Temporale Vulnerabilität. Janna Thompsons Begründung intergenerationeller Verantwortung und ihre Bedeutung in der Klimaethik

Temporal Vulnerability. Janna Thompson's argument for intergenerational responsibility as a contribution to climate ethics

Zusammenfassung: Die australische Philosophin Janna Thompson (1942 – 2022) hat in einer Reihe von Schriften eine politische Ethik der intergenerationellen Gerechtigkeit entwickelt. Sie verbindet die historische Verantwortung Gegenwärtiger gegenüber dem Unrecht früherer Generationen mit der Verantwortung Gegenwärtiger für das Unrecht an den Noch-nicht-Geborenen. Darin findet sich eine Argumentation zur Begründung der intergenerationellen Sorge und Verantwortung, die von der Verletzbarkeit und Abhängigkeit in intergenerationellen Praktiken ausgeht. Sie kritisiert die Vorstellung von zukünftigen Generationen als mit uns unverbundene, noch nicht existierende Individuen und beschreibt die Gesellschaft stattdessen als ein diachrones Kontinuum von Angehörigen einander überlappender, miteinander verbundener Generationen, die füreinander Verantwortung tragen und voneinander abhängig sind.

In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, Thompsons Argument für „temporale Vulnerabilität“, d.h. zur Begründung einer Verantwortung für das Wohl ungeborener Zukünftiger, im klimaethischen Kontext zu rekonstruieren. Im Zentrum stehen nicht nur die Handlungen oder Entscheidungen, die Normen unterstehen, oder die Rechte Zukünftiger, sondern soziale Praktiken, die, indem sie sich kollektiv fortsetzen, von der Zukunft her eine materiale Normativität in der Gegenwart enthalten. Die Pflichten Gegenwärtiger können erkannt werden, wenn geprüft wird, ob diese Praktiken Zukünftigen gegenüber rechtfertigbar sind. Es handelt sich um Pflichten der sorgenden Verantwortung, die sich aus den intergenerationellen Beziehungen ergeben.

Dieses Argument wird mit zwei Fragen konfrontiert: 1) Hängt die Gültigkeit des Arguments wie Thompson andeutet, von vertragstheoretischen Vorannahmen ab? 2) Wie stark ist die normative Bindungskraft, die von ihrem Argument ausgeht und wie funktioniert diese Bindung?

Thompson bietet einen diachronen Ansatz zur intergenerationellen Gerechtigkeit, der sowohl rückwärts in die Vergangenheit als auch vorwärts in die Zukunft blickt, zu einem differenzierten Verständnis der Verantwortung der gegenwärtigen Generation führt, die in Strukturen lebt, die von den Vorgängergenerationen bereits errichtet wurden. Ihre Verantwortung kann spezifiziert werden auf das, was in ihrer Macht steht zu tun, um eine schädliche Dynamik aufzuhalten.

Schlagworte: Janna Thompson; intergenerationelle Gerechtigkeit; Klimaethik; Vulnerabilität; zukünftige Generationen.

Abstract: In a series of writings, the Australian philosopher Janna Thompson (1942 - 2022) developed a political ethics of intergenerational justice. She combines the responsibilities of the present in regard of the injustice of previous generations with the responsibilities of the present for the injustice to those not yet born. Her political ethics of intergenerational justice contains an argument for the justification of intergenerational care and responsibility, which is based on vulnerability and dependency in intergenerational practices. It criticises the notion of future generations as unconnected, as yet non-existent individuals and instead describes society as a diachronic continuum of interdependent members of overlapping, interconnected generations whose members share duties and responsibilities for predecessors and successors.

This article attempts to reconstruct Thompson's argument for "temporal vulnerability", i.e. for the justification of a responsibility for the well-being of unborn future generations, in the context of climate ethics. At the centre are not only the actions or decisions that are subject to norms, or the rights of future generations, but social practices that, by continuing collectively, contain a material normativity in the present from the future. The duties of the present can be recognized by examining whether these practices are justifiable vis-à-vis the future. These are duties of care and responsibility that arise from intergenerational relationships.

This argument is confronted with two questions: 1) Does its validity depend, as Thompson seems to suggest, on presuppositions of a contract theory of justice? 2) How strong seems the normative binding force that emanates from her argument and how does this binding force work?

Through her diachronic approach, Thompson offers an approach to intergenerational justice that looks both backwards into the past and forward into the future, leading to a nuanced understanding of the responsibility of the present generation living in structures already established by previous generations. Their responsibility can be specified in terms of what is in their power to do to stop a harmful dynamic.

Keywords: Janna Thompson; intergenerational justice; climate ethics; vulnerability, future generations.

1. Einleitung

Auf erschreckende Weise zeigt das Klimaproblem, dass das Vermächtnis, welches unsere gegenwärtige Generation von den vergangenen übernommen hat, moralisch ambivalent ist. Seit Beginn der Industriellen Revolution im 18. Jahrhundert haben die Aktivitäten der Menschen in den Industrieländern zu einer massiven und eskalierenden Akkumulation von Treibhausgasen in der Atmosphäre geführt (IPCC 2022). Die dadurch verursachte und bereits heute dramatisch spürbare weltweite Disruption des Klimasystems (Otto 2023) hat – zusammen mit einer Reihe anderer Umweltprobleme – die den bisherigen Industrialisierungs- und Globalisierungsprozess tragende Fortschrittsidee wirkungsvoll entzaubert. Eine weltweit über Jahrzehnte bewusst forcierte Abhängigkeit der Wirtschaftssysteme von fossiler Energie ist entstanden, welche die gegenwärtige Generation in eine moralisch prekäre Lage gebracht hat.

Die Klimakrise ist deshalb nicht nur als eine globale Ungerechtigkeit zwischen dem verursachenden Globalen Norden und den Menschen im empfindlicher betroffenen Globalen Süden zu analysieren (Ngcamu 2023), sondern auch als ein intergenerationelles Unrechtsverhältnis (Vanderheiden 2008; Meyer 2021). In diesem stehen wir gegenwärtig Lebenden gleichsam mitten drin. Pfadabhängigkeiten in den technischen Strukturen der Lebenswelt, die sich vor unserer Zeit bereits entwickelt haben, starre Machtstrukturen und mächtige nationale und wirtschaftliche Interessen erschweren wirksames verantwortliches Handeln in der Gegenwart.

Das Klimaproblem ist paradigmatisch für die Entfaltung einer intergenerationellen Verantwortungsethik. Die gegenwärtige Generation lernt gerade, wie sie auf komplexe Weise in temporale moralische Verhältnisse verstrickt ist: sowohl prospektiv als auch retrospektiv. Der Ansatz einer intergenerationellen Gerechtigkeit, der sich nur aus der gemeinsamen Betrachtung beider Generationenfolgen (rückwärts und vorwärts) ergeben kann, ist, wie ich argumentieren möchte, notwendig, um ein besseres Verständnis der intergenerationellen Verantwortungsverhältnisse auch in der Klimaethik zu gewinnen.

Dazu ist es sinnvoll, auf die Arbeiten der australischen politischen Philosophin Janna Thompson (1942 – 2022) zur intergenerationellen Gerechtigkeit zurückzugreifen, die vor allem im deutschsprachigen Raum bisher noch fast nicht rezipiert worden sind. Thompson frühere Arbeiten diskutierten die historische Verantwortung angesichts des Kolonialismus, insbesondere die Frage der Reparation für historisches Unrecht. In späteren Schriften hat sie sich auch zukunftsgerichteten intergenerationellen Verpflichtungsverhältnissen zugewandt. Das Klimaproblem kommt bei ihr als wichtiges Beispiel vor. Mir ist kein anderer Ansatz bekannt, in dem der Zusammenhang zwischen vergangenheitsbezogener und zukunftsbezogener Verantwortung so präzise herausgearbeitet ist. In der feministischen Philosophie, insbesondere in der Care-Ethik spielen ihre Ansätze eine Rolle, weil sie Ungerechtigkeit in Beziehungen von Abhängigkeit thematisieren. Ohne ihr Werk umfassend diskutieren zu können, möchte ich in diesem Beitrag klären, weshalb es sich lohnt, sich in der Klimaethik und anderen intergenerationellen ethischen Fragen vertieft mit Thompson zu befassen.1 Nach einigen Bemerkungen zu den moralischen Schwierigkeiten, die sich im Klimaschutz heute stellen (2), werde ich Thompsons Ansatz zur intergenerationellen Gerechtigkeit in einigen zentralen Punkten rekonstruieren und zu zeigen versuchen, wie sich das Konzept der „temporalen Verletzbarkeit“ auf die Klimakrise beziehen lässt. Dabei wird der Bezug von Thompsons Ansatz zu Thomas Scanlons Pflichtenethik zu klären sein (3). Ich möchte diesen Ansatz dann (4) mit zwei Fragen konfrontieren: Hängt die Geltungskraft des zentralen Arguments wie die Autorin selbst an einigen Stellen einräumt, tatsächlich von vertragstheoretischen Vorannahmen ab? Wie stark ist die normative Bindungskraft, die von diesem Argument ausgeht und wie funktioniert die Bindung?

2. Moralische Schwierigkeiten des Klimaschutzes

Der Klimaschutz ist für die Ethik ein dorniges Problem, aus einer Reihe von Gründen: Das Unrecht, das der anthropogene Klimawandel für die vor allem in der Zukunft besonders Betroffenen und Benachteiligten darstellt, ist seit Jahrzehnten für viele offensichtlich (z.B. Card 2002). Dennoch verschärft sich die Lage, trotz vieler Anstrengungen auf allen Ebenen, durch strukturell immer weiter steigende Treibhausgasemissionen. Der Beitrag, den Einzelne leisten können (etwa durch Verzicht auf Fliegen, durch fleischarme Ernährung) erscheint angesichts der schieren Größe des Problems nicht mehr als ein Tropfen auf einen heißen Stein. Die Beiträge, die Staaten leisten (durch Senkung der Emissionen z.B. auf dem Territorium der USA oder der EU) wird durch die Steigerung der Emissionen anderswo regelmäßig überkompensiert. Die kausalen Verknüpfungen zwischen Entscheidungen und Effekten sind unüberschaubar und der tatsächliche Effekt ist ungewiss, was besondere Herausforderungen für die Risiko-Ethik bei kollektiven Entscheidungen darstellt (Rehmann-Sutter 1998). Die Atmosphäre und das Klima sind globale Gemeingüter, bei deren nationalstaatlicher und privater Nutzung eine tragedy of the commons droht bzw. schon vorliegt (Ostrom 1990). Eine weitere Komplikation entsteht aus der Tatsache, dass sowohl individuelle als auch kollektive Akteure nicht nur dann einer Verschärfung des Klimaproblems schuldig werden, wenn sie sich abweichend, unerwünscht verhalten (indem sie z.B. festgestellte Methanlecks an Industrieanlagen nicht reparieren), sondern indem sie sich gerade erwartungsgemäß und der Systemlogik entsprechend ‚richtig‘ verhalten, also ‚gute Konsument:innen‘ sind. Man könnte die Aufzählung dieser Schwierigkeiten fortführen (vgl. z.B. Gardiner 2006; Birnbacher 2022).

