Die Sorge zur Fürsorge. Eine care-ethische Annäherung an das Motivationsproblem in der Zukunftsethik

The Concern for Care. A Care-ethical Approach to the Motivation Problem in Future Ethics

Zusammenfassung: Trotz des Wunsches der meisten Menschen, zumindest den eigenen Kindern und Kindeskindern ein lebenswertes Dasein auf dieser Erde zu ermöglichen, können wir wiederkehrend ein diesem Wunsch konträres individuelles und kollektives ökologisches, ökonomisches, politisches und damit gesamtgesellschaftliches Handeln feststellen. Verdeutlichen lässt sich das aktuell besonders mit Blick auf die Klimakrise. Diese Ambivalenz weist auf ein Motivationsproblem hin, mindestens aber auf die Herausforderung, das eigene Wollen auch tatsächlich zu realisieren.
Das Motivationsproblem stellt mithin eines der Kernprobleme der Zukunftsethik dar. Wie lässt sich die Motivation zu menschlicher Sorge über die individuellen Nahbeziehungen hinaus auch zu Gunsten der Menschen späterer Generationen fördern? Der vorliegende Beitrag leistet einen Vorschlag zur Beantwortung dieser Fragestellung. Das lebenspraktische Prinzip der Fürsorge, wie es insbesondere im Bereich der Care-Ethik seit langem Thema ist, bietet in der Verbindung psychologischer und normativer Erkenntnisse erhebliches Potential, zur Überwindung der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit beizutragen. Um auch unserer Langzeitverantwortung gerecht zu werden, hat ein individuell und kollektiv anerkannter und in kognitiven und moralischen Entwicklungsprozessen internalisierter Grundsatz der Sorge zur Fürsorge das Potential, motivationale Kraft zu entwickeln. Um diese These zu untermauern, ordnet der Aufsatz das Fürsorgeprinzip in den zukunftsethischen Diskurs ein und leistet eine systematische Darstellung der Fürsorge als ethisches Prinzip. Im Zusammenspiel aus innerer Entwicklung und äußeren Rahmenbedingungen ist es ein Ziel, Menschen zu befähigen und zu bestärken, Widerstände in ihrem lebenspraktischen Handeln und damit im Lebensvollzug volitional, also willentlich und bewusst, zu überwinden. So besteht die Chance, als gut erkannte Überzeugungen motiviert umsetzen zu wollen. In diesem Wissen können Menschen aus guten Gründen wertebasiert und nachhaltig Verantwortung auch für die Zukunft und damit für fernere, uns unbekannte Generationen übernehmen. Obwohl wir die Bedürfnisse und konkreten Normenvorstellungen kommender Generationen heute noch nicht kennen können, besteht so die Chance, auch künftig gutes Leben auf der Erde zu ermöglichen.

Schlagworte: Fürsorgeethik, Sorge zur Fürsorge, Verantwortung, Motivation, Volition.

Abstract: Despite the desire of most people to enable at least their own children and grandchildren to have a worthwhile existence on Earth, we can repeatedly observe individual and collective ecological, economic, political, and thus societal actions that contradict this wish. This is currently particularly evident in the context of the climate crisis. This ambivalence points to a motivational problem, or at the very least, to the challenge of translating one's intentions into actual actions.
The motivation problem constitutes one of the core issues in future ethics. How can we foster motivation for human concern that goes beyond individual close relationships and includes the benefit of future generations? This article offers a proposal to address this question. The practical principle of care, as it has long been a topic, particularly in the field of care ethics, holds significant potential to bridge the gap between ideals and reality, by integrating psychological and normative insights. To fulfil our long-term responsibilities, a concern for care that is individually and collectively recognized and internalized through cognitive and moral development processes has the potential to unfold motivational force. To support this thesis, the article locates the principle of care within the discourse of future ethics and provides a systematic account of care as an ethical principle. The interplay of internal development and external conditions can empower and encourage individuals to overcome obstacles consciously and wilfully in their practical actions and, consequently, in their life practices – and thus serve as a motivation to implement convictions recognized as good. In this way, individuals can be genuinely convinced to act sustainably for good reasons based on values and to take responsibility for the future, including distant, unknown generations. Although we cannot know the needs and specific normative conceptions of these future generations yet, this approach offers the opportunity to ensure a good life on Earth in the future.

Keywords: Care Ethics, Concern for Care, Responsibility, Motivation, Volition.

1. Ausgangssituation und Problemstellung

Viele unserer heutigen Entscheidungen und Handlungen haben erheblichen Einfluss auch auf diejenigen Menschen, die nach uns auf dieser Erde leben werden. Dem folgend beschäftigt sich die Zukunftsethik allgemein mit Rechten, die zukünftigen Generationen schon heute zukommen können und (moralischen) Pflichten, die wir künftigen Generationen schulden (Meyer 2018; Meyer 2019).1 Dabei stehen allgemein Begriffe, Theorien, aber ebenso praktische Fragen zu intergenerationeller Gerechtigkeit, Zukunftsverantwortung oder Generationensolidarität im Fokus (Birnbacher und Schicha 2001, 20).

Der Fürsorgegedanke hat sich im Zuge der zukunftsethischen Debatten als ein relevantes Konzept entwickelt, um Aspekte einer moralischen Verantwortung für künftige Generationen zu untersuchen. Im Bereich dieser philosophischen und ethischen Debatten sind normative Zukunftsfragen in Bezug auf moralisches Handeln unter Fürsorgegesichtspunkten bei uns Ende der 1970er-Jahre mit Hans Jonas und seinem zukunfts- und verantwortungsethischen Buch Das Prinzip Verantwortung (Jonas 1979) stark in den Fokus gerückt und wurden im Diskurs in vielen Facetten aufgegriffen und erweitert. So gilt es nach Dieter Birnbacher, potentiell moralische und – dem Stand des jeweils aktuellen gesellschaftlichen Wissens folgend – zukunftsfähige Handlungen unter Berücksichtigung eines raum-zeitlichen Universalismus im Sinne der Verantwortung für zukünftige Generationen zu realisieren (Birnbacher 1988, 53-70). Johannes Rohbeck stellt in diesem Zuge in seiner geschichtsphilosophisch begründeten Zukunftsethik den Begriff der Erbschaft in den Mittelpunkt. Dabei greift Rohbeck auf das Bild einer Kette zurück, die zwar gleichzeitig lebende Generationen synchron, jede vergangene und jede kommende Generation aber ebenso diachron verbindet. Das Erbe, das dann von Generation zu Generation weitergegeben wird, besteht aus tradierten Überlieferungen, dem kulturellen Kapital und der (Weiter-)Gabe von Wissen, Erkenntnissen, bestenfalls aber auch Ermöglichungsstrukturen künftiger Handlungsfreiheit (Rohbeck 2013, 144-145; Rohbeck 2020, 216-219).

