Einleitung: Jenseits des Individuums und über die Zeit hinweg – Intergenerationelle Perspektiven in der Ethik
Introduction: Beyond the individual and across time – intergenerational perspectives in ethics
Zusammenfassung: Sei es der angemessene Umgang mit der Klimakrise, die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme oder das richtige Handeln angesichts eines kolonialen Erbes – in jüngster Zeit wird eine Vielzahl von Themen vermehrt in öffentlichen, aber auch akademischen Debatten aufgegriffen, die ethische Fragen der Generationenbeziehungen auf die Tagesordnung setzen. Innerhalb der Ethik überwiegen jedoch bis heute Ansätze, die durch eine Fokussierung auf das Individuum sowie die Gegenwart gekennzeichnet sind und dementsprechend nur bedingt geeignet sind, derlei Frage- und Problemstellungen zu adressieren. An dieser Stelle setzt der vorliegende Schwerpunkt Intergenerationelle Perspektiven in der Ethik an, dessen inhaltliche Diskussion der nachstehende Einleitungsbeitrag eröffnen soll. Dazu wird zunächst die Debatte rund um Intergenerationalität im ethischen Diskurs skizzenhaft umrissen. Darauf folgt ein Impuls zum Generationenbegriff, der in der gesamten Diskussion eine zentrale Stellung einnimmt. Im Anschluss werden das Ziel und die Anlage des Schwerpunkts beleuchtet, bevor abschließend ein kurzer Überblick über die sechs Schwerpunktbeiträge gegeben wird.
Schlagwörter: Intergenerationelle Ethik, Generationenbegriff, Kollektivität, Zeitlichkeit
Abstract: Irrespective of whether the appropriate means of addressing the climate crisis, the future of social security systems or the right actions in the face of a colonial legacy are discussed – a number of topics have been increasingly taken up in recent public and academic debates, placing ethical questions relating to intergenerational relationships at the forefront of the agenda. However, within the field of ethics, approaches that are characterized by a focus on the individual and the present – and that are therefore only partially suitable for addressing such questions and problems – still dominate the field. This observation serves as a starting point for the topical collection on intergenerational perspectives in ethics. The following introductory article aims to initiate discussion on this topic. To this end, we outline the debate on intergenerationality in the ethical discourse, in a first step. After this, we provide a short introduction to the concept of generation, which plays a central role in the overall discussion. Afterwards, the aim and structure of this topical collection are highlighted, before concluding with a brief overview of the six topical contributions.
Keywords: Intergenerational ethics, concept of generation, collectivity, temporality
Ob Fragen über den angemessenen Umgang mit der Klimakrise, die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme oder das richtige Handeln angesichts eines kolonialen Erbes – in jüngster Zeit rückt eine Vielzahl von Themen vermehrt in den Blick öffentlicher Debatten, die ethische Fragen der Generationenbeziehungen auf die Tagesordnung setzen. Auch innerhalb der philosophischen Debatte zeichnet sich diese Tendenz deutlich ab: Angestoßen vom Bericht des Club of Rome Die Grenzen des Wachstums (1972) sowie dem Brundtland-Report (World Commission on Environment and Development 1987) stellt insbesondere Hans Jonas‘ einflussreiches Werk Das Prinzip Verantwortung (2020 [1979]) einen wichtigen Ausgangspunkt für die philosophische Debatte zu Zukunftsthemen dar. So werden spätestens seit Veröffentlichung und Diskussion dieses Werks Fragen bezüglich einer Verantwortung für zukünftige Generationen (Birnbacher 1995) beziehungsweise danach, was wir künftigen Generationen schulden (K. Meyer 2018), auch explizit diskutiert und immer wieder (re)artikuliert. Zugleich reichen die damit in den Blick genommenen „Zeithorizonte des Ethischen“ (Rehmann-Sutter und Pfleiderer 2006) keineswegs nur in die Zukunft. Vielmehr umfassen sie auch die Vergangenheit und schließen etwa im Sinne einer historischen Gerechtigkeit (L. Meyer 2005) den angemessenen Umgang mit dem Erbe, den Lebensleistungen und der Schuld vergangener Generationen mit ein. Das betrifft einerseits die Verantwortung jüngerer Generationen für das positive Erbe und die Lebensleistungen ihrer Vorfahren, andererseits den angemessenen Umgang mit historischem Unrecht wie der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft oder dem Kolonialismus und einer entsprechenden Schuld samt Fragen der Verantwortung und einer möglichen Wiedergutmachung (Jaspers 2012; Rothberg 2019; Schefczyk 2011).