Dass es sich bei der Klimakrise um eine intergenerationelle Problematik handelt, ist offensichtlich. In der Umweltethik hat sich die Figur einer Verantwortung für ‚zukünftige Generationen‘ schon seit längerem etabliert (Jonas 1979; Parfit 1984; Gardiner 2002 und 2010; Attfield 2015; Nolt 2017; Meyer/Pölzer 2021). Die Auswirkungen des gegenwärtigen Technologiegebrauchs betreffen sowohl andere Gegenwärtige als auch (wesentlich stärker oder anders) die später auf dem Planeten Lebenden. Dabei stellen sich unvermeidlich konzeptionelle Fragen, wie die Beziehungen zwischen den Generationen verstanden werden können und welche Begriffe von Generation dabei eine Rolle spielen.

Für John Rawls (1993) dürfen die Menschen hinter dem Schleier des Nichtwissens, wenn sie sich über (ideale) Gerechtigkeitsverhältnisse verständigen, keine Kenntnis davon haben, in welche Position in der Sequenz der Generationen innerhalb einer als fair konzipierten Gesellschaftsordnung sie gelangen werden. Aus dieser Perspektive ist eine absehbare, aber gleichzeitig vermeidbare Schädigung der Lebensgrundlagen der zukünftigen Generationen durch die Gegenwärtigen nicht zu rechtfertigen.2 Wie Dieter Birnbacher deutlich machte, verstößt eine solch Praxis gegen fundamentale Menschenrechte der Angehörigen zukünftiger Generationen (Birnbacher 2022, Kap. 4). Auf juristischer Ebene wurde dies vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in ihrem Urteil im Fall Klimaseniorinnen vs. Schweiz 2024 bestätigt (Hösli/Rehmann 2024).

Es scheint somit nicht schwer, theoretisch aufzuzeigen, dass und weshalb die voraussehbare Schädigung der klimatischen und biosphärischen Lebensgrundlagen der zukünftigen Generationen ein moralisches Unrecht darstellt, das Pflichten zu seiner Vermeidung auslöst.

Wenn die Klimaethik praxisanleitend sein soll, muss die ‚ideale Theorie‘ in eine in der Praxis der realen Welt handhabbare „nichtideale“ Klimaethik übersetzt werden, ohne die Menschen moralisch zu überfordern und gleichzeitig ohne den Anspruch eines universellen Menschenrechtsschutzes aufzugeben (vgl. Birnbacher 2022, Kap. 5). Durch den Aufweis des Unrechts ist aber noch nicht geklärt, wie es möglich wird, es zu vermeiden. Im Verlauf einer für den Klimaschutz offensichtlich notwendigen gesellschaftlichen Transformation ergeben sich eine Vielzahl von moralischen Dilemmata, die der ethischen Beurteilung bedürfen. Welche Priorisierungen sollen etwa beim Umbau der technologischen Infrastrukturen beachtet werden? Welche Rolle sollen verschiedene Technologien spielen (Elektroautos, AI, Kohlenstoffsequestrierung etc.)? Welche Pflichten müssen auf den verschiedenen politischen Ebenen lokal, national und international berücksichtigt werden? Weiter gilt es, die Menschen in ihrer Lebenswelt ernst zu nehmen. Wenn die gesellschaftliche Transformation von ihnen und mit ihnen bewerkstelligt werden und gelingen soll, so muss von ihren konkreten Lebensbedingungen aus gedacht werden (Bee et al. 2015). An welche Grenzen stoßen Anstrengungen, sich für ein klimafreundlicheres Leben zu engagieren? Wie können diejenigen überzeugt werden, die keine Freunde einer ambitionierten Klimapolitik sind? Unter intergenerationeller Klimagerechtigkeit ist deshalb ein wesentlich komplizierteres Netz von moralischen Verhältnissen zu untersuchen, als es die ideale Theorie suggeriert.

Dazu ist auch die in der Umwelt- und Klimaethik breit etablierte Figur einer ‚Verantwortung für zukünftige Generationen‘ kritisch in den Blick zu nehmen. Wie strukturiert sie das Feld? Wie reflektiert sie Intergenerationalität? Angesichts der bereits in der Vergangenheit begonnen Akkumulation von Treibhausgasen und angesichts der Pfadabhängigkeiten, mit der es die Umweltpolitik zu tun hat, lässt sich ein Außer-Acht-Lassen der Beziehungen der gegenwärtigen Generationen zur Vergangenheit kaum rechtfertigen. Nicht nur die Zukünftigen sind aber von ‚uns‘ Gegenwärtigen abhängig, die Gegenwärtigen sind auch abhängig von den Vergangenen. Von den Vorfahren sind ‚wir‘ in Verhältnisse verstrickt worden, die sich gegenwärtig als Erschwernisse für die Klimapolitik zeigen. Vor unserem Leben wurden bereits koloniale Ausbeutungsverhältnisse zwischen globalem Norden und Süden, und Unterschiede zwischen Reich und Arm geschaffen, an denen wir nolens volens partizipieren und die sich in die Zukunft hinein fortsetzen, etc. (vgl. Ghosh 2022).

Es ist deshalb nicht nur schwierig, Gerechtigkeit für zukünftige Generationen politisch zu verwirklichen, weil diejenigen, um die es geht, in den Aushandlungsprozessen nicht teilnehmen und ihre Rechte einklagen können (vgl. Rehmann-Sutter et al. 1998; Vatn 2020). Dies ist vielmehr außerdem dadurch erschwert, dass Gegenwärtige Schuld von sich weisen zu können scheinen, weil sie das Problem selbst schon von ihren Vorgängern übernommen haben.

Verschiedentlich ist im intergenerationellen Verhältnis das non-identity-problem vorgetragen worden (Tremmel 2019; klassisch Parfit 1984, Kap. 16). Bei vielen klimarelevanten Entscheidungen handelt es sich um person-affecting choices: Weil wirksame klimapolitische Entscheidungen in die Strukturen der Lebenswelt eingreifen (und eingreifen müssen), würden durch die Weiterführung klimaschädlicher Praktiken voraussichtlich andere Personen betroffen als mit der klimafreundlichen Option. Deshalb sei es logisch nicht möglich zu sagen, dass erstere durch die Folgen dieser Entscheidung ‚geschädigt‘ werden. Solange ihnen ihr Leben trotzdem lebenswert scheint, könnten sie sich nicht wirklich beklagen, weil sie ja nach der klimafreundlichen Entscheidung gar nicht existieren würden. Wenn man dieser Linie folgt, wird es tatsächlich schwierig zu behaupten, dass der Klimawandel die Rechte der Menschen in der Zukunft verletzt.

Diese Problembeschreibung hängt aber von der Voraussetzung ab, dass die Geschädigten zum Zeitpunkt der Entscheidungen oder der fraglichen Praktiken noch nicht existieren. Stephen Gardiner (2002) hat das in einem einflussreichen Beitrag als das „pure intergenerational problem“ gefasst und die zukünftigen Generationen entsprechend durch die Noch-nicht-Existenz ihrer Mitglieder definiert. Die Verantwortung für zukünftige Generationen ist demnach eine Verantwortung für Menschen, deren Existenz mit dem der Gegenwärtigen zeitlich nicht überlappt. In einer Reihe von Beiträgen hat sich Thompson gegen diese Problembeschreibung gewandt (wie übrigens auch Birnbacher 1988, S. 23-27) und stattdessen vorgeschlagen, von überlappenden intergenerationellen Beziehungen aus zu denken. Diesen möchte ich mich im Folgenden zuwenden.

3. Thompsons Ansatz zur intergenerationellen Gerechtigkeit

Janna Thompson war eine prominente australische Philosophin, die sich der analytischen Schule zuordnete (Thompson 2020, S. 542). In einer Reihe von Beiträgen hat sie einen relationalen Ansatz zur politischen Ethik der intergenerationellen Gerechtigkeit entwickelt, der auch der feministischen Philosophie verbunden ist. Darin verknüpft sie die Verantwortung Gegenwärtiger für das Unrecht früherer Generationen mit der Verantwortung Gegenwärtiger für das Unrecht an den Noch-nicht-Geborenen. In ihrem Werk findet sich eine Begründung der intergenerationellen Sorge und Verantwortung, die in den Diskussionen um intergenerationelle Ethik Diskussion verdient, weil sie statt von abstrakten Szenarien von der Verletzbarkeit und wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen in intergenerationellen Praktiken und intergenerationellen Institutionen ausgeht. Sie wollte zeigen, weshalb es eine historische Verantwortung der jetzt Lebenden gegenüber den früheren Generationen gibt und weshalb jetzt Lebende Pflichten haben, für das Wohl zukünftig Lebender zu sorgen.

Thompson schlägt vor, die Gesellschaft aus einer diachronen Perspektive zu betrachten. Intergenerationelle Beziehungen sind nicht aus einer Analogie zu den Beziehungen zwischen zeitgleich lebenden Erwachsenen zu verstehen. Das Problem für die politische Philosophie ist vielmehr zu erklären, warum die Bürger:innen die Pflicht akzeptieren sollen, sicherzustellen, dass ihre politische Gemeinschaft die Bedingungen erfüllt, eine verantwortungsfähige intergenerationelle Agentin zu sein (Thompson 2009, S. 6).