Auch andere Schwerpunkte innerhalb der einschlägigen Forschungslandschaft beschäftigen sich mit zukunftsethischen Themen unter Fürsorgeaspekten. So argumentiert Carl Friedrich Gethmann diskursethisch. Demnach sind künftige Generationen vom Diskurs zu den sie betreffenden Folgen heutiger Handlungen nicht auszuschließen, nur weil sie de facto nicht an diesem Diskurs teilnehmen können. Wir sind nach Gethmann daher gefordert, die Teilnahme und die artikulierten Ansprüche kommender Generationen zu antizipieren und diesen künftig Lebenden, da ein direkter Austausch unmöglich ist, so Gehör zu verschaffen (Gethmann 2023, 175-177).

Mit dem Fürsorgegedanken im Sinne einer guten Hinterlassenschaft für unsere Nachkommen gehen jedoch erhebliche Herausforderungen und Grenzen einher. Diese beziehen sich einerseits auf die zunehmenden Unsicherheiten mit Blick auf künftige Entwicklungen und Präferenzen kommender Generationen, je weiter wir in die Zukunft blicken, sowie andererseits auf das Problem menschlicher Motivation zur Langfristvorsorge. Vertiefen wir daher diese beiden Aspekte:

(1) Die Begriffe der Verantwortung und Verantwortlichkeit unter dem Aspekt der Fristigkeit klangen bereits an. Bezogen auf die Spätfolgen unserer heutigen Entscheidungen und Handlungen lassen sich drei Zeithorizonte unterscheiden (Rohbeck 2013, 17): Eher kurze Fristen zeigen sich in den zukünftigen Auswirkungen ökonomischer Entscheidungen; längere Fristen zeigen sich in den Auswirkungen des Ressourcenverbrauchs, des weltweiten Bevölkerungswachstums oder der durch uns hervorgerufenen klimatischen Veränderungen; eine sehr lange Frist zeigt sich beispielsweise in der Frage und den Auswirkungen der Endlagerung radioaktiver Abfälle. Rohbeck unterscheidet zur Kategorisierung der Verantwortung in dem gehandelt werden muss, um langfristigen negativen Auswirkungen zu begegnen. Die Wirkfristen fragen nach dem Zeithorizont, innerhalb dessen Entscheidungen und Handlungen Veränderungen hervorbringen. Die Verantwortungsfristen schließlich untersuchen die Verantwortlichkeit für Handlungen und deren Auswirkungen. Dabei können wir für Wirkungen der Handlungen vergangener Generationen nicht verantwortlich gemacht werden, sehr wohl aber für die Auswirkungen unserer heutigen Handlungen in der Zukunft (Rohbeck 2013, 79, 82).2 Die künftigen Folgen unserer heutigen Entscheidungen können wir umso schwieriger vorhersehen, je weiter diese in der Zukunft liegen – weder in ihren exakten Auswirkungen (Klimakrise, Artensterben, technologischer Fortschritt) noch in ihren zeitlichen Realisierungshorizonten. Künftige Generationen sind zwar von Wirkungen unserer Handlungen betroffen, selbst wiederum jedoch nur verantwortlich für ihre eigenen, zukünftigen Handlungen. In welchen Kontexten sich künftiges Leben abspielen wird, vermögen wir aus heutiger Sicht nicht abschließend vorherzusehen. Wir wissen nicht, welche Wertvorstellungen, normativen Richtlinien, Interessen oder auch welches Risikobewusstsein kommende Generationen ausgebildet haben werden oder entwickeln, um ihrerseits Akteure zukunftsfähig verantwortlichen Handelns innerhalb ihrer eigenen Lebensbezüge sein zu können. Um dem Aspekt einer offen zu haltenden Zukunft zu begegnen sowie dem Paternalismusvorwurf zu entgehen, hat sich der Begriff der Vorsorge etabliert (Rohbeck 2013, 90). Künftigen Generationen sollen in diesem Sinne die gleichen Chancen ermöglicht werden, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ein gutes Leben zu führen, was immer die Menschen in 100, 500 oder 1.000 Jahren auch darunter verstehen werden. Diese Ermöglichung und Befähigung firmiert in der Debatte unter dem Capabilities-Ansatz, der wesentlich von Amartya Sen (Sen 2009) und Martha Nussbaum (Nussbaum 2013) vertreten wird. Die Vorsorge im Sinne der Schaffung geeigneter sozialer, technischer und gesellschaftlicher Strukturen, um einen solchen Befähigungsprozess in Gang zu setzen und weiterzutragen, obliegt den jeweils lebenden Generationen und ist kulturell immerwährend an die Nachkommen zu tradieren (Rohbeck 2013, 150).

(2) Neben dieser Unsicherheit über zukünftige Entwicklungen und die konkreten Bedürfnisse zukünftiger Generationen offenbart sich ein Motivationsproblem. Niemand kann von uns verlangen, dass wir zugunsten künftiger Generationen gegen unser eigenes „begründetes Selbstinteresse“ (Sturma 2006, 228) handeln. Um jedoch auch künftig die Chance auf gutes Leben auf der Erde zu ermöglichen, sind die Für- und Vorsorge auf längerfristige Perspektiven und damit im Rahmen der diachronen Verkettung aller Generationen untereinander zu erweitern. Der Gedanke der Fürsorge bezieht sich in seiner ursprünglichen Bedeutung auf die Sorge um die Nächsten, die im synchronen generationenbezogenen Umfeld zu finden sind. Während wir Menschen meist motiviert sind, in unserer Nahumgebung für unsere Nächsten zu sorgen, stellt sich diese Motivation in abstrakter Langfristigkeit, in Unkenntnis der tatsächlichen Auswirkungen sowie der künftigen, damit entfernteren und uns unbekannten Menschen als umso herausfordernder dar (Birnbacher 1988, 173-175).3 Neben dem Aspekt der unmittelbaren Nahbereichsorientierung, sind daher die Blickwinkel der Langfristfürsorge und -verantwortung mit motivationalen Fragestellungen zu verknüpfen.

