Die „Gymnastik des Allgemeinen“2: (moralische) Bildung in der ökonomischen Sphäre. Ein Kommentar zu Hannes Kuchs Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus

(Moral) Education in the Economic Sphere. A commentary on Hannes Kuch's Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus

Zusammenfassung: Der Artikel diskutiert Hannes Kuchs Kritik an der in liberalen Gerechtigkeitstheorien vertretenen Annahme, dass ökonomisches Verhalten leitende und politisch-moralische Normen getrennt voneinander zu betrachten sind. Gegen diese Annahme argumentiert Kuch in seiner Studie „Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus“ dafür, dass die ökomische Sphäre eine zentrale Rolle für die Ermöglichung und Verwirklichung demokratischer Gerechtigkeit spielt. Dabei problematisiert Kuch, dass die ökonomische Sphäre in ihrer gegenwärtigen Gestalt einen überwiegend negativen Einfluss auf die moralische Bildung der Subjekte hat. Hieran anknüpfend attestiert Kuch der politischen Sphäre ein normatives Primat, während er der ökonomischen Sphäre ein empirisches Primat hinsichtlich der moralischen Bildung der Subjekte zuschreibt. Die KommentatorInnen kritisieren Kuchs Position dahingehend, dass sie einen problematischen Gegensatz zwischen einer amoralischen ökonomischen Sphäre und einer idealisierten moralischen politischen Sphäre postuliert. Neben einem binnenlogisch-argumentativen Problem erweist sich diese Darstellung insbesondere hinsichtlich der Analyse real-politischer und global-ökonomischer Machtverhältnisse als problematisch. Die KommentatorInnen plädieren daher für eine differenziertere Analyse, die die moralische Ambivalenz der beiden Sphären und ihre moralisch bildenden und destruktiven Potenziale anerkennt.

Schlagwörter: Sittlichkeit, Ökonomie, Politik, Demokratie, Gerechtigkeit, moralische Bildung, Ethos, Transformation, Moralische Ambivalenz

Abstract: The article discusses Hannes Kuch's critique of a prominent assumption liberal theories of justice make: norms guiding economic behavior and political-moral norms are to be considered separately. Against this assumption, Kuch argues in his study ‘Economy, Democracy and Liberal Socialism’ that the economic sphere plays a central role in enabling and realizing democratic justice. In doing so, Kuch problematizes the fact that the economic sphere in its current form has a predominantly negative influence on the moral education of subjects. Following on from this, Kuch ascribes a normative primacy to the political sphere, while he ascribes an empirical primacy to the economic sphere with regard to the moral education of subjects. The commentators criticize Kuch's position to the effect that it postulates a problematic contrast between an amoral economic sphere and an idealized moral political sphere. Besides an internal logical-argumentative problem, this contrast proves to be particularly problematic with regard to the analysis of real-political and global-economic power relations. The commentators therefore argue for a more differentiated analysis that recognizes the moral ambivalence of the two spheres and their morally formative and destructive potential.

Keywords: Ethical life, economy, politics, democracy, justice, moral education,

ethos, transformation, moral ambivalence

Hannes Kuchs Studie Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus widmet sich dem Vorhaben, den Zusammenhang von Ökonomie und demokratischer Gerechtigkeit zu analysieren. Einsatzpunkt der Studie ist Kuchs Kritik an der in liberalen Gerechtigkeitstheorien vertretenen Annahme, dass ökonomisches Verhalten leitende und politisch-moralische Normen getrennt voneinander zu betrachten sind. Diesen Theorien zufolge finde zwischen Ökonomie und Politik, wie Kuch sagt, eine „moralische Arbeitsteilung“ statt: „Die ökonomische Sphäre sorge für maximalen Output, unter Bedingungen maximaler negativer Freiheit, während die politische Sphäre gerechte Hintergrundstrukturen und Verteilungsgerechtigkeit sicherstelle“ (Kuch 2023: 180). Mit seinem Projekt stellt Kuch diese Annahme der Trennung ökonomischer und politisch-moralischer Normen grundsätzlich in Frage und argumentiert dafür, dass die ökomische Sphäre zentral für die Ermöglichung und Verwirklichung demokratischer Gerechtigkeit ist.