„The diachronic perspective encourages individuals to see themselves as participants in an intergenerational continuum in which each generation depends in various ways on its predecessors and successors – relationships and dependencies that change in the course of time.” (Thompson 2014, S. 169f.)

Es gehört also immer schon zur Natur einer politischen Gemeinschaft, dass sie intergenerationell ist. Wir leben in einem Kontinuum von intergenerationellen Beziehungen.3

In ihren auf die Zukunft gerichteten Texten war das Klima für Thompson stets ein primärer Anlass, über die Gerechtigkeit zwischen den Generationen nachzudenken (in Bezug auf historisch begründete Schadenersatzzahlungen für Klimaschäden explizit Thompson 2017b). Insofern ist es in ihrem Werk selbst angelegt, den Ertrag ihres Ansatzes für die Klimaethik zu diskutieren. Weil viele Auswirkungen ökologischer Schäden gegenüber den verursachenden Handlungen zeitlich versetzt auftreten, ergibt sich eine Form von Vulnerabilität, die zuerst genauer zu fassen ist.

3.1 Temporale Verletzbarkeit (TV)

‚Temporale Verletzbarkeit‘ definiert Thompson (2014, S. 163) als die Verletzbarkeit, die aus der zeitlichen Position in intergenerationellen Verhältnissen entsteht. TV umfasst

„the vulnerabilities that people possess in respect to their position in time and their relationship to preceding and succeeding generations.“

Die zeitliche Position besteht in einer Beziehung sowohl zu Älteren als auch zu Jüngeren, mit denen wir Lebenszeit teilen, sowie zu Angehörigen vorangehender als auch nachfolgender Generationen. In beiden Richtungen entsteht Verletzbarkeit als Ergebnis intergenerationeller Abhängigkeiten. Der zentrale Punkt ist, dass nicht nur die zukünftigen Generationen in ihrer Abhängigkeit von der gegenwärtigen Generation untersucht werden müssen, wie das von den meisten Autor:innen in der Literatur zur Verantwortung für zukünftige Generationen unternommen wurde, sondern auch die Abhängigkeit der gegenwärtigen Generation von der vergangenen – und ebenfalls eine Abhängigkeit der Gegenwärtigen von den Zukünftigen. Nur die jeweils Gegenwärtigen haben die Macht, etwas zu tun, die „temporal powers“ (2014, S. 164), indem sie aktuell handeln, Dinge verändern können. Sie sind aber in ihrer Handlungs- und Verantwortungsfähigkeit, die sich nur durch ihre Abhängigkeiten von Vergangenen und von Zukünftigen verstehen lässt, selbst verletzbar. Diese These mag zunächst überraschen, weil doch weder die Vergangenen noch die Zukünftigen in der Gegenwart existieren (die einen existieren nicht mehr, die anderen noch nicht). Wie können Gegenwärtige von nichtexistenten Menschengruppen abhängig sein, ja gar von ihnen verletzt werden?

Thompsons Antwort ist , dass intergenerationelle Beziehungen nicht auf Beziehungen zwischen distinkten, einander nicht überlappenden Kohorten einzuschränken sind, wie das exemplarisch Gardiner (2003; im Gefolge von Parfit) zu Argumentationszwecken annahm.4 Sie schließen auch die Vulnerabilität der sehr Jungen bezüglich der Älteren und der Alten gegenüber Jüngeren ein. In einem intergenerationellen Kontinuum leben Menschen unterschiedlichen Alters gemeinsam in einer über die Zeit dauernden (diachronen) Gemeinschaft. Ihr Leben zieht sich von der Vergangenheit in die Zukunft; Kinder werden geboren und von älteren Menschen versorgt, wenn auch nicht alle Kinder haben; Jüngere pflegen Ältere. Verletzbarkeiten entwickeln sich in diesen Beziehungen, in denen verschiedene Generationen in Abhängigkeitsverhältnissen miteinander verbunden sind. Aber auch Interessen haben eine lebenszeitüberschreitende Dimension.

3.2 Über die Lebenszeit hinausweisende Interessen

Menschen haben über ihre eigene Lebenszeit hinausweisende Interessen (Thompson nennt sie ‚lifetime-transcending interests‘), die im Rahmen einer Ethik der Verantwortung ernst zu nehmen sind. In Intergenerational Justice sind die über die Lebenszeit hinausweisenden Interessen ein zentrales Konzept, aus dem sich eine Erweiterung der Pflichten ergibt, die Agenten gegeneinander haben. Thompsons These ist, dass sie die Grundlage für eine Theorie der Gerechtigkeit bilden, welche sowohl die Pflichten zu vergangenen als auch zu zukünftigen Generationen umfasst.

Allgemein geben Interessen den Handelnden eine vorwärtsschauende Orientierung und motivieren sie zum Handeln. Die Interessen einer Person sind das, was ihre zentralen Anliegen und Lebensthemen ausmacht. Daraus ergibt sich eine motivierende Kraft von Interessen: „An interest is at the centre of a related set of propensities, desires, wishes, intentions, hopes and fears; it is the theme that explains their relationship.” (Thompson 2009, S. 41) Interessen gehören also zur Beschreibung von Handlungen. Agenten können dabei Personen sein oder Körperschaften. Interessen reichen vor allem auf die absehbare, nähere Zukunft. Sind sie immer eigennützig?

„[B]ut not all interests are self-interests. People can have an interest in the fate of others, the achievement of world peace, moral goodness and many other things that transcend the self-centred needs and wants.” (Thompson 2009, S. 40f.) Nicht alle Interessen, die wir haben, sind eigennützig oder selbstbezogen, einige sind sogar ausgesprochen altruistisch. Ein wichtiges Beispiel ist das Interesse von Eltern, dass es ihre Kinder und die Kinder ihrer Kinder gut haben werden. Eigennützige Interessen, die über die eigene Lebenszeit hinausweisen, können z.B. die Wünsche sein, dass Nachkommen oder Nachfolger:innen eigene Projekte weiterführen, ihr Ansehen wahren, ein Ideal weitertragen usw. Künstler:innen schaffen Werke, von denen sie hoffen, dass sie auch zukünftige Menschen bewegen und wertschätzen.

Wenn Menschen ein Interesse haben am Wohl ihrer Kinder oder ihrer Gemeinschaft, dann bedeutet das, dass sie wollen, dass ihr Leben gelingt („wants them to flourish“; Thompson 2009, S. 41) und es ist auch wahrscheinlich, dass sie wollen, dass andere Leute Dinge tun, die die Chance erhöhen, dass das Leben ihrer Kinder gelingt. Wir dürfen von anderen sogar verlangen, dass sie dies tun (Thompson 2009, S. 41). Ob diese Erwartungen, wenn sie bestehen, auch gerechtfertigt sind und durchsetzbar sein sollen, ist Thema der politischen Philosophie.

Hier zeigen sich drei Aspekte der intergenerationellen Konzeption menschlicher Interessen, die für die Klimaethik von Bedeutung sind:

(i) Auch hinsichtlich der über ihren Tod hinausweisenden Interessen sind Menschen verletzbar. Wenn wirtschaftliche und technologische Strukturen so aufgebaut sind, dass sie es den Menschen (durch Nebenwirkungen auf das Klimasystem) verunmöglichen, das Wohl ihrer Kinder, Kindeskinder und Gemeinschaften zu schützen und zu fördern, werden dadurch ihre eigenen Interessen verletzt. Wenn das stimmt, sind wir berechtigt, dies den Architekt:innen der klimaschädlichen Systeme zum Vorwurf zu machen. Wir werden in unserer Verantwortungsfähigkeit in diesen Systemen strukturell verletzt. Ein Staat, der dies weiterhin zulässt oder sogar noch fördert, vernachlässigt nicht nur den Schutz der Rechte der noch nicht geborenen zukünftigen Bürger:innen, sondern auch unsere Interessen - die Interessen der jetzt Lebenden.

(ii) Wenn bei der Begründung von Pflichten der Schutz von Interessen überhaupt eine Rolle spielen soll, so müssen die über die eigene Lebenszeit hinausweisenden Interessen sowohl der Gegenwärtigen mitbeachtet werden wie auch entsprechende über die Lebenszeit hinausweisende Interessen derjenigen, die nach ihnen kommen. Interessen sind generativ: „Interests breed interests“ Thompson 2009, S. 41).

(iii) Die Angehörigen der gegenwärtigen Generation sind diejenigen, die sich nach ihrer Verantwortung gegenüber vergangenen und gegenüber zukünftigen Generationen fragen. Aber sie sind nicht die einzigen, deren Verantwortung Thema ist. Denn die Angehörigen der gegenwärtigen Generation können ihre Pflichten gegenüber vergangenen Generationen danach beurteilen, was sie selbst von ihren Nachkommen vernünftigerweise erwarten können. Oder sie können ihre Pflichten gegenüber den zukünftigen Generationen danach beurteilen, was sie vernünftigerweise glauben dürfen, berechtigt zu sein, von den vergangenen Generationen zu erhalten (Thompson 2009, S. 11). Thompson sieht darin einen wesentlichen Grund dafür, dass jede Generation, die für die Gerechtigkeit notwendigen Institutionen („institutions of justice“, ibid.) erhalten oder etablieren soll, um die intergenerationelle Gerechtigkeit aufrechterhalten können.

3.3 Die diachrone Sicht auf intergenerationelle Zeit

Zur Klärung der temporalen Vulnerabilität ist nun die Unterscheidung zwischen zwei Verständnisweisen wichtig, die Thompson ‚synchronic view‘ und ‚diachronic view‘ auf die Intergenerationalität nennt (Thompson 2014, S. 163).

