschlagen, dass die polarisierte Einstellung zu Wettbewerb und Konkurrenz in kapitalistischen Staaten eine wesentliche Rolle in der Erklärung des neuen Autoritarismus spielt.
9. Der „erbarmungslose[] Existenzkampf“ (327), in dem das Recht des Stärkeren herrscht, ist nicht länger auf den Markt begrenzt, sondern hat sich im Neoliberalismus in fast allen Sphären der Gesellschaft ausgebreitet. Im Zuge dieser Ausbreitung hat er sich jedoch auch normativ verändert: er wurde moralisiert. Das zeigt sich schon durch die zunehmende Verwendung von Begriffen wie „Verantwortung“ und die damit verbundene Forderung, jedes Subjekt müsse „etwas aus sich machen“, etwa sein Humankapital entwickeln, um seinen gesellschaftlichen Beitrag leisten zu können. Individuelle Lebensentscheidungen werden so in eine Kultur der Meritokratie eingebettet, die der Marktökonomie ursprünglich fremd ist.10 Sie hat den Anspruch, die Subjekte davon zu überzeugen, dass der erbarmungslose Existenzkampf nicht nur legitim ist, sondern auch autoritative Urteile über ihren sozialen Wert als Gesellschaftsmitglieder ermöglicht (Sandel 2020). Dabei ist der Existenzkampf immer ein Wettkampf, denn es geht immer um die eigene Position im Vergleich zu anderen. Erfolg im Wettbewerb impliziert einen hohen gesellschaftlichen Wert, Misserfolg einen niedrigen. Dabei hat sich der Wettbewerb in zwei Weisen verändert. Der Marktwettbewerb wurde moralisiert, so dass Scheitern persönliches Versagen ist, selbst wenn es strukturelle Gründe hat. Und meritokratischer Wettbewerb, das heißt, Wettbewerb ostensiv auf der Basis von Leistung und Performance, bestimmt zunehmend Lebenschancen auf Gebieten wie Arbeit, Bildung und Partnerwahl (Markovits 2019).
10. In dieser Situation stecken Anhänger des neuen Autoritarismus in einer Zwickmühle. Auf der einen Seite gehört der Wettbewerb, vor allem in den USA, zusammen mit dem Versprechen, dass Erfolg mit sozialem Aufstieg und individueller Distinktion belohnt wird, fest zum amerikanischen Traum, dem Gründungsmythos der Republik, dem auch heute noch die meisten Amerikaner anhängen. Daher ist Gewinnen so wichtig, und sie glauben auch daran, wenn sie selbst nicht zu den Gewinnern gehören (Duina 2011). Wie Kuch sagt, „loser“ ist eine der schwersten Beleidigungen, mit denen Donald Trump seine Gegner verhöhnt (327). Natürlich fürchten viele Menschen, in diesen Wettbewerben nicht bestehen zu können, und dass ihnen daher Statusverlust droht: Absturz statt Auszeichnung. Sie fürchten, dass am Ende sie selbst die „loser“ sind. Im ökonomischen Wettbewerb haben viele schon verloren. Die Abwanderung vieler Unternehmen aus US-Staaten im Rahmen der Globalisierung hat gezeigt, dass zumindest Teile der amerikanischen Industrie nicht konkurrenzfähig sind. Die Menschen in den betroffenen US-Staaten sind jetzt gezwungen, Argumente dafür zu finden, dass eine protektionistische „America First“-Politik mit ihrem Glauben an ihre eigene Überlegenheit zu vereinbaren ist. Das führt dazu, nicht nur in den USA, aber dort vielleicht besonders, dass chauvinistische und nationalistische Diskurse an Andrang gewinnen, weil putative Verlierer andere Wege suchen, um ihren Status relativ zu anderen zu demonstrieren.