Diese These entwickelt Kuch im Wesentlichen in Anlehnung an G.W.F. Hegels Sittlichkeitstheorie. Zentrales Merkmal der hegelschen Sittlichkeitstheorie, die diese von der kantischen Moralphilosophie unterscheidet, ist die Annahme, dass Subjekte nicht „bloß“ aufgrund des „Factum[s] der Vernunft“3 moralische Subjekte sind. Dem sittlichkeitstheoretischen Ansatz zufolge werden Subjekte vielmehr zu moralischen Subjekten gebildet, indem sie moralische Normen und Prinzipien konkret praktizieren und einüben. Kuch argumentiert nun mit Hegel dafür, dass die Ökonomie eine sittliche „Bildungssphäre“ ist, die einen starken Einfluss auf die moralische Bildung der Subjekte hat (vgl. ebd.: 22).

Wie Kuch selbst ausführt, umfasst der hegelsche Bildungsbegriff eine machttheoretische (a) und eine normative (b) Dimension: a) Praktiken und Institutionen prägen und bilden nolens volens die Haltungen, Dispositionen und Motivationen der Subjekte; b) Praktiken und Institutionen prägen und bilden die moralischen Haltungen, Dispositionen und Motivationen der Subjekte. Kuch hebt ebenfalls hervor, dass die hegelschen Argumente zur Bildung in der ökomischen Sphäre nicht bloß die machttheoretische, sondern auch die normative Dimension der Bildung umfassen.

Basierend auf der mit Hegel getroffenen Feststellung, dass die ökonomische Sphäre eine wesentliche Rolle in der moralischen Bildung der Subjekte spielt, kommt Kuch zu dem Schluss, dass sich diese Rolle aufgrund der gegenwärtigen Gestalt der ökonomischen Sphäre lediglich moralisch ent-bildend auswirkt.4 Das heißt, einerseits vertritt Kuch mit Hegel die These, dass die Subjekte in ökonomischen Praktiken und Institutionen moralisch gebildet werden. Andererseits haben Kuch zufolge die gegenwärtigen ökonomischen Praktiken und Institutionen einen ausschließlich negativen Einfluss auf die moralische Bildung der Subjekte – d.i., in den gegenwärtigen ökonomischen Praktiken und Institutionen werden die Subjekte moralisch deformiert. Die logische Konsequenz aus dieser Annahme ist, dass die Transformation der amoralischen ökonomischen Praktiken und Institutionen, ihren Anstoß von politisch-moralischen Praktiken und Institutionen nehmen muss, die bereits als Bedingung der moralischen Bildung der Subjekte existieren. Genau diese Konsequenz zieht auch Kuch aus seiner Analyse und spricht der Politik ein klares normatives Primat gegenüber der Ökonomie und ihrer an demokratischen Gerechtigkeitsprinzipien orientierten Transformation zu (vgl. ebd.: 129).5

Wir möchten hier direkt vorwegnehmen, dass wir grundsätzlich mit Kuchs Analyse und Position sympathisieren. Wie Kuch sind auch wir der Ansicht, dass ökonomische Praktiken und Institutionen einen Einfluss auf die moralische Bildung der Subjekte haben. Und wie Kuch denken auch wir, dass ökonomische Praktiken und Institutionen sich je nach ihrer Ausformung sowohl positiv als auch negativ auf die moralische Bildung der Subjekte auswirken können. Anders als Kuch denken wir allerdings, dass ökonomische Praktiken und Institutionen sich nie ausschließlich negativ oder positiv auf die moralische Bildung der Subjekte auswirken, sondern immer beide dieser Tendenzen beinhalten. Auf den folgenden Seiten dieses Kommentars wollen wir darlegen, warum sich auch für Kuchs Anliegen – der an demokratischen Gerechtigkeitsprinzipien orientierten Transformation der Ökonomie – dieser differenziertere Blick auf die Ökonomie lohnt. Genauer gesagt geht es uns darum aufzuzeigen, inwiefern aus Kuchs Argumentation eine verkürzende Opposition folgt, in der auf der einen Seite die amoralische Sphäre der Ökonomie steht und auf der anderen Seite die moralisch-idealisierte Sphäre der Politik. Diese verkürzende Darstellung, so werden wir im Folgenden argumentieren, erweist sich in zweifacher Hinsicht als problematisch: zum einen ist sie nicht hilfreich zur Analyse relevanter real-politischer Probleme. Zum anderen untergräbt sie den kritischen Einsatzpunkt von Kuchs Analyse, der darin besteht, die ‚moralische Arbeitsteilung‘ zwischen Ökonomie und Politik aufzuheben, die er den liberalen gerechtigkeitstheoretischen Ansätzen attestiert. In einem ersten Abschnitt werden wir hierzu noch einmal rekonstruieren, inwiefern Kuchs zentrale These, dass die ökonomische Sphäre eine sittliche ist, dennoch auf ein gänzlich normatives Primat der Politik gegenüber der Ökonomie hinausläuft. In einem zweiten Abschnitt gehen wir dann genauer auf die genannten problematischen Konsequenzen dieser Darstellung ein.