Die synchrone Sicht wird in der Literatur zur intergenerationellen Ethik häufig vertreten. Sie ist dadurch charakterisiert, dass die Positionen der Zukünftigen und der Vergangenen in Bezug auf die Gegenwärtigen betrachtet werden, deren Handlungsmacht im Zentrum ihrer Verantwortung steht. Die Gegenwart ist der Referenzpunkt, wenn z.B. die alten Menschen von den jüngeren verletzt werden können, weil ihre Kraft mit dem Alter schwindet. Sie ist ebenfalls Referenzpunkt, wenn die sehr Jungen von den Erwachsenen verletzt werden können, weil sie noch nicht für sich selbst sorgen können. Ebenso ist die Gegenwart der Referenzpunkt, wenn die Menschen der Vergangenheit als verletzlich angesehen werden, weil sie tot sind und sich nicht mehr wehren können, bzw. wenn die Noch-nicht-Geborenen deshalb als verletzlich angesehen werden, weil sie heute noch nicht leben und deshalb ihren Einfluss auf gegenwärtige Entscheidungen nicht geltend machen können. Verantwortlich sind in der synchronen Sicht immer die gegenwärtig lebenden Menschen: „at the height of their temporal powers – those who make decisions and engage in activities that affect, or will affect, temporally vulnerable groups.” (Thompson 2014, S. 163).

Die diachrone Sicht kennt hingegen keinen fixen Referenzpunkt. Die Gegenwart ist kein Punkt in der Zeit, auf den sich alle Überlegungen richten, sondern sie ist selbst ein Zeitraum in einem Kontinuum, das uns alle unweigerlich in die Zukunft trägt. Eine Person hat in dieser Sicht daher keine fixe zeitliche Adresse („no fixed temporal address“; Thompson 2014, S. 163).

Diese Unterscheidung hat eine wichtige Konsequenz für die temporale Vulnerabilität. Kinder sind nämlich nicht nur in Bezug auf die Handlungen Erwachsener verletzbar, sondern auch darin, wie ihr Wohl als zukünftig Erwachsene dann davon abhängen wird, was Mitglieder älterer Generationen jetzt und in der Zukunft tun. Auch die Person auf der Höhe ihrer temporalen Macht ist deshalb selbst temporal vulnerabel, nämlich als eine Person, die altern und sterben wird, deren wichtigste Anliegen von den Handlungen anderer abhängig sind, die zum Teil erst jung sind, noch gar nicht leben, oder bereits früher gelebt haben. Einige dieser Anliegen gehören zu den über die eigene Lebenszeit hinausweisenden Interessen.

Thompson meint, dass die synchrone Sichtweise zu Paradoxien führt. In der synchronen Sicht wird nämlich die Nichtexistenz sowohl der vergangenen als auch der zukünftigen Generationen als Quelle der Verletzbarkeit in Bezug auf die Handlungen der Gegenwärtigen gesehen. Gleichzeitig ist es aber schwer zu verstehen, wie nichtexistente Menschen überhaupt geschädigt werden könnten. In der diachronen Perspektive ist dieser Zusammenhäng besser zu erklären: Es ist nicht die Nicht-Existenz, welche als Quelle der Verletzbarkeit identifiziert werden muss, sondern es sind die verschiedenartigen intergenerationellen Abhängigkeiten, die aus der menschlichen Existenz in der Zeit erwachsen. Alle sind abhängig von den generationellen Vorfahren und werden auch abhängig sein von den Handlungen ihrer Nachfahren: „We depend on our successors to fulfil our reasonable requests concerning our postmortem affairs, and they depend on us to ensure that they inherit suitable conditions for living decent lives.” (Thompson 2014, S. 170). Die Abhängigkeiten in den intergenerationellen Beziehungen ergeben eine Vulnerabilität. Die offensichtliche Nichtexistenz dieser Personen im gegenwärtigen Augenblick und die Abhängigkeit ihrer Identität von gegenwärtigen Entscheidungen ist zwar nicht zu bestreiten, stellt aber für die Begründung moralischer Pflichten kein echtes Problem dar. Es spielt nämlich für die Existenz meiner Pflichten schlicht und einfach keine Rolle, wer es ist, der aufgrund der Abhängigkeiten geschädigt werden kann, weil jede Person, deren Leben durch die Auswirkungen meiner Handlungen belastet werden kann, es verdient, heute berücksichtig zu werden, ohne dass ich weiß, wer es ist, und ohne zwei Kausalketten mit Konsequenzen (‚counterfactuals‘, vgl. Yeates 2024) miteinander zu vergleichen, in denen ein- und dieselbe Person unterschiedlich betroffen sein wird.

Verantwortung entsteht also nach Thompson nicht nur aus den Anspruchsrechten konkreter Personen (und fehlt entsprechend, wenn diese nicht eindeutig identifizierbar sind), sondern sie besteht in einer Anerkennung Anderer hinsichtlich ihrer Verletzbarkeit in Bezug auf das gegenwärtige Handeln. Andere können unbestimmte Andere sein. Denn die Unbestimmtheit ihrer Identität berechtigt uns nicht, uns unserer Verantwortung ihnen gegenüber zu entziehen.

Was sind aber die von Thompson (2014, S. 170) identifizierten „reasonable requests concerning our postmortal affairs“? Wie sich aus dem zitierten Satz ergibt, sind es ‚vernünftige‘ Forderungen, von denen wir mit (moralischem) Recht und mit Unterstellung der Vernunft unserer Nachfahren, erwarten dürfen, dass sie von unseren Nachfahren erfüllt werden. Was heißt aber vernünftig? Ich interpretiere Thomson an dieser Stelle mit dem Ansatz von Thomas Scanlon, auf den sie selbst verweist. Dessen Grundgedanke ist folgender: Wir kennen das Denken und die Prioritäten der Zukünftigen nicht, aber wir müssen an uns selbst die Forderung stellen, dass die Erwartungen auf solchen Prinzipien aufbauen müssen, von denen wir annehmen dürfen, dass sie sie nicht vernünftigerweise zurückweisen könnten. Dazu müssen wir nicht wissen, was sie denken werden, sondern wir müssen im Rahmen unserer Selbstprüfung vorwegnehmend annehmen, dass sie vernünftige Wesen sein werden, die eine der unsrigen entsprechende Motivation zur Verständigung haben. Dazu unten mehr.

Die Abhängigkeiten und die TV, die sich aus ihnen ergibt, situieren die Betroffenen und positionieren auch uns selbst als Personen in intergenerationellen Beziehungen. Beide, ‚wir‘ und ‚die Betroffenen‘, sind nicht Individuen mit bestimmten Eigenschaften und bestimmten Interessen, die zu verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte zueinander in Verhältnisse gestellt werden, sondern Wesen-in-Beziehung, die in kollektiven Praktiken, als Gruppen, in Institutionen und in Staaten in einem intergenerationellen Kontinuum leben. Insofern verlangt Thompsons Deutung der Quellen der temporalen Vulnerabilität, wie sie selbst feststellt, eine Transformation der Ethik von einem individualistischen zu einem beziehungsorientierten Paradigma.

Das anthropologische Denken aus Beziehungen ist eine zentrale Aussage feministischer Ethikansätze, mit denen sie solidarisch ist, beschränkt sich aber nicht nur auf diese. Relationale Anthropologie sieht Beziehungen für die Vernunft und für das Selbst als konstitutiv an. Verletzbarkeit als gegenseitiges Ausgesetztsein erweist sich als Grunddimension menschlicher ‚Ex-istenz‘.5

3.4 Intergenerationelle Pflichten

Thompsons Argumentationsweise zur Identifikation von Pflichten folgt dem Prinzip, dass gleiche Fälle gleich beurteilt werden müssen, unabhängig davon, wo sie auf dem intergenerationellen Kontinuum verortet sind. Wenn wir erkennen wollen, welche Pflichten wir gegenwärtig Lebenden gegenüber unseren Vorfahren in unseren Familien und in unseren politischen Gemeinschaften haben, müssen wir darauf achten, was wir lebenden Menschen von denen, die nach uns kommen, vernünftigerweise erwarten dürfen. Nicht alles, was wir wollen, dass sie nach unserem Ableben dereinst für uns tun, dürfen wir von ihnen berechtigterweise erwarten. Einige der Erwartungen, die wir an sie richten, können sie aus uns plausiblen Gründen zurückweisen, weil sie sie überfordern oder weil sie sie aus guten Gründen für ungerechtfertigt halten. Z.B. müssen sie keine Lügen aufrechterhalten und keine in der Gegenwart tolerierten Unterdrückungsverhältnisse weiterführen, auch wenn die gegenwärtige Generation ein Interesse daran hätte, dass sie dafür keinen Vorwürfen ausgesetzt werden. Aus denselben Gründen können wir einige der Erwartungen, die unsere Vorfahren an uns gerichtet haben, aus guten Gründen ablehnen. Wir können Verantwortung, die wir den Vorfahren gegenüber übernehmen, auf ein tragbares Maß einschränken. Und gleichzeitig können wir auch erkennen, dass wir ihnen gegenüber Pflichten haben, die anderer Art sind als das, was sie von uns erwartet hätten.

Ein Beispiel dafür sind Reparationen für vergangenes Unrecht. Es ist einigen aus den früheren Generationen vielleicht nicht genügend bewusst gewesen, dass es sich bei den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen sie lebten, um Unrecht handelte. Sie könnten sogar (wie es im Europäischen Kolonialismus zweifellos für einige der Fall war) im Glauben gelebt haben, ein Recht auf diese Vorteile zu haben, die sie genossen. Gleichwohl können Angehörige der gegenwärtigen Generation in den Nutznießerländern der kolonialen Ausbeutung, die dies heute erkennen, eine historische Verantwortung übernehmen müssen, einschließlich einer Pflicht zur Reparation. Die Aufarbeitung historischen Unrechts im Sinn der Anerkennung des Leidens der Opfer, der Ermittlung von Schuld und der Übernahme von ‚kollektiver Haftung‘ (Arendt 1965, S. 25) ist eine moralische Pflicht auch den Vorfahren gegenüber.