Diese Motivationsaspekte finden nicht nur in den aktuellen gesellschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen oder technischen Diskussionen ihren Niederschlag, sondern gewinnen gerade im Rahmen ihrer konkreten praktischen Anforderungen an unsere Handlungen erhebliche Bedeutung. Zwar sind Menschen individuell durchaus motiviert, ihren (eigenen) Kindern und Enkeln eine lebenswerte Erde zu erhalten (Meyer 2018, 205).4 Demgegenüber bleibt jedoch festzustellen, dass unsere individuellen, kollektiven und teilweise systembedingten Entscheidungen und Handlungen vielfach schon nicht auf den Aspekt längerer und damit erst recht nicht sehr langer Zukunftsfähigkeit ausgerichtet sind. Um im Feld der Ökologie zu bleiben, lässt sich das am Beispiel der sog. Klimakrise bestens verdeutlichen. So scheinen aller Wahrscheinlichkeit nach die irreversiblen Kipppunkte im Rahmen der globalen Erderwärmung nicht mehr fern zu sein. Diese durch den Menschen beschleunigte Entwicklung lässt erhebliche negative Auswirkungen auf zukünftiges Leben erwarten (Lesch und Kamphausen 2017, 354-361). Ein wirkliches Umsteuern unseres staatlichen, gesellschaftspolitischen und individuellen Handelns ist lokal und global vielfach jedoch nicht zu erkennen. Ursachen für diese Diskrepanz zwischen Wunsch (Erhalt einer enkelgerechten Zukunft) und Wirklichkeit (fehlende langfristige Orientierung im Handeln) lassen sich auf der einen Seite sowohl in Strukturen und Zwängen der externen, uns umgebenden Realität verorten (Petersen und Faber 2001, 58). Auf der anderen Seite liegen diese Ursachen ebenso aber psychologisch betrachtet in uns selbst begründet (Reese 2020, 237-238; Lesch und Kamphausen 2019, 29-32).5

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach einem geeigneten ethischen Konzept, das zwei wesentlichen Forderungen gleichermaßen gerecht werden kann, nämlich gleichzeitig (1) als normativer Unterbau zu dienen, um intergenerationelle Zukunftsfähigkeit theoretisch zu fundieren, sowie (2) den Anspruch zu erheben, individuell und kollektiv lebenspraktisch leitend zu sein und dadurch motivierenden Charakter im täglichen Tun auch unter Zukunftsaspekten zu entfalten. Nachstehend plädiere ich für die Fürsorge als geeignetes Konzept, um zu einem Schließen der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit beizutragen. Praktisch gelebte und verstandene Fürsorge bietet das Potential, individuelle und kollektive Entwicklungsprozesse in Gang zu setzen, die sich in intergenerationeller Sorge positiv auf heutiges nachhaltiges Handeln in Richtung steigender Zukunftsorientierung auswirken können.

Dazu beleuchte ich zunächst den Begriff der Fürsorge und erarbeite systematisch dieses als umfassend lebenspraktisch zu verstehende Prinzip. Darauf aufbauend untersuche ich, inwieweit sich konkret gelebte sowie kognitiv internalisierte und als normativ verstandene Fürsorgeaspekte positiv auf menschliche Motivation und Volition und damit schlussendlich den Willen zur Umsetzung auswirken. Die Verbindung zwischen dem Prinzip der Fürsorge und der Zukunftsethik steht daran anschließend im Mittelpunkt. Sodann unterbreite ich einen Vorschlag zur Annäherung an die Lösung des Motivationsproblems, das eines der Kernprobleme der Zukunftsethik darstellt (Birnbacher 1988, 187-189; Birnbacher und Schicha 2001, 29-30). Dieser Vorschlag soll zur Beantwortung der Frage beitragen können, wie sich die nachhaltige Motivation zu menschlicher Sorge auch über die individuellen Nahbeziehungen hinaus zu Gunsten der Menschen späterer Generationen fördern lässt, sodass sie Bedeutung für unser Handeln erlangt. In diesem Zuge plädiere ich für eine Sorge zur Fürsorge, die psychologische sowie normative Aspekte in sich vereint.

2. Fürsorge als ethisches Prinzip

2.1 Die Bedeutung der Fürsorge

Im Bereich der Fürsorgearbeit des sozialen Zusammenlebens dominiert teilweise bis heute die Auffassung einer im weitesten Sinne gendercodiert spezifischen Aufgabe von Frauen (Schnabl 2005, 11-12). In modernen Gesellschaften und unter Berücksichtigung kultureller oder auch politischer Veränderungen sowie hinterfragter Rollenverständnisse hat sich jedoch mittlerweile der Blick auf die Bedeutungsebenen und Sphären der Fürsorge erweitert (Dingler 2016, 105-110). Im Bereich spezifisch sozialethischer Betrachtungsweisen nimmt das Prinzip der Fürsorge als Reflexionsbegriff der „grundlegenden[n] Gestaltung des (zwischen)menschlichen Miteinanders überhaupt“ (Schönwälder-Kuntze 2022, 92) eine besondere Stellung ein. Ursprünglich basiert das Konzept der Fürsorge in der ethischen Debatte auf den Erweiterungen, die Carol Gilligan seit Ende der 1970er-Jahre zu den moralpsychologischen Studien des amerikanischen Psychologen und Erziehungswissenschaftlers Lawrence Kohlberg vorgenommen hat.6 Kohlberg rückte die Frage in den Mittelpunkt, wie sich individuelles moralisches Handeln im Geflecht von institutionalisierten Mustern, sozialen Rollen und gesellschaftlicher Interaktion verwirklicht (Kohlberg 1996, 21). Dem von Kohlberg vorgestellten Stufenmodell der Motivation menschlichen Handelns und Urteilens folgend entwickeln sich Individuen über hierarchische Stufen moralischen Bewusstseins. Ohne dass alle Menschen in ihrem Leben dabei tatsächlich die höchste Stufe nach Kohlberg erreichen, hat der Mensch im Laufe seiner kognitiven Entwicklung dennoch die Möglichkeit, zunehmend ein moralisches Selbst auszubilden. Universale Werte können dabei erkannt und zur Richtschnur des eigenen, rational und moralisch begründbaren, auch zukunftsfähigen und damit auf Langfristigkeit angelegten Handelns werden (Kohlberg 1981, 10-11; Kohlberg 1996, 14). Carol Gilligan, selbst eine Schülerin Kohlbergs, begründet im Anschluss wesentlich die Kritik7 an diesem Konzept und moniert in und mit ihrer Forschung, dass Kohlberg sich im Rahmen seiner empirischen Untersuchungen als empirische Basis des Stufenmodells nahezu ausschließlich auf männliche Probanden kaprizierte. Eine männlich dominierte Moral fuße demnach auf den Prinzipien des Rechts, der Gerechtigkeit oder der Fairness und diese Überzeugungen dominieren gleichzeitig die gesellschaftlichen Debatten. Die weibliche Entwicklung wird in der Folge mit den Kriterien der männlich konnotierten Moralvorstellungen bemessen und lässt die spezifisch weibliche Sichtweise außer Acht (Gilligan 1996, 208). Die in diesem Sinne als männlich zu bezeichnende Moral wurde erst mit und durch Gilligans Forschungstätigkeit um den spezifisch ‚weiblichen‘ Blickwinkel erweitert. Auch Gilligan geht dabei von einer Entwicklung des Menschen in der Begründung moralischer Urteile aus. Eine weiblich konnotierte Moral fundiert den Studien Gilligans zufolge jedoch ungleich stärker in Fragen sozialer Beziehungen, dem Wissen um wechselseitige Abhängigkeit sowie gegenseitiger Anteilnahme und Fürsorge. Aus der Erkenntnis intersubjektiv-sorgender Verbundenheit und damit menschlicher Fürsorge erst entsteht ein Gefühl und damit letztlich eine Ethik der Verantwortung (Gilligan 1996, 30, 209). Gilligan bezeichnet das Gebot der Anteilnahme, Fürsorge und Verantwortung als „moralischen Imperativ“ (Gilligan 1996, 124). Zwischenzeitlich wurde das Gedankengut fürsorglichen Handelns in den akademischen Diskussionen in Richtung etwa der sozialwissenschaftlich-empirischen Forschung (exemplarisch Sayer 2011) oder der politischen Theorie (exemplarisch Tronto 1993) erweitert.