I. Das normative Primat der Politik – das empirische Primat der Ökonomie

Wie bereits angeführt, lautet Kuchs zentrale These, dass ökonomische Praktiken und Institutionen die moralischen Handlungsdispositionen von Individuen prägen – also das, was Kuch ‚Ethos‘ nennt (vgl. ebd.: 85). Diese Prägung entspricht keiner vollständigen Determinierung der Individuen. Aufgrund dieser Prägung sind die Individuen aber auch nicht als vollkommen autonom zu erachten. Mit Hegels Sittlichkeitstheorie positioniert sich Kuch in der Mitte dieser beiden Extremstandpunkte: Individuen werden geprägt durch die materiellen ökonomischen Umstände, können diese aber gleichzeitig beeinflussen. Kuchs Konzept der Sittlichkeit ist dabei weniger anspruchsvoll als das von Hegel. Er versteht unter Sittlichkeit die „minimalen Stabilitätsbedingungen der Verwirklichung einer demokratischen Gerechtigkeit“ (vgl. ebd.: 19f.). Moralität, stellt Kuch mit Hegel fest, setzt die Kultivierung von Sittlichkeit in diesem Sinne voraus (vgl. ebd.: 112). Ohne Sittlichkeit gehe Moralität das motivationale Element ab und normative Ansprüche würden als bloß äußerliche Befehle wahrgenommen (vgl. ebd.: 85). Damit dies nicht der Fall ist, bedarf es sittlicher Institutionen, die zur Realisierung von Autonomie im Sinne einer demokratischen Selbstbestimmung beitragen (vgl. ebd.: 75). Ökonomische Institutionen als sittliche Institutionen sollen dementsprechend dazu beitragen, Ethosformen zu kultivieren, die demokratische Selbstbestimmung und Gerechtigkeit befördern (vgl. ebd.: 131). Die ökonomische Sphäre wird damit in den Dienst der politischen Sphäre gestellt. Hierin klingt das bereits erwähnte normative Primat der politischen gegenüber der ökonomischen Sphäre (aber auch aller anderen untergeordneten Sphären) an, das für Kuchs Projekt von großer Bedeutung ist (vgl. ebd.: 129).

Gleichzeitig – und hieraus ergibt sich eines der Kernprobleme, das Kuch in den Blick nimmt – kommt der ökonomischen Sphäre aber in moralpsychologischer und lebenspraktischer Hinsicht ein Primat gegenüber der politischen Sphäre zu: Die ökonomische Sphäre hat eine „existenzielle, subjektbildende Prägekraft“, welche der politischen Sphäre weitgehend abgeht (vgl. ebd.: 221). Ökonomische Praktiken und Institutionen formen Individuen und ihre Ansichten zutiefst. Die Annahme einer subjektbildenden Kraft der ökonomischen Sphäre begründet Kuch auf dreifache Weise: Erstens sichern Individuen hier ihre materielle ebenso wie ihre soziale Existenz, zweitens sind sie in der Regel zur Beteiligung an diesen Institutionen genötigt und drittens verbringen sie hier das Gros ihrer Lebenszeit (vgl. ebd.: 153f., 221). Befördert die ökonomische Sphäre keine demokratischen Ethosformen, wirkt sich das auch negativ auf die politische Sphäre aus, so Kuchs Prognose. In diesem Kontext spricht Kuch von der „Ergänzungsbedürftigkeit der politischen Sphäre durch eine sittlich strukturierte Ökonomie“ (vgl. ebd.: 112).6