Wenn wir nun ermitteln wollen, welche Pflichten unsere Generation gegenüber Kindern (oder gegenüber den Kindern der Kinder usw.) haben, müssen wir z.B. darauf achten, was wir gegenwärtig Lebenden von denen, die vor uns lebten, erwarten dürfen. Auch hier ist zur Bestimmung und Einschränkung der Pflichten eine ähnliche Überlegung anwendbar wie bei den Pflichten gegenüber den Vorfahren: Nicht alle Lasten, von denen wir (vielleicht vor allem aus eigenem Interesse) meinen, dass sie von den nach uns Kommenden übernommen werden müssen, sind Lasten, von denen wir erwarten dürfen, dass sie sie übernehmen. Wir können uns vorstellen, wie es wäre, wenn die vergangenen Generationen uns ähnliche Lasten zugemutet hätten, wie wir sie Nachfahren zumuten. Wenn wir nicht von uns selbst erwarten müssen, dass wir diese Lasten akzeptabel finden, wenn sie uns von den Vorfahren aufgebürdet worden wären, können wir auch nicht erwarten, dass sie unsere Nachfahren übernehmen müssen. Es geht dabei um die Respektierung der absehbar von den gegenwärtigen Praktiken betroffenen Nachfahren.6

Der Generationenbegriff kann je nach Problemzusammenhang spezifiziert werden. Bei Thompson sind die Pflichtträger:innen die Individuen, die in Beziehungen leben, die für ihr Selbst konstitutiv sind. Wenn man sagt, ‚die gegenwärtige Generation hat die Pflicht zu X‘, so sind damit die Menschen gemeint, die in der Lage sind zu erkennen, dass sie als Angehörige dieser gegenwärtigen Generation eine Pflicht zu X haben. Wenn es sich um institutionelle Akteure handelt (z.B. Staaten oder Firmen), dann sind Kollektive die Verantwortungsträger. Aber eine ‚Generation‘ im Sinn einer demografischen Kohorte (z. B. die zwischen 1980 und 2000 Geborenen) oder im Sinn einer soziokulturellen Identifikation (die Nachkriegsgeneration, die Generation Z usw.)7 kann nicht sinnvoll als Verantwortungsträger:innen gemeint sein, insofern in ihr keine Entscheidungsstrukturen bestehen, aus der sich eine kollektive Handlungsfähigkeit ergibt. Je nach Problemzusammenhang ist die Generation, die gemeint ist, eine demografische Kohorte, die lineare Abstammung in einer Familie oder es sind schlicht die Noch-nicht-Geborenen, die in der Zukunft leben werden.8 Allgemein wichtig ist, dass es sich um Vor- und Nachfahren handelt, mit denen die jetzt Handelnden über die Familie, die Gruppe, eine Institution oder schlicht über das Handeln verbunden sind.

Unsere eigene Position im intergenerationellen Kontinuum verschiebt sich im Laufe unseres eigenen Lebens. Deshalb kann die Frage, was jede Generation ihren Vor- und Nachfahren schuldet, nicht nur die Frage sein, die auf einer abstrakten Universalisierung nach dem Vorbild Kants kategorischen Imperativs beruht, sondern kann besser als eine Frage erklärt werden, die entsteht, wenn die eigene Position im intergenerationellen Kontinuum nicht als absolut angenommen wird. Die Kinder der Kinder sind nicht weniger zu respektieren, weil sie nicht die Kinder sind, die wir selbst schon kennen. Wir sind gleichwohl ihre Vorfahren. Denn unsere Gemeinschaften bringen sie hervor und die Handlungen unserer Gemeinschaft sind verantwortlich dafür, welche Welt sie vorfinden werden, welche Strukturen sie erben und welche Institutionen sie weiterführen können.

Insofern es kausale Verbindungen gibt, die gegenwärtige Praktiken mit dem Schicksal Zukünftiger verknüpft, müssen sich Gegenwärtige deshalb die Frage stellen, welche Praktiken jenen gegenüber zu rechtfertigen sind. Diese Frage ist strukturell analog zur Frage, von welchen Praktiken unserer Vorfahren wir Gegenwärtigen glauben können, dass sie uns gegenüber rechtfertigbar sind. Negativ gewendet: Gewisse Handlungen oder Praktiken, deren Auswirkungen die Nachfahren unserer Generation betreffen, sind von uns aus denselben Gründen nicht zu rechtfertigen, wie gewisse Handlungen oder Praktiken unserer Vorfahren, deren Auswirkungen wir zu spüren bekommen würden, von uns nicht gerechtfertigt werden müssten.

Intergenerationelle Pflichten ergeben sich bei Thompson also aus drei miteinander verschweißten Überlegungen: Die erste entsteht aus der diachronen Sicht auf die intergenerationelle Vulnerabilität, aus der Einsicht in das intergenerationelle Kontinuum und die Anerkennung von über die Lebenszeit hinausweisenden Interessen. Innerhalb des intergenerationellen Kontinuums bestehen Abhängigkeitsbeziehungen, aus denen Sorge, Verantwortung und Pflichten erwachsen. Die zweite Überlegung befasst sich mit den moralischen Pflichten, die Menschen gegenüber anderen haben, aus dem Grund, dass es sich auch bei den Angehörigen anderer Generationen um Menschen handelt, die vernünftig denken. Die dritte Überlegung ist das Prinzip der Gleichbehandlung: gleiche Fälle dürfen nicht ohne überzeugenden Grund unterschiedlich beurteilt werden – auch über die Zeit hinweg. Insofern die gegenwärtig Lebenden auch den Nachfahren zugestehen müssen, vernünftig zu sein, müssen sie sich dann auch die Mühe machen zu überlegen, was den anderen gegenüber zu rechtfertigen ist und was eben nicht.

Daraus ergibt sich eine moralische Pflicht, nicht nur für das Wohl der nach uns Kommenden zu sorgen, sondern sich auch darum Sorgen zu machen, dass sie wiederum für die nach ihnen Kommenden werden sorgen können.9 Das Sorgen der Zukünftigen werden in die eigene Sorge für sie einbezogen. Ansonsten wäre die Sorge unvollständig. Danach zu schließen ist Nachhaltigkeit eine intergenerationelle Sorge, die beinhaltet, eine Welt zu hinterlassen, die es den nächsten Generationen ermöglicht, ein gutes Leben zu führen, welches wiederum beinhaltet, ihren nächsten Generationen zu ermöglichen, ein gutes Leben zu führen, usw. Die klimaethische Relevanz dieser Überlegung ist offensichtlich. So ergibt sich aus derselben Überlegung umgekehrt die Pflicht, Dinge zu unterlassen, die dazu führen, dass die kommenden Generationen unserer Generation vorwerfen müssten, dass wir sie in eine Situation gebracht haben, in der sie den nach ihnen Kommenden noch schwerere Lasten aufbürden müssen oder in der ihnen ein Sorgen für die nach ihnen Kommenden praktisch unmöglich wird.

Insbesondere die zweite Überlegung in Thompsons Ansatz schließt an die Moralphilosophie Kants an, wenn auch indirekt: Ausgehend von der vernünftigen Selbstbestimmung moralischer Subjekte werden moralische Pflichten begründet. Thompson verweist dabei vor allem auf Thomas Scanlon, der sich wiederum explizit auf Kant bezieht und seinen Ansatz als eine Fortentwicklung von Kants Moralphilosophie versteht. Die Pflichten, die jemand gegenüber anderen hat, sind für Scanlon nicht die, die andere ihm faktisch auferlegen, indem sie zwingende Forderungen stellen, Erwartungen haben etc. Es sind auch nicht die Pflichten, die formal einen Universalisierungstest bestehen. Es sind vielmehr diejenigen Pflichten gemeint, die aus einer Anerkennung der Gründe fließen, von denen wir denken, dass sie auch andere haben können.

Scanlon (1998) hat es ungefähr so formuliert: Wir müssen in unserem Handeln anderen gegenüber diejenigen Prinzipien befolgen, von denen wir annehmen können, dass die anderen sie nicht vernünftigerweise zurückweisen müssen. Eine Handlung ist falsch, wenn sie gemäß einem Set an Gründen und Prinzipien unzulässig wäre, welches nicht vernünftigerweise zurückgewiesen werden könnte. Eine Handlung ist rechtfertigbar, wenn sie nicht aus Gründen und Prinzipien erfolgt, von denen ich erwarten muss, dass sie die anderen ablehnen müssten. Die anderen, an die ich dabei denke, sind primär diejenigen, die von den Handlungen betroffen sind.

Das sind nicht allgemeine Argumentationsfiguren oder verallgemeinerte Andere, sondern es sind, zumindest wie ich Scanlon lese, durchaus die konkreten Anderen im Sinne von Seyla Benhabib (1992), zu denen wir durch unsere Praktiken in Beziehungen stehen. Diese Anderen zählen allerdings unabhängig davon, wann sie leben, und ob wir bereits wissen, wer sie sind. Die Motivation, die ich den Anderen durch diese Überlegung unterstelle, ist dieselbe, wie ich sie selbst habe, wenn ich über Moral nachdenke. Ich achte auf Gründe und Regulierungen, die andere, wenn sie ähnlich motiviert sind, nicht vernünftigerweise zurückweisen können (Scanlon 1998, S. 4). Daraus ergeben sich die Pflichten, die wir anderen gegenüber haben: „what we owe to each other“, so der Titel seines Buches. Indem die Perspektive der betroffenen Anderen im eigenen Denken Berücksichtigung findet, respektieren wir sie. Oder man könnte sogar sagen, wir fürchten ihr Urteil selbst dann, wenn keine Gefahr besteht, zu Lebzeiten von ihnen noch belangt zu werden.

3.5 Der Standpunkt der Verletzbaren

Aus der Verknüpfung dieser drei Überlegungen ergeben sich eine Reihe von substantiellen Thesen zur intergenerationellen Verantwortung und Gerechtigkeit. Wenn gegenwärtige Akteure vernünftig sein wollen, können sie ihre Verantwortung nicht aus guten Gründen auf die gegenwärtig lebende Generation beschränken. Sie haben die Pflicht, die Verletzbarkeit und Verantwortungsfähigkeit aller Menschen zu beachten, die von den Handlungen und Praktiken absehbar betroffen sind, die sie ausüben, schlicht in allen Generationen: „This means that we are obliged to take into account the situation and point of view of vulnerable people and those who care for them in reasoning about our individual and collective responsibilities. It also means that we are obliged to take into account interests of people of all generations.” (Thompson 2014, S. 173) Der Ausdruck vulnerable people beinhaltet, wie deutlich wurde, keine Einschränkung auf bestimmte besonders schutzbedürftige Gruppen von Menschen (z.B. Kinder, nicht Urteilsfähige usw.), wie das etwa im Sprachgebrauch der Forschungsethik üblich geworden ist (Hurst 2008), sondern ist eine allgemeine Charakterisierung von Menschen hinsichtlich ihrer Handlungen und Praktiken. Nachfahren sind in Bezug auf die Handlungen und Praktiken Gegenwärtiger vulnerabel; Gegenwärtige sind vulnerabel in einem gleichsam auf sie aus der Zukunft zurückfallenden Blick.