Gegenwärtig sind es vor allem Fragen der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zwischen früheren, gegenwärtigen und zukünftigen Generationen, also Fragen intergenerationeller (Un)gerechtigkeit (z. B. Tremmel 2012; Gosseries und Meyer 2009), die den Diskurs rund um die Generationenbeziehungen prägen. Besonders prominent zeigt sich das in den Diskussionen rund um die Klimaethik (Birnbacher 2016; Gesang 2011), speziell den Klimawandel (Roser und Seidel 2015) und die Nachhaltigkeit (Ott und Döring 2011) sowie um die Einrichtung beziehungsweise Ausgestaltung politischer Institutionen und sozialer Sicherungssysteme (Gesang 2014; González-Ricoy und Gosseries 2016; Müller-Salo 2021). Aber auch mit Blick auf die innerfamiliären Beziehungen (Betzler und Bleisch 2015; Bleisch 2018; vgl. auch den entsprechenden Schwerpunkt in dieser Zeitschrift 2015) sowie Fragen der Gesundheitsversorgung (etwa Munthe et al. 2020; Koesling und Bozzaro 2022) und der Erziehungs- und Bildungsphilosophie (Ecarius 1998; Brinkmann et al. 2023) gerät das Verhältnis der Generationen in den letzten Jahren zunehmend in den Blick.
Was all diese einzelnen Diskussionsstränge trotz ihrer Verschiedenheit vor Augen führen, ist die Tatsache, dass die konkreten Fragen jeweils eine ethische Reflexion jenseits des Individuums und durch die Zeit hinweg verlangen. Trotz des zunehmenden, auch durch die aktuellen Debatten befeuerten Interesses, Generationenverhältnisse und -beziehungen ethisch zu reflektieren, etablieren sich intergenerationelle Perspektiven in der Ethik jedoch nur langsam. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass schon der damit in Anschlag gebrachte Begriff der Generation selbst nicht eindeutig und teilweise hochgradig umstritten ist. Weil jedoch der, oder genauer: ein Generationenbegriff für intergenerationelle Perspektiven in der Ethik fundamental, ja konstitutiv ist – und zwar ganz gleich ob nun im Bereich der Metaethik, normativen Ethik oder angewandten Ethik – und entsprechend auch für alle in diesem Schwerpunkt versammelten Beiträge eine Rolle spielt, soll er hier überblickshaft und diskussionseinladend Thema sein.
Was ist eine Generation? – Drei Begriffsauslegungen und ihre theoretischen Folgen
Bemüht man sich um eine Begriffsbestimmung von Generation beziehungsweise Generationen, so lassen sich mit Bezug auf die philosophischen und sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzungen im Wesentlichen drei unterschiedliche Auslegungen identifizieren (zur Übersicht: Kertzer 1983; Höpflinger 2012; Tremmel 2012; Costanza et al. 2023). Ein erstes, genealogisches Verständnis von Generationen versteht diese vorrangig im Sinne familialer und verwandtschaftlicher Beziehungen voneinander abstammender Individuen oder Kollektive. Generationen bilden in dieser Lesart gewissermaßen eine „biologische Kette“ (Spitzer 1973, 483; eigene Übersetzung) in Form von Eltern- und Kindschaft, in der eine Generation auf die andere nachfolgt. Die zweite, chronologische Ausdeutung von Generationen bezieht sich auf Geburtskohorten. Sie nimmt also, je nach konkreter Interpretation, ihren Ausgangspunkt darin, dass sich Personen, die entweder im selben Jahr oder zumindest in gewisser zeitlicher Nähe geboren wurden, in Generationen stratifizieren lassen (vgl. etwa Strauss und Howe 1991; Tremmel 2012). Insbesondere in medialen Debatten findet sich häufig ein drittes, sozio-kulturelles Verständnis von Generationen, wie es ursprünglich und in besonders prominenter Form von Karl Mannheim beschrieben wurde (Mannheim 1928). Diese Begriffstradition weist spezifischen historischen Erfahrungen und sozio-kulturellen Kontexten eine entscheidende Rolle für das Entstehen von Generationen zu, die bis hin zu Diagnosen von generationenspezifischen geteilten Haltungen, Verhaltensweisen und Einstellungen reichen kann.