So nachvollziehbar dieser Befund ist, bleibt in Kuchs Argumentation letztlich unklar, welchen konkreten Einfluss die ökonomische Sphäre auf die Sittlichkeit hat. Ist die ökonomische Sphäre erst durch die politische Sphäre eine sittliche? Oder sind in der ökonomischen Sphäre sittliche Bildungspotenziale vorhanden, die wir in der politischen Sphäre nicht finden können? Wie oben dargestellt, begründen der Zwang, an ökonomischen Praktiken teilzunehmen, sowie die Ermöglichung von materieller und sozialer Teilhabe für Kuch das lebensweltliche Primat der ökonomischen gegenüber der politischen Sphäre. Das spezifische Merkmal der ökonomischen Sphäre ist ihre subjektformierende Kraft als ‚nächste Realität‘ des Menschen, argumentiert Kuch. Wenn das der wesentliche Punkt ist, dann ließe sich aber immer noch sagen, dass in der politischen Sphäre die moralischen Prinzipien und Normen bestimmt und bewertet werden, um dann anschließend in der ökonomischen Sphäre durchgesetzt, „eingeübt“ und zu subjektiven Dispositionen zu werden. Das heißt: Wo moralische Dispositionen eingeübt, die Subjekte moralisch gebildet werden, sagt noch nichts darüber aus, wie der Inhalt moralischer Normen entsteht. Die ökonomische Sphäre besitzt dann ein empirisches Primat gegenüber der politischen, aber zu einer sittlichen Sphäre wird die ökonomische nur mittels der politischen.

Wenn die ökonomische Sphäre nur ein empirisches Primat besitzt, dann liegt die normative Dimension der Bildung ausschließlich in der politischen Sphäre begründet. Hierzu passt, dass Kuch – anders als Hegel – der ökonomischen Sphäre kein spezifisches normatives Bildungspotenzial zuschreibt. Zwar sieht auch Kuch in der ökonomischen Sphäre selbst versittlichende Potenziale, diese seien allerdings „lediglich latente Möglichkeiten“. Zudem stünde diesen ein „sittlichkeitszersetzendes Potenzial“ entgegen (vgl. ebd.: 168f.). Und in ihrer gegenwärtigen Ausformung – so Kuchs Zeitdiagnose, die er in Kapitel 6 seiner Studie ausführt – überwiegt gänzlich das sittlichkeitszersetzende Potenzial der ökonomischen Sphäre. Wenn sich das normative Bildungspotenzial gar nicht aus der Eigenlogik der ökonomischen Sphäre ergibt, wo kommt es dann her?

Es scheint naheliegend, dass die politische die ökonomische Sphäre so reguliert, dass die für sie nützlichen latenten Potenziale kultiviert werden. Wenn die ökonomischen Akteure aber kein Mitspracherecht haben, was für Prinzipien richtig und falsch sind, dann scheint diese Entscheidung aus ihrer Perspektive etwas rein Äußeres, Aufoktroyiertes, ‚Polizeiliches‘ zu sein. Dann aber stellt sich die Frage, inwieweit sich diese Position von den liberalen Gerechtigkeitstheorien unterscheidet, die Kuch kritisiert, weil sie das Verhältnis der ökonomischen und politischen Sphäre als ein rein äußerliches bestimmen. Von Hegel entleiht Kuch einen weiten Polizeibegriff und definiert Polizei als „zwangsbewehrte öffentliche Autorität, die den Markt ordnungspolitisch reguliert und sozialstaatliche Umverteilungsmaßnahmen durchführt“ (vgl. ebd.: 171f.). Kuch zufolge stellt das eine bloß äußerliche Einhegung des Marktes durch die Politik dar, die das Ethos der handelnden Akteure unberührt lässt: „Sie bildet die Akteure nicht. Die Individuen werden durch bloß polizeiliche Strategien der Einhegung nicht darauf vorbereitet (...), eine vernünftige Einsicht in die Allgemeinheitsansprüche (...) zu erlangen“ (ebd.: 174). Ihnen ginge deswegen weiterhin die Motivation für moralisches Handeln ab.