11. Die Assoziation mit Gewinnern ist ein Weg Statusverlust zu kompensieren, das Ausüben von Macht gegenüber Schwächeren (zum Beispiel in der Familie) ein anderer. Aber immer geht es um relative Position, um die eigene Stelle im Wettbewerb mit anderen. So können Verlierer im globalen Wettbewerb ihren eigenen Wert scheinbar erhöhen, wenn sie sich als Teil einer kollektiven Bewegung sehen, die Amerika wieder groß macht oder eine gemeinsame Vergangenheit zelebriert, in denen sie einer dominanten Gruppe angehörten. Leider basieren diese Versuche der Identitätsrettung stets auf dem Kontrast mit anderen Gruppen, die weniger Macht oder Status haben, und das erklärt, warum so heterogene Gruppen von Menschen zu Opfern von Hass und Gewalt werden können. Was haben Menschen mit anderer Hautfarbe, Immigranten, Flüchtlinge, Frauen, Schwule und Lesben, Menschen mit Transgender-Identitäten, Behinderte, Obdachlose, usw. gemeinsam, außer, dass sie in irgendeinem Sinne weißen Männern (und machen weißen Frauen) unterlegen sind oder scheinen? Die spezifischen Mechanismen der Ausgrenzung und Unterdrückung unterscheiden sich, aber sie alle teilen das allgemeine Muster, dass eine bestimmte normative Lebensform als überlegen angesehen wird und Abweichungen davon aggressiv „bestraft“ werden. Erklärungsansätze wie die „Opfermentalität“ der männlichen Mitglieder der Bostoner Arbeiterklasse, die Richard Sennett und Jonathan Cobb in ihrer Studie The Hidden Injuries of Class diagnostiziert haben (Sennett and Cobb 1972), passen genauso in dieses Muster wie der Anspruch vieler Männer, von Frauen umsorgt zu werden, den Kate Manne in ihrem Buch Down Girl beschreibt (Manne 2018). In all diesen Fällen geht es um Hierarchien, und den Versuch, nicht als Verlierer in einem Wettbewerb dazustehen.
12. Das sind extreme Reaktionen, und sie hängen sicherlich mit der sozialen Abstiegsgefahr zusammen, die Kuch diskutiert. Aber wenn wir den neuen Autoritarismus als Reaktion auf die Unsicherheit vieler Menschen darüber zurückführen, ob sie im sozialen Wettbewerb bestehen können, stellt sich die Frage, ob eine weniger radikale Reaktion dieser Art auch im Marktsozialismus drohen könnte. Wie wir gesehen haben, ist Marktsozialismus der institutionelle Versuch, die Vorteile des Marktwettbewerbs zu nutzen, ohne seine Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Da die materiellen Lebensgrundlagen der Subjekte im Marktsozialismus ebenso gesichert sind wie die Zukunftschancen ihrer Kinder, sind die Einsätze im Wettbewerb geringer. Trotzdem übt der Wettbewerb weiterhin eine disziplinarische Funktion aus. Lebendiger Wettbewerb zwingt Konkurrenten effizient und innovativ zu sein, treibt sie zu Höchstleistungen an und die Verlierer aus dem Geschäft. Der Wettbewerbsdruck sorgt auch dafür, dass Firmen intern straff organisiert sind, auch wenn sie demokratisch verwaltet werden. Für individuelle Mitarbeiter bedeutet das, dass ihr eigener Beitrag zur Produktivität der Firma sogar transparenter sein kann als in hierarchisch organisierten Firmen im Kapitalismus. Ihr sozialer „Wert“ ist daher auch transparenter.