Angesichts dieser heterogenen Ausdeutungen überrascht es kaum, dass manche Autorinnen und Autoren ganz grundsätzlich in Frage stellen, inwiefern der Generationenbegriff philosophisch überhaupt einen Mehrwert bieten kann. Die in diesem Zusammenhang formulierte Kritik ist vielgestaltig; sie betrifft neben theoretischen Fragen der Abgrenzung eines tragfähigen Generationenbegriffs (Schröder 2018; Tremmel 2012) methodische Herausforderungen in der (empirischen) Erforschung von Generationen (Kertzer 1983; Smith 2020), aber auch die tatsächliche Verwendungsweise des Generationenbegriffs in öffentlichen Debatten (Schröder 2018; Costanza et al. 2012). Ebenso wird kritisiert, dass ein zu starker Fokus auf Generationen die interne Diversität dieses Kollektivs vernachlässigen kann – und in diesem Sinne grundlegendere moralische Probleme und Ungleichheiten zu verschleiern droht (Butterwegge 2009). Produktiv gewendet können die in diesem kursorischen Überblick aufscheinenden Unterschiede ebenso wie die virulente Kritik jedoch eine Vielzahl von Problemstellungen für die philosophische Auseinandersetzung eröffnen. Anhand der Corona-Pandemie, die sich auch als eine Blaupause für die Aushandlung der moralischen Verhältnisse von Generationen in Krisenzeiten verstehen lässt, lässt sich das beispielhaft illustrieren. Schließlich wurde im Zuge der Pandemie auffallend häufig auf Generationen rekurriert, allerdings mit einiger begrifflicher Unschärfe.
Erstens war zu beobachten, dass sowohl im massenmedialen und politischen als auch im wissenschaftlichen Diskurs variierte und teils changierte, wovon konkret die Rede war, wenn Generationen thematisiert und adressiert wurden. So war manchmal einem eher sozio-kulturellen Generationenverständnis folgend von ‚den Boomern‘ die Rede, gleichzeitig wurden altersgruppenbezogene Generationeneinteilungen vorgenommen, wobei beides teilweise mit Stereotypen verwoben war (vgl. dazu Ellerich-Groppe et al. 2024; Pelizäus und Heinz 2020). Dies wiederum hatte, zweitens, Auswirkungen darauf, wie die moralischen Beziehungen zwischen den Generationen ausgedeutet wurden. Das äußerte sich unter anderem in heterogenen, teilweise einander widersprechenden Vorstellungen davon, was zum Beispiel die Alten legitimerweise von den Jungen erwarten dürfen, was die häufig im Sinne von Altersgruppen verstandenen einzelnen Generationen einander schulden und welche sonstigen moralischen Pflichten zwischen den Generationen bestehen. Gerade in der Rechtfertigung der moralischen Beziehungen hat, drittens, auch eine intergenerationelle Ausdeutung ethischer Konzepte eine relevante Rolle, was sich insbesondere an der Solidarität beobachten ließ. Versteht man diese allgemein als Beitragsleistung oder Inkaufnahme von Kosten innerhalb oder gegenüber einer Gruppe aufgrund einer Identifikation von Gemeinsamkeiten, dann waren alle diese Elemente im Angesicht einer intergenerationellen Krise mit Herausforderungen konfrontiert (Prainsack und Buyx 2016; Ellerich-Groppe 2023; Ellerich-Groppe et al. 2024). Denn neben der Frage nach dem solidarischen Subjekt und Objekt im Generationenzusammenhang war auch die Frage nicht ohne Weiteres zu beantworten, auf welcher Gemeinsamkeit unterschiedliche Generationen miteinander oder eine Generation gegenüber der anderen solidarisch sein sollen (vgl. dazu Ellerich-Groppe et al. 2020; Ellerich-Groppe et al. 2024). Damit eng verknüpft ist, viertens, das Verhältnis von inter- und intragenerationellen Beziehungen auszuloten, unter anderem deshalb, weil Ansprüche intergenerationeller Gerechtigkeit mit intragenerationeller, konkret etwa internationaler, Gerechtigkeit kollidieren können (Lumer 2014; vgl. auch von Negenborns Beitrag in diesem Schwerpunkt), wie es während der Corona-Pandemie etwa im Zusammenhang mit den Diskussionen über eine faire intergenerationelle und/oder internationale Impfstoffverteilung zu beobachten war.