Um dem naheliegenden Einwand zu entgehen, dass das normative Primat der Politik selbst auf ein polizeiliches Vorgehen hinausläuft, fordert Kuch, das die politische und die ökonomische Sphäre – vermittelst der Bildung – „spiralförmig“ ineinandergreifen (vgl. ebd.: 133). Das impliziert, dass die Ökonomie nicht gänzlich von der Politik usurpiert wird und die Unterschiede dieser Sphären berücksichtigt werden (vgl. ebd.: 129). Entsprechend betont Kuch, dass die demokratische Willensbildung nicht das Kernprinzip der Sphäre der ökonomischen Kooperation sein kann (vgl. ebd.: 130):

Mit dieser Differenz geht aber eine grundsätzliche Spannung einher, ja potenziell ist damit sogar eine Unterwanderung der anderen Sphären gesetzt – insbesondere des Anspruchs der politischen Sphäre, das ‚Erste‘ zu sein, also die wirksame Autorität über die Ausgestaltung der untergeordneten Sphären ausüben zu können. Daher müssen die untergeordneten Sphären so ausgestaltet sein, dass sie, trotz ihrer Unterschiedenheit, den Anforderungen der politischen Sphäre zuträglich und förderlich sind. Und dies läuft im Kern auf nichts anderes hinaus als die Notwendigkeit eines spiralförmigen Bildungsprozesses. (Kuch 2023: 129)

Wie sich dieser spiralförmige Bildungsprozess konkret darstellt, bleibt allerdings sehr abstrakt. Insbesondere wie das spiralförmige Ineinandergreifen innerhalb der hierarchischen Sphärendifferenz in der Praxis aussehen könnte:

„Der Prozess der Bildung hat eine gewisse Zirkelstruktur, die sich im Fall des Gelingens in eine fortschreitende (und doch stets umstrittene) Spiralbewegung übersetzt, durch die sich die sittliche Bildung im Gesamtarrangement der gesellschaftlichen Einrichtungen im Lauf eines historischen Lernprozesses potenziell verbessert.“ (Kuch 2023: 127)

Grundsätzlich scheint Kuch die Eigenlogik der ökonomischen Sphäre auf ihre quantitative Eigenschaft zu reduzieren: Menschen verbringen hier den Großteil ihrer Lebenszeit. Was moralisch richtig und falsch ist, ergibt sich aber nicht aus den ökonomischen Praktiken und Institutionen selbst. Die Annahme, dass diese Frage ausschließlich in der politischen Sphäre entschieden wird, erweist sich allerdings als problematisch, sowohl für die Binnenlogik von Kuchs Argumentation als auch für die Analyse relevanter real-politischer Themenkomplexe.

II. Die moralische Ambivalenz von Politik und Ökonomie

Rekapitulieren wir noch einmal: Kuch argumentiert, dass Subjekte zu moralischen Subjekten gebildet werden, indem sie moralische Normen und Prinzipien konkret praktizieren und einüben. Die Ökonomie als ‚nächste Realität‘ des Menschen beeinflusst die moralische Bildung der Subjekte maßgeblich. Wenn in der ökonomischen Sphäre nicht die „Gymnastik des Allgemeinen“ trainiert wird, dann wirkt sich das auch negativ auf die anderen Sphären aus (vgl. ebd.: 180). Zur Durchsetzung der moralischen Normen und Prinzipien ist es daher notwendig, so Kuchs kritischer Einsatz, dass die Subjekte als ökonomische Subjekte moralisch gebildet werden. Diese Annahme impliziert, dass die politische Sphäre (oder eine andere Sphäre) allein nicht hinreichend für die moralische Bildung der Subjekte ist. Hierin liegt der zentrale Unterschied zwischen Kuchs Position und den liberalen Gerechtigkeitstheorien, die Kuch zufolge die moralische Bedeutung der Ökonomie verkennen.