In dem Zusatz „and those who care for them“ (Thompson 2014, S. 173) zeigt sich die Nähe Thompsons zur feministischen Philosophie, speziell zur Care-Ethik. Thompson reicht es nicht zu zeigen, dass wir eine Pflicht haben, auf Handlungen zu verzichten bzw. Praktiken zu verändern, wenn wir wissen, dass sie Menschen in der ferneren Zukunft beeinträchtigen. Diese Pflicht besteht nicht nur ihnen direkt gegenüber, sondern auch gegenüber denen, die für sie sorgen werden und deshalb darunter leiden werden, dass das Leben der von ihnen Versorgten nicht gut werden kann.

Diese Einsicht führt Thompson zur Forderung, nicht nur Minimalbedingungen für ein lebenswertes Leben zu erhalten, sondern auch einen Anspruch der zukünftigen Generationen zu akzeptieren, ihnen diese Dinge zu ermöglichen, von denen wir aus guten Gründen annehmen müssen, dass jede zukünftige Generation in ihren Genuss kommen soll („that we have reason to believe people of every future generation ought to enjoy“, Thompson 2014, S. 175). Das heißt, dass sich die intergenerationellen Pflichten nicht nur auf das Negative beschränken können, also auf Handlungen zu verzichten, die ihnen Schaden zufügen könnten, oder darauf, ihnen nur das Nötigste zu hinterlassen, damit gerade ihre Grundbedürfnisse gestillt sind. Sie umfassen auch die Pflicht, etwas dafür zu tun, dass sie und ihre eigenen Nachkommen die Fähigkeiten und Möglichkeiten haben werden, Dinge zu tun, von denen wir gute Gründe haben anzunehmen, dass sie sie für das gute Leben als wesentlich erachten: „it is not enough to ensure that our successors have the necessities of life. They are also entitled to enjoy things of value. This means that they should have an opportunity to appreciate things that we have reason to regard as good.” (Thompson 2010, S. 10f.)10

In Verteidigung gegen einen möglichen Vorwurf betont Thompson, dass ihr Ansatz nicht so verstanden werden sollte, dass die eigenen Nachkommen gegenüber den Nachkommen anderer bevorzugt werden, oder dass die eigene Community mehr zählt als Communities anderswo auf der Erde. Der gegen kommunitaristische Ansätze gerichteten Kritik begegnet sie, indem sie auf die globale Vernetzung der Gemeinschaften hinweist: „In a global society the intergenerational projects of many people are shared with individuals and groups in other countries or depend on their cooperation.“ (Thompson 2017, S. 324) Um zu gewährleisten, dass alle unsere Verpflichtungen gegenüber Menschen in anderen Ländern erfüllt werden können, sollten wir globale Institutionen aufbauen, die alle Staaten einbinden. „The relational approach to intergenerational justice is not inherently partial.” (Thompson 2017, S. 324)

Konkretisiert auf die Klimaethik bedeutet das erstens, dass alle unsere Nachfahren, gleichgültig ob sie räumlich und zeitlich nah oder fern sind, zählen, wenn wir unsere moralischen Verpflichtungen bestimmen. Eine Einschränkung rechtfertigt sich bloß nach Maßgabe unserer Macht zur Schädigung („to the extent that we have the power to harm“; Thompson 2014, S. 176): Wo diese Möglichkeit zur Schädigung (bzw. zur Vermeidung der Schädigung) nicht besteht, ergibt sich prima facie kein Grund für die Annahme von Pflichten. Insoweit die Schädigung des Klimasystems mit der eng mit den klimatischen Bedingungen verbundenen Biosphäre die Lebensbedingungen der zukünftigen Generationen umfassend gefährdet, sehe ich keine Gründe für eine Einschränkung von der Pflicht zum Schutz des Klimas und zur möglichst raschen Abkehr von klimaschädlichen Praktiken. Denn Zukünftige haben, wie wir sagen, ‚jeden Grund‘ (also sehr gute Gründe) abzulehnen, was die gegenwärtige Generation tut (und schon mit weniger schwerwiegenden Effekten die vergangenen getan haben), wenn sie Treibhausgase in einem Maß emittieren, das deutlich über den sicheren klimatischen Bereich hinaus reicht.

3.6 Die Pflicht zum Klimaschutz

Wir Gegenwärtige haben den kommenden Generationen gegenüber eine mit vernünftigen Gründen nicht abweisbare moralische Pflicht zum Klimaschutz. Negativ gewendet heißt das: Die Verletzung wesentlicher Pflichten anderen gegenüber ist Unrecht. Das Prinzip der Gerechtigkeit wird verletzt – so lässt es sich mit Thompson sagen: „by destroying environmental resources or by causing them to be destroyed as the result of unfair agreements or by other forms of economic exploitation.“ (Thompson 2014, S. 176) Es ist den Jüngeren und ihren Nachfahren gegenüber Unrecht, eine Verletzung ihrer Rechte, die Biosphäre und das Klima zu schädigen.

Umweltprobleme, heute speziell die Klimakrise, bilden, wie es Thompson in Intergenerational Justice ausdrückt, eine Art „Testgelände“ (Thompson 2009, S. 145) für jede Theorie der Gerechtigkeit zwischen Generationen. An ihnen erweist sich, ob und wie weit ihre Begründungen tragen und wie sensibel sie sind für die berechtigten Anliegen der Zukünftigen gegenüber den Gegenwärtigen für eine intakte Umwelt.

In Weiterführung dieses nun in den Grundzügen dargelegten Arguments könnte höchstens ein Verständnis dafür eingeräumt werden, dass die Gegenwärtigen selbst auch leiden, nämlich unter den Handlungszwängen, die sie von ihren Vorfahren übernommen haben, von denen sie erkennen, dass sie in der Zukunft schädlich sind. Das verstärkt aber nur die Gültigkeit der Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass Zukünftige nicht noch stärker eingeschränkt sind und ihren Nachfahren noch schlimmere Einschränkungen überlassen müssen.

Nachdem nun zentrale Elemente von Thompsons Ansatz zur intergenerationellen Ethik, speziell zur Klimaethik erklärt wurden, wende ich mich nun zwei kritischen Fragen zu: Wird durch den Scanlonianismus eine Vertragstheorie adoptiert? Und wie stark kann die normative Bindungskraft der Pflichten sein?

4. Diskussion

4.1 Scanlons ‚Kontraktualismus‘

An einigen zentralen Stellen bezieht sich Thompson, wie dargestellt wurde, affirmativ auf Thomas Scanlons Ansatz zu einem ‚moralischen Kontraktualismus‘.11 Leser:innen, die mit Scanlon nicht vertraut sind, muss dies vielleicht irritieren, weil es so verstanden werden könnte, dass Thompsons Argumente eine Form von Vertragstheorie voraussetzen, speziell die Vertragstheorie von Scanlon. Vertragstheorien sind ja – wie die meisten Moraltheorien in der philosophischen Fachdebatte – umstritten (vgl. Southwood 2009; Ashford/Mulgan 2018). Wenngleich hier keine systematisch Analyse der Bezüge zwischen Scanlons Werk und Thompsons Theorie der intergenerationellen Gerechtigkeit vorgelegt werden kann, möchte ich an dieser Stelle klären, ob der Einwand einer Abhängigkeit von einer vertragstheoretischen Prämisse aus dem Weg geräumt werden kann.

Als ‚moralische Vertragstheorien‘ bezeichnet man allgemein diejenigen Ansätze der Ethik, welche die Richtigkeit und Falschheit unseres Handelns in Begriffen einer hypothetischen oder aktuellen Übereinkunft (agreement) verstehen (Southwood 2009). Es ist aber nicht klar, in welcher Weise Scanlons Ansatz an eine Übereinkunft appellieren soll. Das Wort „contractualism“ hat seinen Ursprung in den Ansätzen, mit denen sich Scanlon bei der Entwicklung seines eigenen Ansatzes befasste, also bei Kant, Rawls, Hare, Habermas und anderen. Aber seine Konzeption von moralischem Denken lässt sich so interpretieren, dass der Vertrag letztlich obsolet wird.

Man könnte den von ihm selbst gewählten Titel „contractualism“ als Grund nehmen für die Vermutung, dass er zwar nicht auf einen aktuellen oder hypothetischen Vertrag aufbaut, aber doch auf der Idee einer Übereinkunft, die zum Gegenstand hat, was andere Leute vernünftigerweise unter den gegebenen Bedingungen zurückzuweisen müssten.

Scanlon selbst ist jedoch gegenüber dieser Auslegung kritisch, wenn er darauf angesprochen, in einem Interview mit Alex Voorhoeven seine Idee erklärt, dass sie keine wirklich oder vorgestellte Übereinkunft behinhaltet: „So the idea does not really involve actual or imagined agreement.“ (Scanlon 2009, S. 184; Herv. CRS) Er präzisiert die Idee der vernünftigen Ablehnung dann so, dass damit nicht die Vorstellung gemeint sei, was Leute unter bestimmten Bedingungen ablehnen oder akzeptieren würden. „Rather, what’s involved is an act of judgment about what it would and would not be reasonable for them to reject under those circumstances.” (Scanlon 2009, S. 184; Herv. i. Orig.) Wir möchten zwar unser Handeln anderen gegenüber rechtfertigen. Aber nur selten können wir ein wirkliches Einverständnis erreichen. Scanlon scheint deshalb nicht behaupten zu wollen, dass wir ein ‚hypothetisches‘ Einverständnis voraussetzen müssten. Denn wie könnten wir wissen, welches ihre Motive sind? Das wäre sogar eine paternalistische Vereinnahmung, die wir gerade mit Scanlons eigenem Argument zurückweisen müssen. Scanlon bleibt bei der Rechtfertigung im eigenen moralischen Denken der handelnden Person, wenn er verlangt, dass sie prüfen, ob ein Prinzip nicht vernünftigerweise zurückgewiesen werden könnte. Sein Ansatz ist in dieser Hinsicht, wie er selbst einräumt, „monologisch“ (Scanlon 1998, 394, FN 5).

