Unfreiheit ohne Leiden? Zur Vernachlässigung sozialen Leidens in Honneths Theorie sozialer Freiheit

Constraint without suffering? On the neglect of social suffering in Honneth’s theory of social freedom

Zusammenfassung: In Axel Honneths Theorie sozialer Freiheit kann Freiheit im vollen Sinne nur in und durch Partizipation an sozialen Kooperationszusammenhängen verwirklicht werden. Eine Freiheitstheorie müsse daher, so Honneth in Abgrenzung zu liberalen und neokantianischen Konzeptionen, ausgehend von den in modernen Gesellschaften institutionalisierten Kooperationsbeziehungen formuliert werden. Zugleich erlaube es ein solches Vorgehen, Störungen in sozialen Kooperationsbeziehungen als Einschränkungen von Freiheit zu rekonstruieren und entsprechend zu kritisieren. Honneth geht im Unterschied zu seiner früheren Anerkennungstheorie inzwischen jedoch davon aus, dass derartige Funktionsstörungen keine individuellen Leiderfahrungen mehr hervorbringen müssen. Der Beitrag argumentiert hingegen dafür, dass Einschränkungen sozialer Freiheit notwendig zumindest schwache Formen sozialen Leidens nach sich ziehen und greift dafür auf einen von Honneth liegen gelassenen Argumentationsstrang zurück: Um unterscheiden zu können, ob ihre Absichten in der sozialen Kooperation zwanglos oder doch nur zwangsförmig realisiert werden können, müssen Individuen in der Lage sein, ihre Bedürfnisse und Interessen ebenso zwanglos zu deuten. Der Beitrag entwickelt zwei in Honneths Ansatz angedeutete, aber nicht ausgearbeitete Möglichkeiten, jene Selbstdeutungsprozesse zu erhellen: Einerseits Parsons Theorie der Wertverinnerlichung, andererseits Honneths Anerkennungstheorie, welche in der Freiheitstheorie lediglich einen abgeschwächten Status innehat. Da sich die Fähigkeiten zur Selbstdeutung in beiden Ansätzen auf dem Fundament psychologisch tief ansetzender Sozialisationsprozesse ausbilden, muss auch davon ausgegangen werden, dass die von Honneth beschriebenen sozialen Pathologien und Fehlentwicklungen das Verständnis der eigenen Bedürfnisse und Interessen auf eine Weise verzerren, die von den Individuen als leidvoll erfahren wird. Vor diesem Hintergrund lassen sich drei verschiedene Fälle unterscheiden: Unmittelbare Ausschlusserfahrungen, vorübergehende Blockaden der Fähigkeiten zur Selbstdeutung sowie Störungen in der Ausbildung jener Fähigkeiten. Allerdings werden sowohl die Verinnerlichungs- als auch die Anerkennungstheorie den konzeptionellen Prämissen der Theorie sozialer Freiheit nicht vollständig gerecht, sodass es, wie abschließend festgehalten wird, für eine detaillierte Ausarbeitung des Zusammenhangs weiterer konzeptioneller Arbeit bedarf.

Schlagwörter: Kritische Theorie, Soziale Freiheit, Anerkennung, Sozialphilosophie, Sozialtheorie, Soziales Leiden

Abstract: In his theory of social freedom, Axel Honneth argues that freedom can only be realized in and through social cooperation. Accordingly, a theory of freedom must therefore start from an analysis of socially instituted forms of cooperation. This approach not only allows for a reconstruction of normative ideals within modern institutions but also aims at revealing obstacles to their full realization. However, in contrast to his earlier theory of recognition, Honneth now assumes that problematic social developments do not necessarily result in individual suffering. Against this backdrop, the article argues that Honneth’s theory of social freedom needs to account for at least mild forms of social suffering. To achieve this, the article explores a line of argumentation that Honneth's recent approach has left underdeveloped. It will be argued that individuals must be able to interpret their needs and interests without constraints to determine if they can be met through social cooperation. The article develops two possibilities, hinted at in Honneth's theory, to illuminate such practices of self-interpretation: Parsons’ theory of value internalization and Honneth's earlier theory of recognition. Both argue that the ability to interpret one’s needs and interests rests on a psychological foundation laid during early primary socialization. Social misdevelopments and pathologies that distort the understanding and articulation of those needs thus must lead to frustration and, consequently, social suffering. However, since both internalization and recognition theory have clear deficits in the context of a theory of social freedom, the article concludes by calling for further conceptual work on social freedom and suffering.

