Marktsozialismus als realistische Utopie
Market Socialism as Realistic Utopia
Zusammenfassung: Das Buch „Ökonomie, Demokratie und liberaler Sozialismus“ von Hannes Kuch verbindet auf äußerst anregende Weise Rawlsianische Gerechtigkeitstheorie mit Kritischer Theorie, um für einen Marktsozialismus mit stark wirtschaftsdemokratischer Ausrichtung zu argumentieren. Diese Einleitung gibt einen Überblick über die Artikel in diesem Schwerpunkt.
Schlagwörter: John Rawls, Kritische Theorie, Wirtschaftsdemokratie, Marktsozialismus, Realistische Utopie
Abstract: The Book „Economy, Democracy, and Liberal Socialism“ is a milestone in combining Rawlsian thought and critical theory in order to argue for market socialism with a strong form of economic democracy. This introduction gives an overview over the articles in the special issue discussing this proposal.
Keywords: John Rawls, Critical Theory, Economic Democracy, Market Socialism, Realistic Utopia
Mit seinem Buch „Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus“ legt Hannes Kuch die gegenwärtig umfangreichste und tiefgreifendste Studie zur ökonomischen Gerechtigkeit und, so muss man ergänzen, zur ökonomischen Sittlichkeit vor. Ein zentraler Punkt von Kuch besteht darin, dass eine stabile und lebendige Demokratie auf eine Demokratisierung der Wirtschaft angewiesen ist, die als Schule für ein republikanisches Selbstbewusstsein dienen muss. Der so einfache wie einleuchtende Grund dafür lautet letztlich, dass die Menschen in subjektivitäts- und identitätsformender Hinsicht vor allem Wirtschaftsbürger:innen und nur in viel geringerem Umfang auch Staatsbürger:innen sind. Ein wirklich republikanisches Selbstverständnis als Staatsbürger:innen erfordert daher eine Übung in Demokratie der Menschen als Wirtschaftsbürger:innen. Kuch zufolge kann letztlich nur ein liberaler Marktsozialismus dieses Kunststück einer sittlichen Bildung der Menschen vollbringen, weswegen unser politisches und Wirtschaftssystem in diese Richtung transformiert werden muss.
Nicht nur in seiner zugleich praktischen und theoretischen Perspektive und Ausrichtung ist die Arbeit innovativ, sondern auch dadurch, dass es ein bedauerliches Schisma überwindet. Es gibt in der politischen und Sozialphilosophie eine für progressives Denken wenig hilfreiche Distanz zwischen an der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls und der durch ihn angestoßenen Diskussion orientierten Theoretiker:innn auf der einen und kritischen Theoretiker:innen auf der anderen Seite. Kuch macht sehr deutlich, dass die sozialliberale Gerechtigkeitstheorie im Anschluss an Rawls und die Kritische Theorie sehr viel mehr miteinander gemein haben, als sehr viele Denker:innen glauben, die die eine oder andere Seite recht pauschal und vorschnell ablehnen. Kuch zeigt beispielsweise die hegelianischen Wurzeln in Rawls und die gerechtigkeitstheoretischen Grundlagen in der kritischen Tradition auf. Auch wenn er letztlich deutliche Defizite am Rawlsianismus aufzeigt, so geschieht dies dennoch aus Sicht einer kritischen Theorie, die ihn als wichtige Grundlage der eigenen Theoriebildung anerkennt. Das ist ein echter Fortschritt und weist in die richtige Richtung für zukünftige Theoriebildungen.
Im Jahr 2023, noch vor Veröffentlichung des Buches, hat in Dortmund ein Workshop zum bereits fertigen Manuskript stattgefunden, an dem zahlreiche interessierte Wirtschaftsphilosoph:innen teilgenommen haben. Sechs von ihnen haben sich bereit erklärt, zu dem vorliegenden Zeitschriftenschwerpunkt zur Diskussion der Thesen und Argumente von Kuch beizutragen. Den Aufschlag macht der Kommentar Die „Gymnastik des Allgemeinen“: (moralische) Bildung in der ökonomischen Sphäre von Niklas Dummer, Johanna Müller und Lea Prix. Die Autor:innen prüfen kritisch die Gegenüberstellung von Politik und Ökonomie, die ihrer Ansicht nach bei Kuch zu einseitig moralisierend ausfällt. Der zweite Kommentar Demokratischer Fortschritt und kollektive Bildung. Hannes Kuch zwischen pragmatischem Hegelianismus und realer Utopie stammt von Charlotte Baumann. Sie hinterfragt die normativen Grundlagen des Ansatzes von Kuch und vermutet Zirkularität, weil die Voraussetzungen des demokratischen Ideals nicht explizit werden, was eine dystopische Gefahr mit sich bringt. Timo Jütten hat den dritten Kommentar Konkurrenz, sittliche Pathologien und Marktsozialismus beigetragen. Er untersucht, ob die Überlegungen von Kuch angemessen sind, um schädliche und in einen Autoritarismus führende Formen des Wettbewerbs und Statuskampfes zu unterbinden. Der vierte Kommentar Kapitaleigentum, Ausbeutung und Marktethos von Simon Derpmann diskutiert, ob es für die Zwecke von Kuch tatsächlich eines Marktsozialismus bedarf oder ob auch eine Eigentumsdemokratie hinreicht, zumal sie größere Freiheitspotentiale besitzt. In seiner Replik Sittlichkeit, liberaler Sozialismus und die Frage der Transformation: Eine Erwiderung würdigt Hannes Kuch die Kommentare und vertieft seine Argumentation. Der Text lässt sich auch gut als Zusammenfassung der Kernthesen und Positionierung von Kuch lesen.
Angesichts gegenwärtiger politischer Entwicklungen erscheinen die hier vorgestellten Überlegungen vielleicht noch einmal in einem besonderen Maße als auf unrealistische Weise utopisch. Das sind sie jedoch nicht und sie erscheinen nur so, wenn man den politischen Realismus auf einen sehr kurzfristigen politischen Zeithorizont festlegt. Mittel- und erst recht langfristig betrachtet sind die gegenwärtig zu beobachtenden Verwerfungen offensichtlich Ausdruck einer tiefgreifenden Krise der liberalen Demokratie und des Kapitalismus. Es zeigt sich immer mehr, dass der philosophisch erreichte zutiefst egalitäre Humanismus und die gegenwärtigen Produktionsverhältnisse sowie die politischen Strukturen in einem eklatanten Widerspruch zueinanderstehen. Das ist die Ursache der gewaltigen politische Verwerfungen, die wir bereits erleben und die noch auf uns zukommen. Um ein immer stärkeres Abgleiten in Autoritarismus und Barbarei verhindern zu können, bedarf es einer realistischen Utopie darüber, wie die reflektierten ethischen Überzeugungen politische sowie wirtschaftliche Realität werden können. Kuch hat seine Version dieser realistischen Utopie vorgeschlagen und damit einen Meilenstein für progressive Bewegungen erreicht.