Die Annahme ist lediglich, dass die Betroffenen ebenfalls Vernunftwesen sind, die mit dem vernünftigen Denken, das wir kennen und ausüben, nicht in komplettem Widerspruch stehen. In der Prüfung, ob die Prinzipien, auf die wir uns berufen, von anderen vernünftigerweise zurückgewiesen werden könnten oder in unserer eigenen Sicht müssten, unterstellen wir den anderen nicht ein bestimmtes Set von Werten und Vorlieben oder eine bestimmte ‚Rationalität‘, sondern bloß die Absicht, die auch uns selbst trägt, nämlich herauszufinden, was andere aus vernünftigen Gründen nicht ablehnen könnten (Scanlon 1998, S. 191). Wir können und müssen nicht wissen oder annehmen, wie sie tatsächlich denken werden. Wir müssen aber sorgfältig prüfen, ob wir annehmen müssen, dass sie ein Prinzip aus guten Gründen zurückweisen müssten oder nicht zurückweisen könnten.

Dieser Interpretation von Scanlons Ethik folgt Thompson, wenn sie das Wesen der Theorie intergenerationeller Gerechtigkeit folgendermaßen erklärt: Sie ist nicht eine Konzeption der alle Generationen zu allen Zeiten aus Gründen zustimmen werden, sondern eine Konzeption, von der wir aus unserer Perspektive denken, dass sie sie aus guten Gründe akzeptieren sollten („a theory of intergenerational justice should not be thought of as something that all generations, whenever they exist, will find reason to accept. It is a theory about what we think, from our perspective, that all generations ought to accept – and this is a different matter.” - Thompson 2009, S. 22). Der Vertrag ist für sie selbst (und wie sie meint auch für Scanlon) „eine Metapher“ (Thompson 2009, S. 22) für das ‚moralische‘ Verständnis zwischenmenschlicher Beziehungen. Daraus schließe ich, dass durch die Referenz zu Scanlon keine vertragstheoretische Voraussetzung eingeführt wird.

4.2. Normative Bindungskraft

Thompsons Vorschlag zur intergenerationellen Gerechtigkeit unterscheidet sich von anderen Ansätzen, die auch im klimaethischen Kontext verwendet werden, in der Lokalisierung der Quelle der normativen Bindungskraft. Es sind die intergenerationellen Beziehungen, aus denen die Verantwortung und die Pflichten stammen. Aus den Beziehungen erwächst eine bindende Kraft normativer Einsichten, nicht erst über den Umweg einer rationalen Begründung. Die rationale Erörterung ist vielmehr eine Heuristik, um die normative Bindungskraft der Beziehungen zu erkennen und um sie für konkrete Situationen zu spezifizieren.

Andere Ansätze tendieren dazu, der rationalen Argumentation selbst die Bindungskraft zuzuerkennen: Rationale Akteure sind an rational überzeugende Begründungen gebunden. Sie müssen dann von nichtrechtfertigbaren Handlungen absehen, oder zumindest zugeben, dass diese illegitim sind. Ansonsten verliert ihr Vernunftanspruch seine Glaubwürdigkeit. Thompson hingegen besteht darauf, dass humanitäre Verpflichtungen, einschließlich die Pflichten gegenüber zukünftigen Personen nicht ohne Bezug zu Beziehungen im intergenerationellen Kontinuum richtig verstanden werden können. Es handelt sich um Pflichten zur Sorge oder um sorgende Pflichten. Dies gilt sowohl für die individuellen Pflichten als auch für die kollektive, politische Verantwortung.

Sie scheint aber der Auffassung zu sein, dass sich diese beiden Begründungswege gegenseitig nicht ausschließen. Sie können als komplementär angesehen werden und ihre Kraft kann sich gegenseitig verstärken. Wenn ein Sollen sowohl aus einer relationalen moralischen Ontologie heraus erwächst (s. dazu besonders Thompson 2020), wie es sich auch aus dem vernünftigen Argument selbst ergibt, müsste seine Wirksamkeit umso kräftiger sein. Als Heuristik, um konkrete und spezifische Pflichten zu ermitteln, verwendet Thompson die vernunftbasierte Argumentation – nach dem von Scanlon vorgeschlagenen Muster. 12

Damit lässt sich vielleicht auf die von Ruth Makoff und Rupert Read (2021) als „motivational gap“ bezeichnete Schwierigkeit antworten. Während bei Gerechtigkeitsproblemen innerhalb einer kontemporären Generation eine fürsorgliche Haltung und die aus ihr entspringende Wahrnehmung der Bedürfnisse der Schwächsten eine Motivationsgrundlage für die Erfüllung von Pflichten ist, ist es schwieriger, für zukünftige Personen, die noch nicht existieren, oder für räumlich oder zeitlich weit entfernt lebende Personen fürsorgliche Affekte zu entwickeln. Das bewirkt, wie Makoff und Read zu Recht ausführen, dass Gerechtigkeitsargumente zukünftigen Generationen gegenüber abstrakt bleiben und weniger Motivationskraft entfalten. Allerdings sind Thompsons Fürsorgepflichten als motivierende Pflichten konzipiert („Morality can be motivating“; Thompson 2010, 18). Dies lässt sich innerhalb von Fürsorgebeziehungen durchaus verstehen: Ältere Menschen sind motiviert, das zu erfüllen, was sie als ihre Pflichten den Kindern gegenüber ansehen. Diese Motivation reicht weit über Eltern-Kinder-Beziehungen und über das nahe Umfeld hinaus und umfasst auch Handlungen, die entfernt lebende Kinder betreffen, sowie indirekt die Sorge, die diese wiederum für ihre Kinder haben. Die Sorge betrifft ihr Selbstverständnis, ihre Identität. Denn die Sorge für die Menschen, die weiterleben, ist ein Ziel im eigenen Leben. Diese Sorge erfüllt unsere Welt und unser Streben mit Sinn. Die Erfüllung von Pflichten gegenüber Zukünftigen gewinnt eine zusätzliche Motivationskraft, wenn man erkennt, dass sie sich konkret auch auf die Nachfahren richten, mit denen wir in intergenerationellen Beziehungen leben.

Das Klimaproblem ist aber nicht nur ein Problem der Beziehungen mit unverbundenen entfernten Nachfahren, für die wir keine erkennbaren Fürsorgepflichten haben. Im intergenerationellen Staatswesen sind alle Zukünftigen mehr oder weniger nah mit uns verbunden. Die Klimaethik muss auch nicht von einer weit entfernten Zukunft aus denken, denn schon die nächsten Jahrzehnte sind für die Entwicklung des Klimas entscheidend; die Szenarien des 6. Berichts des Weltklimarats reichen gerade bis zum Ende des 21. Jahrhunderts (IPCC 2022, S. 35), also bis zum Ende des Zeitraums, der von heute bereits geborenen Kindern durchlebt wird.

Wie auch Makoff und Read (2022) zu Recht betonen, können sich Gerechtigkeits- und Fürsorgeargumente wechselseitig stützen. Thompsons Einsatz ist in dem Punkt dezidiert feministisch, weil sie auf die notwendigen Veränderungen der Machtverhältnisse pocht, die es verunmöglichen, der Sorge für Nachkommen und Nachfahren bei relevanten Entscheidungen adäquates Gewicht zu geben (vgl. Tronto 1993).

5. Schluss

Wegen der zeitlichen Verschiebung zwischen den ‚Generationen‘ und weil es keine Ursachen gibt, die in die Vergangenheit zurückwirken, wird die kausale Verbindung in der Klimaethik meist nur einseitig angesetzt: von der gegenwärtigen zur zukünftigen Generation (am deutlichsten Gardiner 2003). Es gibt aber entgegen dieser Vermutung Formen von reziproker Kausalität. Dies ist der Fall, soweit die zukünftigen Generationen mit der gegenwärtigen Generation überlappen. Nachkommen führen Projekte weiter, die Ältere begonnen haben, sie tragen berechtigte Anliegen der Gegenwärtigen weiter, wahren ihre Würde usf.

Es gibt aber auch eine reziproke moralische Betroffenheit. Wenn Kinder oder Kindeskinder wegen verschlechterter Lebensbedingungen, die auf das Handeln oder Unterlassen Gegenwärtiger zurückzuführen sind, nicht gut werden leben können, und die Gegenwärtigen bereits absehen und erwarten müssen, dass sie dies nicht nur nicht tun können, sondern dass sie unter den Auswirkungen des gegenwärtigen Handelns leiden werden, so sind auch die Gegenwärtigen von den Lebensbedingungen der Zukünftigen moralisch betroffen. Ihr vorhergesehenes und befürchtetes Leiden wirkt sich bereits in der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit aus.

Dass es eine Verantwortung Gegenwärtiger für das Wohl zukünftiger Generationen gibt, ist ja keineswegs ein neuer Gedanke. Robin Attfield (2017) zitierte eine Stelle bei Dante Alighieri (ca. 1265 – 1321), in welcher dieser eine Pflicht zum Arbeitseinsatz für die Nachwelt formulierte, sodass die zukünftigen Generationen bereichert werden, wie sie selbst durch die Anstrengungen vergangener Generationen bereichert wurden. 1992 verlangen die UN-Rahmenkonventionen zum Klimawandel und zur Biodiversität den Schutz zukünftiger Generationen. 1997 wurde die intergenerationelle Verantwortung in der UNESCO noch einmal zum Thema einer speziellen „Declaration on the Responsibilities of the Present Generations Towards Future Generations“ gemacht. Diese Dokumente binden die Staaten in eine Verantwortung für das Wohl ihrer Nachfolgegenerationen. Die kontinuierliche Verschärfung des anthropogenen Klimawandels in der Zeit nach 1992 zeigt aber, dass diese Verantwortung offensichtlich bisher nicht eingelöst wurde. Janna Thompsons Ansätze können helfen, diese Verantwortung und die aus ihr erwachsenden Pflichten zu erkennen.