Heute wird die Fürsorgeethik (Care Ethics) vielfach als eigenständiges ethisches Paradigma bezeichnet, das neben deontologischen und teleologischen Theorien Bestand hat (Alfano 2016, 18; Held 2015, 30-31). In der aktuellen moralphilosophischen Forschung wird die Fürsorge daher als normatives Konzept definiert (Conradi 2016, 53), das affektives Wissen und die Beziehungsebene im Kontext der jeweils konkreten Situation berücksichtigt. In zwischenmenschlichen Begegnungen vollziehen Menschen Handlungen oft unbewusst anhand impliziter Abwägungen. Ergänzend dazu besteht die Möglichkeit, persönlich und sozial höhere Stufen der Moralbegründung zu erreichen, insofern damit ein wechselseitig individueller und kollektiver Wissenszuwachs um dann explizite und bewusste Begründungen moralischer Abwägungen im sozial-praktischen Handeln einhergeht (Hamington 2011, 246; Gatzia 2011, 81). Affektives, situationsbezogenes und in den Kontext zwischenmenschlicher Beziehungen eingebundenes konkretes Tun sowie die Entwicklungsstufen kognitiver, vor allem auch moralischer Begründungsmerkmale dessen, gehen – und das macht die Stärke des Konzepts einer solchen Ethik der Beziehung aus – unabdingbar Hand in Hand. Individuelle und wechselseitig gesellschaftliche Weiterentwicklung ist somit auf Basis alltäglicher Fürsorgearbeit im wei­testen Sinne gerade unter moralischen Aspekten möglich – bei aller Offenheit, die einem solchen Prozess inhärent ist.

2.2 Fürsorge im metaethischen Fokus

In den ethischen Traditionen der Deontologie oder des Konsequentialismus wird gedanklich jeweils von einem abstrakten Moralprinzip ausgegangen sowie ein Sollensanspruch formuliert. Menschliche Handlungen müssen (ex ante reflektiert und ex post überprüfbar) demnach allgemeingültigen Forderungen standhalten. Die Lücke, die im Rahmen dieser Konzepte bestehen bleibt, ist die einer befriedigenden Antwort, warum Menschen motiviert sein können, derart Gesolltes auch zu wollen. Ein abstrakt anmutender Kantischer Vernunftgedanke legitimer Handlungen beispielsweise scheint dafür nicht ausreichend zu sein (Petersen und Faber 2001, 51-53), denken wir gerade an die bereits diskutierte Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit im täglichen Tun. Gelebte Fürsorge als Prinzip menschlichen Handelns aus einem Blick- und Standpunkt im Leben und eingebunden in intersubjektive Beziehungen hat dagegen die Kraft, weniger den Sollens-, als vielmehr den Wollensaspekt und damit Fragen der Motivation und der Volition (den Willen zur Umsetzung) in den Mittelpunkt zu rücken. Dazu setzt die Care-/Fürsorgeethik anders an und gewinnt ihre Kraft aus ihrem konkret lebenspraktischen Charakter: Menschen interagieren und handeln schon immer in sozial aufeinander bezogener und – idealiter – fürsorglicher Praxis. Der Ausgangspunkt ist die basal biologische und damit verschränkt die kulturell vermittelte Grundkonstitution des Menschen (Piaget 1975). Ein so verstandenes Prinzip der Fürsorge, das in menschlicher sozialer Praxis (Vosman und Conradi 2016, 14) anderen gegenüber konkret gelebt und damit nicht bloß abstrakt kategorisiert wird, kann daher niemals unter Gültigkeitsvorbehalt stehen. Sorge, Fürsorge und Verantwortung im Lichte menschlicher Beziehungen stehen zudem im Zentrum kulturellen Denkens und Handelns und leiten Menschen auf diese Weise in sozialen Entscheidungssituationen (Schües 2016, 260). Konkret soziales Handeln kann daraufhin normativ reflektiert und untersucht werden; aus dieser ethischen Reflexion folgt die Bedeutungsübersetzung in Kontexte moralischer Begründungen des Zusammenlebens. Die Verständigung über die normativen und gesellschaftlichen Implikationen, aber auch die Veränderungsanforderungen im Tun, die sich aus einem alltäglich gelebten Prinzip der Fürsorge ergeben können, sind dann potentieller Inhalt eines diskursiven Austauschs zwischen Bürgern, die sich als Bestandteil der Gesellschaft (des kulturellen Kontextes, des politischen Raums, der Demokratie, der Zivilgesellschaft) verstehen. Ohne Rationalität in dieser Diskussion und ohne daraus folgender theoretischer Grundlegung gäbe es gleichzeitig keine Möglichkeit, ein Prinzip der Fürsorge auf geforderte ideale, dabei als dynamisch zu betrachtende lebenspraktische Anforderungen und Entwicklungen gelingenden Handelns hin zu denken.

Im Rahmen des Fürsorgeprinzips als gelebte Praxis entsteht aufbauend bzw. ergänzend zur intuitiv-biologischen, dann erst nachgeordnet normative Verbindlichkeit. Im Wissen um die wechselseitige Verletzlichkeit gilt es, Verantwortung für andere zu übernehmen (Levinas 2022, 30). Handlungsleitung erwächst aus der Möglichkeit eines so erkannten Sinnhorizonts individuell sowie kollektiv und wirkt theoretisch und praktisch auf erfahrungsbasierte Prozesse fortschreitenden Wissens und – im Anschluss an das Stufenmodell Kohlbergs – des moralischen Verständnisses. Somit kann der Spagat zwischen dem tatsächlichen täglichen Tun und dem Wissen um noch abstrakte Anforderungen an unsere Handlungen durch ein praktisch gelebtes und gleichzeitig normativ verstandenes Konzept der Fürsorge gelingen. Der Weg in der bewussten Bewältigung konkret lebensweltlicher Herausforderungen führt dabei durch performatives Tun (Visse 2016, 228) über das Können zum konkreten Wissen. Dieser Weg ist also ein entgegengesetzter im Vergleich zur Deontologie oder zum Konsequentialismus: nicht die theoretische Norm setzt die ethischen Maßstäbe, nach denen praktisch gehandelt werden soll. Vielmehr ergeben sich aus den mehrdimensionalen Erfahrungen eines sinnstiftenden und umfassenden Grundverständnisses gelebter Fürsorge in täglicher Praxis die moralischen Ansatzpunkte, aus denen wir dann diskursiv die Möglichkeiten allgemeingültiger gesellschaftlicher Bekräftigung und Verbindlichkeit herausarbeiten und damit (erst) bewusst verstehen können.