Anhand der Corona-Pandemie und der vier angeführten Aspekte zeigt sich beispielhaft, dass sich mit einem intergenerationellen Blick eine Querschnittsperspektive eröffnet: Die einzelnen Frage- und Problemstellungen rund um intergenerationelle Beziehungen und Verhältnisse sind miteinander verschränkt, die Sphären intergenerationellen Zusammenlebens müssen deswegen stets ins Verhältnis zueinander gesetzt werden (Müller-Salo 2022). Diese wenigen Anmerkungen vermögen zu illustrieren, welchen Mehrwert ein stärkerer Fokus auf Generationenbeziehungen bieten kann und welche Herausforderungen sich dabei stellen. Unterstreichen lässt sich dieser Punkt noch einmal mit Blick auf die zwei in intergenerationellen Perspektiven zusammenlaufenden und für sie konstitutiven Dimensionen der Kollektivität und der Zeitlichkeit.
Denn zum einen ist allen intergenerationellen Ansätzen gemein, dass sie den Blick auf Verhältnisse jenseits des Individuums lenken (Sturn 2020). Auch wenn mitunter betont wird, dass die entscheidenden moralischen Akteur*innen letztendlich die Individuen sind und bleiben (K. Meyer 2018; Herstein 2009), wird mit dem Generationenbegriff unweigerlich das Verhältnis von einem Individuum zu einem mindestens imaginierten Kollektiv thematisiert. Daran anschließend ergeben sich etwa Fragen, wie das Verhältnis von individueller und kollektiver Verantwortung zu begründen ist, inwiefern es kollektive Intentionen oder Identitäten überhaupt geben kann oder welcher Status (Generationen-)Kollektiven insgesamt zugewiesen werden kann. Zum anderen überwinden diese Perspektiven einen ethischen Präsentismus und weiten den Blick zeitlich, indem sie neben der Gegenwart auch die Zeithorizonte der Vergangenheit und Zukunft miteinbeziehen und miteinander verschränken. Dadurch ergänzen sie die in ethischen Diskussionen dominante synchrone Perspektive um eine diachrone. Nicht ohne Grund werden Generationen mitunter im Sinne einer „gesellschaftliche[n] Regelung von Zeitlichkeit“ (Matthes 1985) gelesen. Dabei verbinden sich mit dem Generationenbegriff – um einen rund zehn Jahre alten Schwerpunkt in der Zeitschrift für Praktische Philosophie aufzugreifen – „[n]eue Zugänge zur Zeitlichkeit des Menschen in der Ethik“ (Schweda und Bozzaro 2014), die auch jenseits intergenerationeller Perspektiven fruchtbar sein können.
Ziel und Anlage des Schwerpunkts
Hier allerdings interessiert vor allem, ob und wenn ja welche wertvollen Einsichten ein Blick auf die Generationen und ihre Beziehungen liefern kann. Der Mehrwert eines stärkeren Fokus auf intergenerationelle Perspektiven in der Ethik kann jedoch nur dann hervorgebracht werden, wenn sie selbst mit all ihren Herausforderungen zum Gegenstand philosophischer Reflexion erhoben werden. Der vorliegende Schwerpunkt soll zu einer Auseinandersetzung mit diesen Potenzialen und Herausforderungen beitragen. Grundsätzlich sollen dabei im Weiteren Fragen aus vier Bereichen zur Sprache kommen.
Ein erster Bereich adressiert die Definition, die Wahrnehmung und das Verhältnis der Generationen. Dazu zählen Fragen nach der Beschaffenheit von Generationen und wie Generationen aus philosophischer Perspektive (besser) verstanden werden sollten. Dabei spielt etwa eine Rolle, wie sich Beziehungen zwischen Generationen, ihre fundierenden normativen Grundlagen und weitere intergenerationelle moralische Ansprüche und Verpflichtungen begründen lassen.