13. Das muss natürlich kein Problem sein. Vielleicht sollten wir erwarten, dass die Firmenkultur in solchen Fällen fördernd statt fordernd ist, und auf Entwicklung statt Stigmatisierung setzt. Und vielleicht wird die marktsozialistische Gesellschaft insgesamt nicht von einem Leistungsethos getragen, in dem der individuelle Beitrag zum Gemeinwohl genau beobachtet und verglichen wird. Es ist allerdings unklar, ob und wie solche Einstellungen entstehen werden. Schließlich handelt es sich bei den Subjekten des Marktsozialismus der Zukunft um die Subjekte des Kapitalismus von heute, und, wie wir gesehen haben, ist Subjekten ihre eigene Position im Verhältnis zu anderen sehr wichtig. Daraus folgt einerseits, dass wir auch im Marktsozialismus damit rechnen müssen, dass Subjekte sich miteinander vergleichen wollen, und dass sie darunter leiden, wenn sie selbst zu den „Verlierern“ gehören. Der Drang, besser zu sein als andere, oder zumindest nicht schlechter, sich auszeichnen zu wollen, exzellent zu sein, scheint ein tiefliegendes menschliches Bedürfnis zu sein, das auch im Marktsozialismus überleben wird.11 Die Frage ist daher, ob der Marktsozialismus durch seinen Ethos und seine Institutionen Orte bereitstellen kann, in denen die Menschen ihren Konkurrenzkampf um Anerkennung führen können, ohne die solidarische Gemeinschaft zu schwächen.
Literatur
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----- (2015), „Institutions and Morals: A reply“, European Journal of Political Economy 40: 391–94.
Frank, Robert H. and Cook, Philip J. (1995), The Winner-Take-All Society: Why the few at the top get so much more than the rest of us, New York: The Free Press.
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Henrich, Joseph, Boyd, Robert, Bowles, Samuel, Camerer, Colin, Fehr, Ernst and Gintis, Herbert (2004), Foundations of Human Sociality: Economic Experiments and Ethnographic Evidence from Fifteen Small-Scale Societies, Oxford und New York: Oxford University Press.
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Kuch, Hannes (2023), Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus, Frankfurt und New York: Campus.
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Markovits, Daniel (2019), The Meritocracy Trap, London: Penguin.
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Niederle, Muriel und Vesterlund, Lise (2007), “Do Women shy away from Competition? Do Men compete too Much?” Quarterly Journal of Economics 122(3): 1067–101.
Sandel, Michael (2020), The Tyranny of Merit: What’s become of the common good?, London: Allen Lane.
Sennett, Richard and Cobb, Jonathan (1972), The Hidden Injuries of Class, Cambridge: Cambridge University Press.
Im Rest dieses Beitrags gebe ich Referenzen zu Kuchs Buch nur als Seitenzahl in Klammern.↩︎
Das ist Bowles’ Interpretation der Ergebnisse von Henrich u.a. (2004), der Kuch folgt.↩︎
Vgl. Breyer und Weimann (2015).↩︎
Für die Details der Experimente, vgl. Bowles (2016:43–44, 228–30).↩︎
Eine dritte Erfahrung ist die des Subjekts als „price-taker” (Breyer und Weimann 2015). Falk und Szechs Verteidigung ihrer Konzeptualisierung ist wenig überzeugend (Falk und Szech 2015).↩︎
In den meisten Studien geht es um geschlechtsbasierte Unterschiede im Willen an einem Wettbewerb teilzunehmen, aber die jüngsten Untersuchungen legen nahe, dass dieser Unterschied kleiner sein könnte als bisher angenommen. Die klassische Studie ist Niederle und Vesterlund (2007).↩︎
Kuch weist manchmal auf diese Tendenz hin, zum Beispiel in seiner Diskussion der Argumente von Joseph Heath (382–83; vgl. Heath 2014).↩︎
Es gibt zwar verschiedene Vorschläge zu den spezifischen Strukturen des Marktsozialismus, aber hier beziehe ich mich auf allgemeine Aspekte dieser Strukturen, die die meisten Vorschläge teilen.↩︎
Hussain weist darauf hin, dass Konkurrenz dann besonders schadhaft für Gemeinschaft ist, wenn Subjekte um existentiell wichtige Güter konkurrieren müssen (Hussain 2020:80–81).↩︎
Zur Unterscheidung von Markökonomie und Marktgesellschaft, vgl. Cunningham 2005.↩︎
Für unterschiedliche Deutungen dieses Drangs nach Anerkennung, vgl. etwa Honneth (1992) und Neuhouser (2008).↩︎