Kuchs Zeitdiagnose lautet nun, dass ökonomische Praktiken und Institutionen in ihrer gegenwärtigen Ausformung einen ausschließlich negativen Einfluss auf die moralische Bildung der Subjekte haben. Und dieser negative Einfluss wiegt Kuch zufolge so schwer, dass auch die politische Sphäre und die moralische Bildung der Subjekte insgesamt davon betroffen sind. Hieraus ergibt sich für Kuch die Notwendigkeit einer an demokratischen Gerechtigkeitsprinzipien orientierten Transformation der Ökonomie. Wenn diese Transformation kein leeres Versprechen, sondern eine realistische Utopie sein soll, dann stellt sich die Frage, wodurch und von wem sie angestoßen wird. Kuchs Argumentation lässt auf diese Frage, ausschließlich die folgende Antwort zu: nur die politischen Subjekte, die hinreichend moralisch gebildet sind, können die Notwendigkeit dieser Transformation einsehen und sie anstoßen. Genau hier zeigt sich ein binnenlogisches Problem von Kuchs Argumentation: während die Bedeutung der moralischen Bildung der ökonomischen Subjekte den kritischen Einsatzpunkt seiner Argumentation darstellt, läuft diese dennoch darauf hinaus, dass die moralische Bildung der politischen Subjekte die moralische Deformation der ökonomischen Subjekte überwiegt. Damit bleibt die Frage offen, warum die moralische Bildung der ökonomischen Subjekte von so zentraler Bedeutung ist, wenn ihre moralische Deformation letztlich durch die moralische Bildung der politischen Subjekte ausgeglichen werden kann.

Neben diesem binnenlogischen Problem, erweist sich Kuchs Analyse auch hinsichtlich bestimmter real-politischer Themenkomplexe als problematisch. Zunächst einmal stellt sich die Frage, ob das politische Subjekt nicht selbst moralisch korrumpiert ist durch Praktiken, die in der politischen Sphäre etabliert sind. Wenn dem so ist, spricht Vieles dafür, dass das politische Subjekt gar nicht in der Lage ist, die ökonomische Sphäre im Sinne eines demokratischen Ethos zu regulieren. Darüber hinaus ergibt sich das Problem, dass eine ökonomische Sphäre, die der politischen Sphäre untergeordnet ist, von dieser durchaus auch in einem undemokratischen Sinne instrumentalisiert werden kann. Wie soll also verhindert werden, dass die Politik die ökonomische Sphäre korrumpiert und für eigene, undemokratische Zwecke missbraucht?

Kuchs These, dass Konkurrenzverhältnisse innerhalb gegenwärtiger Marktstrukturen einem demokratischen Ethos abträglich sein können, ließe sich auch auf die politische Sphäre übertragen. Politiker:innen stehen zueinander im Wettbewerb und bekämpfen einander zuweilen mit harten Bandagen. Dies geschieht nicht immer notwendigerweise im Sinne eines demokratischen Ethos. Darüber hinaus verwendet nicht jede:r Politiker:in die ihnen anvertraute Amtsgewalt im Sinne der Bürger:innen, wie Fälle von Vetternwirtschaft und andere Formen korrupten Verhaltens immer wieder zeigen.7 Die Wirtschaftswissenschaftlerin Julia Cagé hat den Einfluss von Spenden auf die Politik empirisch untersucht. Sie sieht vor allem in durch Unternehmensspenden finanzierten Wahlkampagnen ein korrumpierendes Instrument: „Money still occupies center stage in politics; democracy means who pays wins“.8 Camila Vergara vertritt die These, dass die meisten modernen liberalen Demokratien zunehmend oligarchisch geworden seien, und dass diese Entwicklung unabhängig von den individuellen Akteuren vonstatten ginge, die gerade die Regierung bildeten. Deswegen spricht sie von „systemic corruption“.9 Dem ließe sich zwar entgegenhalten, dass diese Praktiken kontingent sind und die politische Sphäre idealtheoretisch durchaus in der Lage sei, die ökonomische Sphäre im Sinne eines demokratischen Ethos einzuhegen. Allerdings ließe sich das Gleiche auch über die ökonomische Sphäre behaupten. Voraussetzung für Kuchs Argument scheint eine sehr idealisierte Darstellung der politischen Sphäre zu sein, in der alle auf faire Weise über ihre politische Stimme partizipieren können.