Die intergenerationelle Ausdeutung von ethischen Begriffen und Konzepten bildet einen zweiten Themenblock, in dem es die Anwendbarkeit von Begriffen wie Gerechtigkeit, Solidarität, Nachhaltigkeit, Verantwortung und Sorge vor dem Hintergrund einer intergenerationellen Perspektive zu diskutieren gilt. Ein Beispiel für eine relevante Fragestellung mag hier die nach der Ausdehnung kontraktualistischer Theorien auf intergenerationelle Perspektiven sein sowie diejenige, was ein gutes intra- oder auch intergenerationelles Leben auszeichnet.
Die verschiedenen Anwendungsbereiche, in denen intergenerationelle Perspektiven relevant werden, klangen bereits an. Und tatsächlich sind die Fragen, welche Probleme aus einer intergenerationellen Perspektive in spezifischen Bereichen sichtbar werden und wie Überlegungen aus einer intergenerationellen Perspektive institutionalisierbar sind, nur zwei relevante Aspekte aus diesem Themenkomplex, die auch im vorliegenden Schwerpunkt direkt und indirekt zur Sprache kommen sollen.
Die theoretischen, methodischen und metaethischen Voraussetzungen intergenerationeller Perspektiven in der Ethik stellen schließlich ein letztes Themenfeld dar, für das der vorliegende Schwerpunkt Impulse liefern soll. Die grundlegende Frage, wie eine Ethik konzipiert sein sollte, damit sie Generationenbeziehungen angemessen berücksichtigen kann, spielt in alle Beiträge dieses Schwerpunkts hinein und verbindet sich je nach Beitrag mit weiteren theoretischen, methodischen und metaethischen Erwägungen, die – man denke an die allgemeinen Einsichten zu Kollektivität und Zeitlichkeit – auch jenseits intergenerationeller Perspektiven das philosophische Nachdenken bereichern können.
Übersicht über die Beiträge
Wie anhand dieses Aufrisses deutlich geworden sein dürfte, eröffnen intergenerationelle Perspektiven in der Ethik eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Frage- und Diskussionsräume. Dies spiegelt sich auch in der Vielfalt der unterschiedlichen Beiträge wider, die im vorliegenden Themenschwerpunkt versammelt sind und mit denen die beteiligten Autorinnen und Autoren die Diskussion zur intergenerationellen Ethik bereichern.
Colin von Negenborn leuchtet im ersten Beitrag unter dem Titel Nachbarn oder Nachkommen? Intra- vs. intergenerationelle Gerechtigkeit aus, wie sich intragenerationelle Ansprüche der Gerechtigkeit mit intergenerationellen perspektivisch vereinen lassen. In dieser Frage spricht sich der Autor gegen eine Erweiterung eines synchronen Blicks auf Gerechtigkeit um eine zeitliche Betrachtungsperspektive aus und plädiert stattdessen für ein inhärent diachrones Verständnis von Gerechtigkeit, insofern sich damit nicht nur motivationale, sondern auch epistemische Probleme adressieren lassen.
Unter der Überschrift Brauchen wir eine neue Ethik für das Anthropozän? Individuelle Verantwortung für kollektive Schäden im Kontext des Klimawandels wirft Marius Bartmann im zweiten Beitrag die Frage auf, ob es angesichts des anthropogenen Klimawandels und der damit verknüpften intra- und intergenerationellen Gerechtigkeitsherausforderungen eine Neuausrichtung ethischer Erwägungen bedarf. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet dabei die klimaethische Streitfrage, inwiefern individuellem Handeln samt den mit den jeweiligen Handlungen verbundenen, jedoch zumeist geringfügigen Emissionen in moralischer Hinsicht Relevanz zukommt. Wissend um die Debatte kollektiver Verantwortungszuschreibungen und die damit verknüpfte Debatte um kollektive moralische Akteurschaft verteidigt der Autor die Zuschreibung individueller Verantwortung.
Im dritten Beitrag mit dem Titel Temporale Vulnerabilität – Janna Thompsons Begründung intergenerationeller Verantwortung und ihre Bedeutung in der Klimaethik rückt Christoph Rehmann-Sutter den in der deutschsprachigen Debatte rund um intergenerationelle Gerechtigkeit bislang wenig berücksichtigten Ansatz Janna Thompsons in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Dabei zeigt er auf, dass sich ihr Konzept temporaler Vulnerabilität eignet, um intergenerationelle Sorge und Verantwortung zu begründen. Wenn Gesellschaften im Sinne Thompsons als diachrones Kontinuum verstanden werden, in dem verschiedene Generationen sich überlappen und miteinander verbunden sind, ergäben sich daraus Pflichten, für das Wohl künftiger Generationen, etwa im Hinblick auf den Klimawandel, zu sorgen.