Viele unserer Handlungen mit Zukunftsbezug unterliegen wie angedeutet dem Problem des Nicht-Wissens, also der Tatsache, dass wir bei Entscheidungen maximal den aktuellen Stand des Wissens einbeziehen und allenfalls Prognosen zu künftigen Entwicklungen aufstellen können. Damit gehen erhebliche Komplexitätssteigerungen einher, gerade bezogen auf die langfristigen Auswirkungen unseres Tuns. Fürsorge ist jedoch umfassend zu denken und wirkt in vielen Dimensionen. Große Bedeutung gewinnen damit, bei bewusster Internalisierung eines solchen Konzepts, die zeitliche Dimension und damit auch unter Zukunftsbezug als ‚gut‘ zu verstehende Handlungsweisen. Wie der Terminus des (moralisch) ‚Guten‘ theoretisch gefasst und normativ zu fundieren ist und welche Implikationen der Wunsch mit sich bringt, moralisch ‚gut‘ zu handeln, betrifft Kernfragen der Metaethik, also der Frage nach der Bedeutung moralischer Urteile (Heinrichs und Heinrichs 2016, 9). Untersucht wird im Zuge dessen, was kennzeichnend ist, wenn wir einer Handlung oder gar einem Leben das Prädikat ‚gut‘ zuschreiben. Im hier diskutierten Zusammenhang verstehe ich ein ‚gutes Leben‘ aristotelisch: Zum teleologisch verfassten Ziel eines guten, glücklichen, gelingenden Lebens kommen wir als Menschen demnach potentiell durch tugendhaftes und damit moralisch gutes Handeln (Aristoteles 2013, 1098a, 5-15). Das ‚Wie‘ der Erreichung dieses Ziels (Bordt 2015, 72-73) unterliegt dann dem kollektiven Diskurs in der Frage, was anerkannt als moralisch gut zu verstehende Handlungsweisen sind sowie der individuellen Motivation, Handlungen in diesem Verständnis auch zu verwirklichen.

Eine Facette der vielfältigen metaethischen Debatte unterscheidet internalistische von externalistischen Motivationskonzepten. Internalist:innen vertreten den Ansatz, die Erkenntnis guter Gründe bringe die unabdingbare Motivation mit sich, auch tatsächlich danach zu handeln. Externalist:innen widersprechen dem, nicht zuletzt unter Berufung auf empirisch feststellbare Tatbestände von Willensschwäche oder Irrationalitäten im menschlichen Tun (Wallace 2005, 26-28; Brüntrup und Frick 2022, 2-4). Im Zuge dessen rückt der Begriff der Volition zunehmend in den Fokus auch zeitgenössischer philosophischer Betrachtungen (Frankfurt 2004, 95; Brüntrup 2012, 178-179). Was also motiviert Menschen, als richtig und notwendigerweise als gut anerkannte Gründe auch volitional, damit willentlich, gegen innere und äußere Widerstände tatsächlich in die Tat umzusetzen? Zu klären gelten nachstehend daher die Voraussetzungen, die motivationale und volitionale Gründe liefern, nachhaltig zukunftsfähig und auch in diesem Sinne ‚gut‘ zu handeln.

3. Das Motivationsproblem in der Zukunftsethik

Dieter Birnbacher definiert drei Faktoren, die sich motivational positiv auf zukunftsfähiges menschliches Handeln auswirken: (1) die individuelle und kollektive Überzeugung, die Zukunft tatsächlich beeinflussen zu können, (2) die Tatsache der zeitlichen Nähe sowie (3) die Notwendigkeit der sozialen Nähe zu zukünftig Betroffenen (Birnbacher 1988, 188). Gleichzeitig legt Birnbacher Vorschläge vor, welche praktischen Normen dazu dienen können, in langfristigeren Zeiträumen und zu Gunsten zeitlich weiter entfernter Nachkommen zu handeln. Konkret benennt er die Forderungen, die Gattung Mensch an sich und ein potentiell menschenwürdiges Dasein künftiger Generationen nicht zu gefährden, natürliche Ressourcen zu erhalten oder diese gar zu verbessern (Birnbacher 1988, 202-240). Birnbacher argumentiert dabei aus der Position eines utilitaristisch fundierten Universalismus heraus, an der es auch Kritik gibt: Lebenspräferenzen und die Nutzenmehrung werden von den real handelnden Personen entkoppelt, was eine konkrete Motivation zur Verantwortung erschwert (Sturma 2006, 223-224). Gleichzeitig bestimmen wir, was dereinst unter Nutzenmaximierung zu verstehen sein wird und legen damit heute schon fest, welcher Glücksbegriff auch in Zukunft Geltung haben soll (Rohbeck 2013, 59, 89). Eine Kernforderung des Utilitarismus lautet zudem, den Nutzen und das Glück für möglichst viele Menschen zu maximieren und muss damit auch zeitlich universal, also für alle künftigen Menschen, Geltung beanspruchen. Das schränkt unser eigenes Wohlergehen und unsere Handlungsoptionen massiv ein, insofern wir davon ausgehen müssen, dass es künftig noch deutlich mehr Menschen geben wird, als aktuell auf der Erde leben.

Das Motivationsproblem in Richtung längerfristig fürsorglicher Orientierung bleibt also evident. Es gilt, berechtige Ansprüche und eine selbstbestimmte Lebensweise heutiger und künftiger Generationen einer offenen Zukunft nicht aus dem Blick zu verlieren und damit unserer Verantwortung gerecht zu werden. Wie kann die abstrakt-normative Anforderung der Zukunftsverantwortung in unseren konkreten Handlungen aber Berücksichtigung finden? Wie lässt sich die konkrete Motivation dafür steigern, nicht nur für gute Lebensbedingungen der synchron lebenden, sondern auch für die in mittlerer oder gar ferner Zukunft lebenden Nachkommen zu sorgen? Blicken wir nachstehend daher auf die Untersuchung eben dieser Fragestellungen.