Während Kuchs idealisierte Darstellung der politischen Sphäre im Kontext demokratischer Rechtsstaaten noch plausibilisiert werden könnte, erweist sie sich als weniger hilfreich, sobald es um die Frage der Transformation ökonomischer Praktiken und Institutionen geht, die Teil und Ausdruck globaler (Macht-)Verhältnisse sind. Hier geht es nicht um die Frage, wie die im Politischen bereits durchgesetzten demokratischen Gerechtigkeitsprinzipien auch im Ökonomischen wirksam werden können. Vielmehr hat man es hier mit dem Problem zu tun, dass sich die politischen Institutionen, die die Durchsetzung demokratischer Gerechtigkeitsprinzipien erwirken könnten, zuallererst ausbilden müssen. Verortet man wie Kuch das normative Bildungspotenzial ausschließlich in der politischen Sphäre, beraubt man sich im Kontext globaler ökonomischer (Macht-)Verhältnisse der theoretischen Grundlage, um die an demokratischen Gerechtigkeitsprinzipien orientierten Transformation der (globalen) Ökonomie als realistische Utopie zu begründen.

Hier ließe sich natürlich einwenden, dass eine derartige Transformation auch unrealistisch ist und keiner theoretischen Begründung bedarf. Wenn es einem allerdings um eine Theorie geht, die begründen soll, warum nationalstaatliche Politiken nicht die Lösung der Probleme sein können, die im Kontext globaler ökonomischer (Macht-)Verhältnisse auftreten, bedarf es einer differenzierteren Analyse von Politik und Ökonomie. Anstatt einer verkürzenden Opposition, in der auf der einen Seite die amoralische Sphäre der Ökonomie steht und auf der anderen Seite die moralisch-idealisierte Sphäre der Politik, müsste eine solche Analyse die jeweils fördernden und zersetzenden moralischen Bildungspotenziale beider Sphären untersuchen. Das würde implizieren der Ökonomie mehr und der Politik weniger moralisches Bildungspotenzial zuzusprechen als Kuch das tut und die moralische Ambivalenz beider Sphären anzuerkennen. Die moralischen Bildungspotenziale der wirklichen Welt lassen sich nämlich nicht ausschließlich einer einzigen Sphäre zuordnen – genau das ist auch der verdienstvolle Einsatzpunkt von Kuchs Studie, an dem er in seiner Argumentation selbst hätte konsequenter festhalten sollen.


  1. Kuch 2023, S. 180.↩︎

  2. Kuch 2023, S. 180.↩︎

  3. Vgl. Kant, Immanuel (1788/1913): Kritik der praktischen Vernunft, Kant's gesammelte Schriften, Band V, Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, §7 Anmerkung.↩︎

  4. Vgl. hierzu Kuch 2023, Kap. 6.↩︎

  5. In Abgrenzung zu den von Kuch kritisierten liberalen gerechtigkeitstheoretischen Ansätzen, geht es Kuch bei der Transformation der Ökonomie nicht bloß um die externe Einhegung, sondern um die interne Umstrukturierung der ökonomischen Praktiken und Institutionen. Siehe hierzu Kuch 2023, Kap. 7 und 8.↩︎

  6. Hieraus leitet Kuch auch eine der zeitdiagnostischen Nebenthesen seiner Analyse ab: Die Ausbreitung rechtspopulistischer Ressentiments in der Folge neoliberaler Politiken ab den 1970er-Jahre gehe auf ebenjene mangelhafte „Verzahnung der ökonomischen und politischen Sphäre“ (Kuch 2023: 17) zurück.↩︎

  7. Vgl. Ceva, Emanuela/Ferretti, Maria Paola (2021): Political Corruption. The Internal Enemy of Public Institutions, Oxford University Press.↩︎

  8. Cagé, Julia (2020): The Price of Democracy. How Money shapes Politics and what to do about it, Harvard University Press, S. 1.↩︎

  9. Vgl. Vergara, Camila (2020): Systemic Corruption. Constitutional Ideas for an Anti-Oligarchic Republic, Princeton University Press.↩︎