Alexander Braml thematisiert im vierten Beitrag Die Sorge zur Fürsorge. Eine care-ethische Annäherung an das Motivationsproblem in der Zukunftsethik und stellt damit auf das Problem mangelnder Handlungsmotivation gegenüber zukünftigen Generationen scharf. Wie insbesondere die Klimakrise deutlich vor Augen führt, handeln Menschen nämlich häufig entgegen ihrer selbst artikulierten Wünsche, künftigen Generationen, insbesondere eigenen Nachkommen, eine gute Zukunft zu ermöglichen und die Möglichkeitsbedingungen dafür zu erhalten. Vor diesem Hintergrund fragt der Autor danach, wie sich diese Kluft zwischen dem geäußerten Anspruch und der konkreten Handlungspraxis schließen lässt und schlägt vor, dass hierzu der Grundsatz einer Sorge zur Fürsorge leitend sein kann.
Im fünften Beitrag Moralischer Kontraktualismus und das Nichtidentitätsproblem: die Grenzen nicht-komparativer Lösungen greift D. Valeska Martin mit dem Nichtidentitätsproblem ein bekanntes und vielbeachtetes Problem der intergenerationellen Ethik auf. Jede zukunftsethische Perspektive, so die Problemstellung, hat nämlich zu berücksichtigen, dass die moralischen Abwägungen über und der konkrete Vollzug bestimmter Entscheidungen in der Gegenwart Einfluss auf zukünftige Menschen haben, ja noch radikaler, die konkrete Existenz der jeweils konkreten zukünftig Lebenden davon abhängt. Die Autorin lotet aus, inwiefern sich ein nicht-komparativer kontraktualistischer Ansatz eignet, um diesem Problem zu begegnen und kommt zum Urteil, dass er zur Lösung des Nichtidentitätsproblems für kontraktualistische Erwägungen nur bedingt beitragen kann.
Im sechsten und schwerpunktbeschließenden Beitrag Der intergenerationelle Turnus im irdischen Raum greift Matthias Fritsch die Problematik auf, wie Generationengerechtigkeit konzeptionell adäquat gefasst werden kann. Entgegen einer allein tiefenzeitlichen Strukturierung des irdischen Raums im Sinne des Anthropozäns erläutert er die Notwendigkeit, derartigen Überlegungen die Zeit der Generationen zur Seite zu stellen. Der Autor unterbreitet dabei den Vorschlag, intergenerationelle Gerechtigkeit als abwechselndes An-der-Reihe-Sein bezüglich der Nutzung der Erde zu verstehen, und plädiert damit dafür, einen räumlich-zeitlich übergreifenden Blick auf die Frage nach Generationengerechtigkeit einzunehmen.
Mit ihren unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen bieten all diese Beiträge einen Überblick über das breite Feld der Möglichkeiten intergenerationeller Perspektiven in der Ethik – und bilden damit vielleicht den Ausgangspunkt für weitere philosophische Erkundungen des Querschnittsbegriffs der Generationen und die weitere Diskussion der immer häufiger thematisierten Fragen rund um Intergenerationalität. Wir danken allen Autor*innen für Ihren Beitrag zu diesem Themenschwerpunkt. Unser ausdrücklicher Dank gilt darüber hinaus allen Gutachter*innen, die mit ihren detaillierten und konstruktiven Kommentaren zur Verwirklichung dieses Themenschwerpunkts beigetragen haben. Als Herausgeber dieses Schwerpunkts haben wir darüber hinaus besonders von den Diskussionen mit den Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft intergenerationelle Gesundheitsethik (AiG), Claudia Bozzaro, Christoph Rehmann-Sutter, Silke Schicktanz und Mark Schweda, profitiert, die uns in der Anlage und Begleitung des Schwerpunkts sowie der Formulierung dieser Einleitung eine große Hilfe waren. Dafür danken wir sehr.
Dank gebührt auch der Zeitschrift für Praktische Philosophie, die es überhaupt erst möglich gemacht hat, diesen Schwerpunkt zu gestalten. Besonders danken möchten wir hier Birgit Beck für die konstruktive Zusammenarbeit und schließlich Emma Dierlamm für die Durchsicht dieses Einleitungstextes.
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