3.1 Motivation

Unter dem Begriff der Motivation verstehen wir allgemein Beweggründe, die Menschen dazu bringen, bestimmte Handlungen, also ein Tun oder Unterlassen, zur Erreichung als positiv empfundener Zustände auszuführen. Die Psychologie unterscheidet zwischen intrinsischer, damit innerer, handlungszentrierter sowie extrinsischer, damit äußerer, anreiz- und ergebniszentrierter Motivation zur Bedürfnisbefriedigung (Benecke und Brauner 2017, 19-22). Neben der Erfüllung rein biologischer Grundbedürfnisse sind nach den aktuellen Forschungen Richard M. Ryans und Edward L. Decis drei darüberhinausgehende psychologische Grundbedürfnisse zu definieren, die den Menschen als auch soziales Wesen kennzeichnen: Handlungsfreiheit, Handlungsfähigkeit sowie soziale Eingebundenheit. Die ergänzende Befriedigung dieser Bedürfnisse ist entscheidend für das Wohlergehen, das innere Wachstum und auch die Integrität von Menschen, insofern sich ein Erlebnis der Übereinstimmung von individuellen Zielen und kollektiven Werten einstellt (Ryan und Deci 2017, 9-19). Gründe und vor allem Begründungen des Handelns bieten Orientierung, kollektiv anerkannte Werte bergen das Potential, als handlungsleitende Begründungen zu dienen und daher auch normative Orientierung des Handelns zu liefern (Steigleder 2005, 272). Hans Joas folgend „entstehen [Werte] in Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz“ (Joas 2017, 10); sie sind unabhängig von individuellen Vorlieben und nicht weiter hinterfragbar. Eine nachhaltige Ausrichtung des Handelns, um künftigen Generationen ein irgend geartetes gutes Dasein zu ermöglichen, stellt im Sinne des Erhalts des Lebens auf der Erde sowie der Sicherung einer lebenswerten Zukunft einen Wert an sich dar. Welche Werthaltungen, Interessen oder Vorstellungen des Glücks kommende Generationen künftig jedoch entwickeln, muss offen bleiben.

Die klassischen ethischen Paradigmen enthalten zwar bereits jeweils individuelle, wie ebenso als kollektiv verbindlich zu definierende motivationale Komponenten. So weist die eudämonistische Tugendethik den Weg, Glückseligekeit eingebunden in die Gesellschaft zu erreichen. Die deontologische Ethik fordert den Menschen auf, sich durch Handlungen innerlich nicht mit sich selbst in ein Missverhältnis zu setzen und damit der allgemeinverbindlichen Vernunft Genüge zu tun. Die utilitaristisch-konsequentialistische Ethik schließlich fordert die Ausrichtung vor allem auf kollektive Nutzenaspekte, die über rein individuellen Hedonismus hinausgehen. Dennoch bleibt jeweils die bereits angesprochene Diskrepanz bestehen, dass sich aus dem Sollen erfahrungsgemäß noch nicht zwangsläufig ein Wollen ergibt. Daher steht nach wie vor die Frage8 im Raum, wie Ursachen, individuelle Gründe und Motive, Wünsche, Einstellungen und Emotionen in ihrer konstituierenden Beziehung zu konkreten Handlungen normativ, über die Empirie hinaus also, zu bestimmen sind – beispielsweise in der Ausrichtung auf den Wert der kollektiv anerkannten Zukunftsfähigkeit unserer Handlungen.

Christa Schnabl bezeichnet das Konzept der Fürsorge in anschlussfähiger Definition an das oben ausgeführte Stufenmodell Kohlbergs als „moralisch reife Form des Handelns“ (Schnabl 2005, 456). Dazu formuliert Schnabl drei Pflichtnormen, die im menschlichen Handeln gesellschaftliche Verbindlichkeit beanspruchen: die Liebespflicht, die Tugendpflicht und die Rechtspflicht. Den Wortteil der Pflicht wählt Schnabl jeweils, um das moralische Spektrum der Normen zu verdeutlichen, das in der Wechselseitigkeit der gegenseitigen Verpflichtungen verankert sein muss (Schnabl 2005, 456-473): Die Pflicht zur (Menschen-)Liebe ist durch die allgemeine Sorge für unsere Nächsten gekennzeichnet. Die Tugendpflicht beschreibt die Anforderung an Menschen, über das eigene Wohl hinaus Anteil am Wohlergehen anderer Menschen zu nehmen, um sich gemeinsam dem anzunähern, was als das aristotelische ‚gute Leben‘ bezeichnet werden kann. Die Rechtspflicht schließlich rückt die Tatsache in den Mittelpunkt, dass jeder Mensch auf Fürsorge angewiesen ist und die (moralische) Verpflichtung zur Hilfe auch strukturell, damit institutionell und rechtlich in der Gesellschaft verankert sein muss.

Somit finden sich in den Definitionen Schnabls konzeptionell bereits die ethischen Forderungen der Tugend, der Pflicht sowie der Nächstenliebe. Um potentiell jedoch wirkliche motivationale Kraft in tätiger Fürsorge zu begründen, sind diese Dimensionen abweichend zu definieren bzw. erweitert zu kategorisieren und um darüberhinausgehende Aspekte zu ergänzen: So ist jeder Mensch als Säugling selbst unabdingbar auf Fürsorge angewiesen, um überleben zu können, ein Beispiel, das hervorragend die Verbindung von „Verbundenheit und wechselseitige[r] Abhängigkeit“ (Dingler 2016, 93) im Rahmen menschlicher Fürsorge illustriert. Fürsorge stellt in dieser Lesart nicht nur einen menschlichen Reflex dar, sondern ist bereits als evolutionäre, biologische und intuitive Grundkonstitution des Menschen vorgezeichnet (Engster 2015, 227, 244). Vieldimensional ergänzt wird diese menschliche Grundkonstitution dann um Aspekte, die mit Begriffen wie Mitleid, Güte oder Rücksichtnahme repräsentiert werden. Diese als biologisch, affektiv und eher noch als persönlich-individuell zu bezeichnenden Facetten fürsorglichen Handelns sind in Erweiterung dessen und in ihrer Begründung dann erst um kollektiv zu betrachtende, weitere normative Aspekte zu ergänzen. Darunter fallen Kriterien der Gerechtigkeit und Fairness, Gedanken der Vorsorge, die sozialethische (Wohlfahrts-)Dimension, wechselseitig die Menschenwürde erhaltende Begegnungen (Weber-Guskar 2016) oder auch Fragen der Verantwortung (Braml 2023, 20). Diese stark normativen Aspekte erfüllen die Funktion, den „Horizont der [gesellschaftlichen] Verantwortung über den Kreis emotionaler Nahbeziehungen hinaus zu erweitern“ (Birnbacher und Schicha 2001, 21). Auf dieser Basis und in einem solchen Verständnis des Fürsorgeprinzips in sozialer Eingebundenheit erst entsteht für Menschen die Möglichkeit, die Notwendigkeit und den Sinn kollektiv begründbaren und damit auch längerfristig zukunftsfähigen Handelns zu erkennen und sich daran auszurichten – und damit mithin die Grundlage für eine entsprechende Motivation.