Erklärungen der intergenerationellen Pflichten sind nötig, weil eine normative Wirkung der genannten internationalen Übereinkommen (z.B. einer Charta der Menschenrechte) von der Einsicht abhängt, dass sie sich auf ein moralisches Verpflichtungsverhältnis beziehen, das unabhängig vom Übereinkommen bereits gilt und in diesem lediglich explizit formuliert und damit festgehalten wird. Aus welchen Gründen, für wen genau und wie weit dieses Verpflichtungsverhältnis aber besteht, ist klärungsbedürftig (vgl. Müller-Salo 2017; Gardiner 2022). Intergenerationelle Verantwortung schließt nicht nur die eigenen Kinder und Kindeskinder ein, mit denen Menschen familiäre Bande teilen, sondern auch kulturell, räumlich und zeitlich weiter entfernte Individuen und Gruppen.

Ich habe zu zeigen versucht, dass im Werk von Janna Thompson in Grundzügen ein Vorschlag zum Verständnis intergenerationeller Gerechtigkeit vorliegt, der sich lohnt, weiter erkundet und ausgebaut zu werden. Sie hat (1) das Zusammenleben von Menschen in einer konsequent diachronen Perspektive als intergenerationelles Kontinuum beschrieben, in dem komplexe Geflechte von Beziehungen in Richtung Vergangenheit und in Richtung Zukunft, zu Vor- und Nachfahren bestehen. (2) Die intergenerationelle Verflochtenheit gehört zu den Bedingungen des menschlichen Daseins und zeichnet die menschliche Sozialität aus. (3) Diese intergenerationelle Ontologie ist als moralische Ontologie zu verstehen, weil sich innerhalb der intergenerationellen Beziehungen Abhängigkeiten und Vulnerabilitäten ergeben, die Verantwortungs- und Sorgeverhältnisse auslösen. (4) Wenn im modernen Rechtsstaat freiheitseinschränkende Normen durch den Schutz der berechtigten Interessen der Bürger:innen begründet werden, so müssen auch die Interessen geschützt werden, die sich temporal entwickeln und über ihre Lebenszeit hinausweisen. (5) Um zu klären, welche moralischen Pflichten Gegenwärtige den Zukünftigen gegenüber haben, muss geprüft werden, ob die Leitprinzipien gegenwärtiger Praktiken den zukünftig von ihnen Betroffenen gegenüber zu rechtfertigen sind. Handlungen sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie nicht auf Prinzipien rekurrieren, bei denen Gegenwärtige sehen könnten, dass sie die Zukünftigen, wenn sie ähnlich motiviert sind, zurückweisen müssten. Ebenso muss geprüft werden, ob die Prinzipien, nach denen wir Gegenwärtige handeln, auch von uns akzeptiert werden könnten, wenn sie unsere Vorfahren benutzt hätten. Praktiken, die das Wohl Zukünftiger vermindern oder gefährden, sind ungerecht, insoweit Gegenwärtige nicht wünschen oder wollen können, dass frühere Generationen ihnen gegenüber ähnliche Praktiken unterhalten hätten. Generationen sind so normativ miteinander verbunden. (6) Diese Auslegung des intergenerationellen Kontinuums vermeidet (wie einige andere Ansätze auch) das non-identity problem.

So wird besser erkennbar, weshalb die aus dem Lebensstil der Industriegesellschaften entstehenden disruptiven Effekte auf das globale Klima und auf die Biosphäre13 moralisch zu verurteilen sind. Thompson bietet aber durch die diachrone Sichtweise, die sowohl rückwärts in die Vergangenheit als auch vorwärts in die Zukunft blickt, einen Ansatz zum differenzierten Verständnis der Verantwortung der gegenwärtigen Generation, die in Strukturen lebt, die von den Vorgängergenerationen bereits errichtet wurden. Ihre Verantwortung kann präzisiert werden auf das, was in ihrer Macht steht zu tun, um eine schädliche Dynamik aufzuhalten.

Wenn sie das nicht ausreichend tut, wird die gegenwärtige Generation wissentlich zur Komplizin von Unrecht. Nicht nur sind viel mehr individuelle Beiträge zum Klimaschutz möglich, sondern es können Reduktionskorridore festgelegt und international im Kontext von CO2-Budgets fair abgestimmt werden. Außerdem kann die Veränderung übernommener routinisierter sozialer Praktiken und die Transformation wirtschaftlicher Entwicklungspfade angegangen werden. Insofern dies möglich ist oder politisch möglich gemacht werden kann, wird die sorgende Verantwortung der gegenwärtigen intergenerationellen Gemeinschaft zu einer kreativen gesellschaftlichen Aufgabe.

Die Bedeutung des auf der Basis von Thompson entwickelten Ansatzes für die Klimaethik liegt, wie ich dargelegt habe, in einer veränderten Betrachtungsweise und Problemformulierung. Grundlegende Pflichten zum Klimaschutz werden dadurch verdeutlicht. Auch konkretere Normenvorschläge und policies lassen sich auf dieser Grundlage ethisch diskutieren, z.B. die Frage, zu welchem Teil Emissionen weiterhin zulässig bleiben dürfen.

Es sind deshalb ambitioniertere Reduktionsziele zu fordern, wenn man - im Sinn von Thompson - ein diachrones Kontinuum von Angehörigen einander überlappender, miteinander verbundener Generationen annimmt, die füreinander Verantwortung tragen und voneinander abhängig sind: Bei der politisch gutklingenden Strategie “netto null” bleiben so viele Emissionen erlaubt, dass die Gesamtkonzentration an Treibhausgasen ab einem festgelegten Zeitpunkt stabil bleibt, aber nicht zurückgeht. Unter der Annahme, dass dieses Ziel messbar (vgl. Fankhauser et al. 2022) und weltweit durchsetzbar ist, würde der dann erreichte Volatilitätsgrad des Klimas und der Grad der Landüberflutung immerhin nicht noch weiter verschlimmert. Erheblich extremere Wetter als bereits heute und die Zerstörung von Lebensraum für Menschen würden aber hingenommen. Mit dem skizzierten Ansatz wird das gravierende ethische Problem dieser Strategie deutlich: die von der Strategie zugrundegelegten Prinzipien müssten die Betroffenen aus guten Gründen zurückweisen.

Ich danke Niklas Ellerich-Groppe, Dominik Koesling und Kaja Schröder, sowie den anonymen Reviewer:innen für klärende Hinweise am Text. Den Teilnehmer:innen des jährlichen Klimaethik-Blockseminars am philosophischen Seminar der Universität Basel, sowie der Arbeitsgemeinschaft für intergenerationelle Gesundheitsethik (AiG) danke ich für engagierte Diskussionen.

Literatur


  1. Vgl. auch Rehmann-Sutter (in press).↩︎

  2. Der 6. Assessment Report des Weltklimarats fasst die Evidenz wie folgt zusammen: “The cumulative scientific evidence is unequivocal: Climate change is a threat to human well-being and planetary health. Any further delay in concerted anticipatory global action on adaptation and mitigation will miss a brief and rapidly closing window of opportunity to secure a liveable and sustainable future for all. (very high confidence)“ (IPCC 2022, 35)↩︎

  3. Werkgeschichtlich stehen bei Thompson die Untersuchungen zu retrospektiven ethischen Fragen, speziell die Fragen nach historischer Verantwortung und Reparationen für vergangenes Unrecht, am Anfang (Thompson 2002; und dann wieder 2018). Mit ihrer Auseinandersetzung mit der Umweltethik kam zunehmend die Zukunft in den Blick (Thompson 2017a). Ihr Hauptwerk über intergenerationelle Ethik, das beide Dimensionen umfasst, ist die Monographie Intergenerational Justice (Thompson 2009). Den Gesichtspunkt der temporalen Vulnerabilität entwickelt sie vor allem in „Being in Time“ (Thompson 2014). Eine kurze Übersicht über ihr Werk gibt Dodds (2023).↩︎

  4. „Suppose that each group is temporally distinct, no group has any causal impact on any previous group, each group is concerned solely with its own interests, and the interests of earlier groups are independent of the interests of later groups (but not vice versa).” (Gardiner 2003, 483) Vgl. Müller-Salo (2022, 17f.): “Im Folgenden werden Generationen jeweils als in sich relative geschlossene und gegeneinander abgrenzbare Einheiten betrachtet.“↩︎

  5. Ausgehend vom Geborensein Schües (2016); vgl. MacIntyre (1999); Übersichten geben Norlock (2019) und Zigon (2021).↩︎

  6. Thompsons Position lässt sich von einem sog. longtermism abgrenzen, wie er in der „effective altruism“-Diskussion aufgekommen ist (vgl. Crary 2023).↩︎

  7. Zur Soziologie der Generationen vgl. Costanza et al. (2023).↩︎

  8. „Generational cohorts, as I have emphasized, are owed no duties in their own right. Our duties are to their members.” (Thompson 2009, S. 127). Zu verschiedenen Generationenbegriffen vgl. auch Solum (2001).↩︎

  9. Eine Existenzerhaltungspflicht für die Menschheit insgesamt (bei Hans Jonas) ergibt sich daraus eher transitiv d.h. immer jeweils relativ zu einer Folgekohorte. (Danke für diesen Hinweis in einem anonymen Review.).↩︎

  10. Daraus ergeben sich Berührungspunkte sowohl zum Capabilities-Ansatz von Martha Nussbaum und Amartya Sen wie auch zum Sufficientarism von Meyer und Pölzer (2021).↩︎

  11. Vgl. z.B. Thompson (2014).↩︎

  12. Dass die Destabilisierung des Klimas und die Disruption der Biosphäre Unrecht für die zukünftigen Generationen ist, kann grundrechtsdogmatisch über eine „Vorwirkung“ von Grundrechten der noch nicht Existierenden begründet werden. Zum wegweisenden Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts zu Art. 20a Grundgesetz von 2021 vgl. Franzius (2021), Eifert und von Landenberg-Roberg (2022).↩︎

  13. Beides muss im Zusammenhang gesehen werden: Abbasi et al. (2023).↩︎