3.2 Volition als der Wille zur Umsetzung

Um äußere und vor allem innere Hürden und Hindernisse bei der Verfolgung von Zielen zu überwinden, wird menschliche Willenskraft benötigt – die Psychologie spricht hier vom Begriff der Volition (Kuhl 1994, 12-13). Bezogen auf die willentliche Überwindung motivationaler Hürden klang der Begriff in Richtung des normativen Elements, also als gut und richtig anerkannter Handlungsweisen, oben bereits an. Philosophisch hat vor allem Harry Frankfurt den Volitionsbegriff in seinem Konzept der Willensfreiheit ausbuchstabiert (Frankfurt 1971). Demnach verfügt der Mensch über die Möglichkeit, Wünsche zweiter Ordnung (‚second-order-volitions‘, Frankfurt 1971, 10) auszubilden, die sich auf Wünsche erster Ordnung beziehen. In der ersten Ordnung ist der Mensch zwar schon motiviert, Wünsche zu befriedigen. Auf der zweiten Stufe jedoch kommt dann (erst) ein Willensakt (Volition) zum Tragen, der sich auf die erste Ordnung bezieht. Der Mensch wird sich seiner Willensfreiheit bewusst; er kann reflektieren, was er wirklich will und welcher Mensch er sein will. Wenn der Mensch mit ganzem Herzen („wholehearted“, Frankfurt 2004, 95) bei der Sache und sich (ein durchaus normativer Bezug) bewusst im Klaren ist, was er liebt und worum er sich sorgt, besteht Frankfurt zufolge die Möglichkeit zu dem zu gelangen, was ein insofern gelungenes Leben ausmacht (Frankfurt 2004, 68).

Godehard Brüntrup erweitert diese Gedanken auch im Rückgriff auf Peter Bieri um die Notwendigkeit eines narrativen Elements (Brüntrup 2012, 188-189; Bieri 2015, 53-55). Geschichten auf dem Weg zur Selbsterkenntnis und zur Findung des eigenen Selbst entwickeln demnach motivationale Kraft, insofern wir uns stimmige, sinnhafte Erfahrungen unseres eigenen Lebens erzählen können.9 Werte, wie die fürsorgliche Schaffung einer lebenswerten Zukunft für künftige Generationen, bergen motivationales Potential, zu deren Verwirklichung beizutragen. Die Realisierung werteförderlicher Handlungen bedient, neben konkreten Forderungen im Rahmen bloßer Rechte und Gesetze, gesellschaftlich anerkannte positive Narrative. Gleichzeitig tragen die im wahrsten Sinne guten Geschichten, die wir uns selbst und anderen erzählen, dazu bei, uns einerseits selbst zu verstehen und andererseits unsere Fähigkeiten und den Willen zu entwickeln, beispielsweise zukunftsfähige und damit in diesem Sinne als ‚gut‘ anerkannte Handlungsweisen auch tatsächlich motiviert umzusetzen.

Hier können wir nochmals die Verbindung zum oben vorgestellten Begriff des Erbes verdeutlichen. Aus einem fürsorglichen Verständnis heraus geben wir unser Wissen und unsere Wertvorstellungen an nachfolgende Generationen weiter. Gleichzeitig schaffen wir bestenfalls die strukturellen Voraussetzungen, dass künftig lebenden Menschen die Möglichkeit erhalten bleibt, ihrerseits diese Gedanken zu internalisieren und weiterzuentwickeln. So kann jede Generation Vorbild für die nächste Generation sein und ihre eigenen Wertvorstellungen auch narrativ tradieren. Fürsorge und Vorsorge an sich bleiben universale Werte, deren praktische Ausbuchstabierung in Richtung der Werthaltungen, Interessen und Bedürfnisse sowie des guten Lebens in eine offene Zukunft hinein einen immerwährenden diskursiven Prozess darstellt.

4. Die Sorge zur Fürsorge in intergenerationeller Perspektive

Das Motivationsproblem zur Langfristfürsorge stellt ein zentrales Kernproblem der Zukunftsethik dar. Meine in diesem Aufsatz vertretene These lautet, dass ein Konzept der Sorge zur Fürsorge sowohl lebenspraktisch vermittelt als auch normativ begründbar ist und Menschen motivieren kann, umfassend nachhaltig und insofern zukunftsfähig zu handeln. Wir hinterlassen unseren Nachkommen eine Welt, die aktuell durch erhebliche kurzfristige (ökonomische), mittelfristige (Klimaveränderung, Bevölkerungswachstum, Artensterben) und langfristige (Industriegifte, radioaktive Abfälle) Folgelasten gekennzeichnet ist. Selbst wenn wir noch nicht wissen, welche Interessen, Bedürfnisse, Normen oder Wertvorstellungen in der Zukunft vorherrschen werden, so ist die Fürsorge als Wert an sich universal und zeitlos gütig, unabhängig davon, welche normativ wirkenden Motivatoren dahinterstehen. Fürsorgliche, zugewandte Tätigkeiten und Handlungen selbst, damit noch nicht abstrakt normativ-ethische Konzepte ex ante oder reine Nutzenaspekte bestimmen unser tägliches zwischenmenschliches Tun. Die Komplexität bloß idealer Normen (Birnbacher 1988, 199) und anonymer Präferenzmaximierung kann durch das intuitiv gelebte und praktisch vermittelte Prinzip der Fürsorge reduziert werden.

Moralisch begründete Handlungen sind daher unter dem Blickwinkel der vorstehend diskutierten fürsorgeethischen Fragestellungen zu erweitern. Auf diese Weise erst besteht die Möglichkeit, die diskutierte Lücke zwischen der Sorge für unsere Nächsten und einem tatsächlich oftmals wenig nachhaltigen konkreten Handeln zu schließen. Durch verbindlich verstandene Sorge zur Fürsorge gewinnen menschliche Entscheidungen und unser Tun eine breitere und stark normative Basis in einem vieldimensionalen und auch zukunftstauglich umfassenderen Sinn. Konkrete Ideen und Ansatzpunkte, langfristigen Folgelasten unserer Handlungen unter Fürsorge- und Vorsorgegedanken entgegenzuwirken oder diese zumindest abzumildern, gibt es und diese werden zumindest teilweise bereits umgesetzt. Diese reichen beispielsweise vom Umbau der Energieversorgung auf unbeschränkt vorhandene oder regenerative Energieträger, über die verursachergerechte Bepreisung bisher externalisierter Kosten des CO2-Ausstosses, den Umbau der Agrarpolitik und den Schutz der Biodiversität, die Mobilitätswende auch mittels geeigneter Anreizsysteme, bis hin zu einer Konsumwende, die uns Menschen in unseren Breitengraden noch viel bewusster werden muss (Wallacher 2021). Technologischer Fortschritt kann, wird und muss dabei unterstützen.10 Der Fürsorgegedanke zeigt sich an dieser Stelle auch in der Forderung nach einer sozial-ökologischen Transformation, um die sozialen Folgen der notwendigen Veränderungen auch für heute lebende und von den Veränderungen betroffene Menschen sozial abzufedern (Steinforth 2021, 13-14).

Wie ich oben argumentiert habe, kumulieren im Konzept der Fürsorge evolutionär-biologische sowie gleichzeitig stärker normative Facetten dessen, was es bedeutet, anderen Menschen fürsorglich zu begegnen. Im Sinne des Kohlbergschen Stufenmodells muss es darauf aufbauend das Ziel sein, möglichst allen Menschen eine moralisch-kognitive Entwicklung im Rahmen von Bildungsprozessen ganz allgemein zu ermöglichen. Entsprechendes Wissen ist zu internalisieren, Menschen sind zu befähigen, den Pfad in Richtung des Wunsches nach einem guten Leben auch für die (nicht nur eigenen) Nachkommen volitional umzusetzen. Der Fokus dieser umfassenden Dimensionen motivationaler Begründung der Sorge zur Fürsorge liegt – und das macht die Stärke des Gedankens aus – grundlegend in den für die Fürsorgeethik typischen Merkmalen der Praxisrelevanz und bleibt daher lebensnah und lebenstauglich vermittelt. Die Geschichten gelungener Beispiele müssen wir uns innerhalb und zwischen den Generationen erzählen und diese weitertragen. Parallel gilt es, normativ erkannte und kollektiv zu diskutierende Ziele gesellschaftlich institutionalisiert, damit ordnungs-, sozial- und bildungspolitisch zu verankern (Caspar 2001, 90-91). Aus ihrer individuellen Verantwortung sind die Menschen dabei nicht zu entlassen. Die Möglichkeiten für jede:n, an den gesellschaftlichen und politischen Prozessen zu partizipieren, müssen dafür jedoch geschaffen sein.

Wenn wir die Gedanken Frankfurts nochmals aufgreifen, können wir die Sorge zur Fürsorge als eine Volition zweiter Ordnung verstehen. Wir können uns bewusst machen, welche Menschen wir sein wollen und wie wir leben wollen. Die Blickwinkel auf unser eigenes gutes Leben und unsere legitimen Interessen müssen dabei ebenso Berücksichtigung finden, sind diese doch konstitutiv für die Möglichkeit, überhaupt ein relevantes Erbe hinterlassen zu können. Gleichzeitig können wir uns bewusst machen, welche Werte wir tradieren, welches Erbe und welche institutionalisierten Ermöglichungschancen wir unseren Nachkommen hinterlassen wollen und welche Geschichten wir uns und anderen dazu erzählen. Der Prozess der Narration setzt sich laufend diachron fort und wir sollten das Vertrauen in die künftigen Generationen haben, unser Erbe zwar aufzunehmen, dann aber ihre eigenen Geschichten eines guten Lebens zu entwickeln und eigenverantwortlich zu handeln, ihrerseits wiederum unter Zukunftsbezug.
Im Rahmen der Fürsorgeethik und der Frage nach der Motivation unseres Handelns zur Sorge lassen sich psychologische Erkenntnisse sowie normative, (meta-)ethische Gedanken verbinden. In der Kombination und gegenseitigen Verstärkung von Praxis (fürsorgliche Lebenserfahrung) und Theorie (Bildungsprozesse, gesellschaftlicher Diskurs) besteht die Chance der fortlaufenden Annäherung der beiden Pole in Form des Wunschs, aktuellen, aber auch künftigen Generationen die Chance auf eine lebenswerte Zukunft zu erhalten sowie der Wirklichkeit unserer konkreten Handlungen. Eine Grunddisposition des Menschen zur (Nächsten-)Sorge steht in einem Wechselverhältnis zum Wissen um wertebasierte, kollektiv anerkannte und auch zukunftsethisch begründbare Normen. Wie ich argumentiert habe, bietet gerade das lebenspraktisch schon immer verankerte Prinzip der beziehungsbasierten Fürsorge erhebliches Potential, ein auch konkret normatives Verständnis der langfristigen intergenerationellen Sorgenotwendigkeit zu schaffen und damit die willentliche Motivation zur Übernahme von Zukunftsverantwortung zu stärken.

Literatur


  1. Zur Klärung der Frage, was unter intra- bzw. intergenerationeller Orientierung, Gerechtigkeit oder auch Verantwortung zu verstehen ist, greife ich die Kategorisierung von Kirsten Meyer auf und setze diese entsprechend durchgängig an: Mit „wir“ und „uns“ sind diejenigen Menschen gemeint, die aktuell leben und (bereits) Träger:innen moralischer Pflichten sind bzw. ein Verständnis dessen innehaben können, was moralisches Handeln heute und morgen bedeutet (Meyer 2018, 13).↩︎

  2. Ob wir gegenüber künftigen Generationen auch rechtlich verantwortlich sind oder von diesen gemacht werden können, hat etwa Hans Lenk bereits 1992 diskutiert (Lenk 1992, 161-166).↩︎

  3. Gethmann und Kamp unterscheiden weitere graduelle Abstufungen, indem sie synchrone und diachrone Nah- und Fernverpflichtungen voneinander abgrenzen. Das Nicht-Wissen um die langfristigen Folgen aktueller Handlungen nimmt zu, je weiter wir in die Zukunft blicken (Gethmann und Kamp 2001, 144-146).↩︎

  4. Eigene Kinder stellen eine Konkretisierung des künftig Abstrakten dar. Für Menschen, die selbst (noch) keine eigenen Kinder oder gar Enkelkinder haben, mag die unmittelbare Motivation der Zukunftsverantwortung daher geringer ausfallen. Ungeachtet dessen bezieht sich meine folgende Argumentation auf normative Aspekte, die allgemeingültige Handlungsmotivation entfalten können.↩︎

  5. Die psychologische Forschung spricht bei gegensätzlichen kognitiven Zuständen von kognitiver Dissonanz, damit vom Sachverhalt, dass Menschen Situationen und Informationen erlebten Zwiespalts als unangenehm empfinden und bestrebt sind, diesen Zustand zu verdrängen, zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren (Festinger 1957, 15-17; Püttmann 2009, 74-76).↩︎

  6. Kohlbergs Theorie erweiterte selbst wiederum die Untersuchungen des Schweizer Biologen Jean Piaget zu kognitiven Anpassungsprozessen des Menschen (Piaget 1975).↩︎

  7. Zur Kritik ausführlich Becker 2011.↩︎

  8. Eine Frage, die im Rahmen der Hume-Kant-Debatte die Diskussion um motivationale Begründungen mittels unserer Gefühle oder unserer Vernunft prägt (zur Übersicht Trampota 2012). Auch Gefühle können motivationale Wirkung entfalten (Döring 2013, 438), zum Beispiel das Gefühl des Stolzes, eben zukunftsfähig und fürsorglich gehandelt zu haben.↩︎

  9. Ähnlich argumentiert Fritz Breithaupt in seiner kognitionswissenschaftlichen Publikation „Das narrative Gehirn“ unter Rückgriff auf seine empirische Forschung (Breithaupt 2023).↩︎

  10. Dabei stellen sich auch im Rahmen des technologischen Fortschritts ethische und moralische Fragen (Bsp. Künstliche Intelligenz und Pflegeroboter). Zudem gehen konkrete Nachteile damit einher. Exemplarisch sei an dieser Stelle der Rebound-Effekt genannt, der immer dann einsetzt, wenn Effizienzsteigerungen zu Kostensenkungen und daraus resultierend zu stärkerer Nutzung führen, was ein Nullsummenspiel ergibt.↩︎