Keywords: Critical Theory, Social Freedom, Recognition, Social Philosophy, Social Theory, Social Suffering

1. Einleitung

In den letzten Jahren haben verschiedene Autoren unter Rückgriff auf Hegels Rechtsphilosophie versucht, entgegen der Dominanz liberaler und neokantianischer Gerechtigkeitstheorien einen Freiheitsbegriff zu entwerfen, der dezidiert die sozialen Verwirklichungsbedingungen von Freiheit mitumfasst (exemplarisch Honneth 2011; Neuhouser 2000). Besonders umfassend fällt dabei Axel Honneths Das Recht der Freiheit (2011) aus, da er hierin eine konzeptionelle Skizze eines sozialen Freiheitsbegriffs mit der Rekonstruktion sozial wirksamer Normen in modernen Gesellschaften verbindet. Dabei beschränkt er sich nicht lediglich auf formale rechtsstaatliche Verfahren, sondern nimmt institutionalisierte Kooperationsverhältnisse, wie sie sich in persönlichen Beziehungen, in Marktrelationen oder in der politischen Öffentlichkeit finden, in den Blick. Freiheit wird so als institutionell abgesicherte Kooperation nachgezeichnet, in der die Gesellschaftsmitglieder in gegenseitiger Ergänzung ihre Anliegen verwirklichen. Mit Hegel teilt Honneth jedoch nicht nur die Absicht, eine Freiheitstheorie ausgehend von der institutionellen Struktur der sozialen Wirklichkeit zu entwickeln, sondern auch den Anspruch, damit zu zeigen, inwieweit jene Strukturen rational gerechtfertigt werden können – und inwieweit nicht (vgl. auch Neuhouser 2023).

Die kritische Stoßrichtung verbindet Honneths Freiheitstheorie mit seinen früheren Arbeiten, ebenso das Ansinnen, jener Kritik durch den Rekurs auf bereits sozial wirksame Normen ein substanzielleres Fundament zu geben. Da dieses Fundament inzwischen über die Rekonstruktion normativer Ideen gelegt wird, welche von Institutionen im Sinne eines „objektiven Geistes“ (Honneth 2011, 19f) verkörpert werden, rückt die Perspektive der Akteur:innen im Vergleich zu Honneths früheren anerkennungstheoretischen Arbeiten jedoch in den Hintergrund. Die Perspektivverschiebung hat unter anderem zur Konsequenz, dass soziale Leiderfahrungen in der Freiheitstheorie einen geringeren Stellenwert einnehmen (vgl. Schaub 2015, Freyenhagen 2015).1 Ablesen lässt sich das besonders in der für die Kritik zentralen Konzeption von sozialen Pathologien: Diese werden im Sinne von „second-order disorders“ (Honneth 2011, 157; vgl. Zurn 2011) skizziert, worunter eine sozial hervorgebrachte Unfähigkeit der Gesellschaftsmitglieder verstanden wird, sich den rationalen Gehalt institutionalisierter Kooperation anzueignen und an dieser zu partizipieren, weil Freiheit lediglich nach dem individualisierenden Muster rechtlicher oder moralischer Freiheit verstanden wird. Den Betroffenen würden sich jene Reflexionsdefizite vorwiegend in Verhaltenserstarrungen sowie in „schwer greifbaren Stimmungen der Niedergedrücktheit und Orientierungslosigkeit offenbaren“ (Honneth 2011, 158). Honneth verbindet damit die Überlegung, dass bei den Betroffenen keine psychischen oder organischen Störungen vorliegen müssen, um von sozialen Pathologien sprechen zu können – dass also Gesellschaften ‚krank‘ sein können, ohne dass ihre Mitglieder es ebenfalls sein müssen (Honneth 2011, 157).

Daneben deutet sich in der Rede von diffusen Stimmungen2 eine noch stärkere Position an, der zufolge soziale Pathologien von den Betroffenen auch nicht mehr explizit als leidvoll erfahren werden müssen. Diese Position wird von Honneth schließlich in einem späteren Aufsatz explizit vertreten, wenn er mit Verweis auf Émil Durkheims Anomie-Diagnose und Hannah Arendts Kritik des Konsumismus feststellt, dass „Absonderlichkeiten des sozialen Lebens“ Anlass für eine soziale Pathologiediagnose sein können, auch wenn sie „kein individuelles Leid verursachen“ (Honneth 2014a, 51). Dass soziale Pathologien und Fehlentwicklungen nicht zwangsläufig als negativ erfahren werden müssen, bekräftigt Honneth zudem noch einmal in Reaktion auf Kritiken (vgl. Honneth 2015b, 216). Nicht nur psychische Störungen, sondern auch Leiderfahrungen wären dann, wie es Frederick Neuhouser jüngst zusammenfasste (Neuhouser 2023, 3), weder hinreichende, noch notwendige Bedingungen dafür, dass eine soziale Pathologie vorliegt.

Dagegen möchte der Beitrag zeigen, dass zumindest die stärkere Position fraglich ist und gerade die Verankerung des Freiheitskonzepts in institutionalisierter Kooperation eine engere Verknüpfung von Freiheitspathologien und Leiden erfordert, als Honneth in seinen Überlegungen zulässt. Soziale Pathologien und Fehlentwicklungen müssen auch in Honneths Freiheitstheorie, so könnte man die leitende These zuspitzen, notwendig mit Leiden einhergehen. Begründen lässt sich die These mit einem genaueren Blick auf die von der Freiheitstheorie vorausgesetzten Beziehungen, die Gesellschaftsmitglieder zu sich selbst unterhalten. Honneth geht davon aus, dass freiheitsverbürgende Institutionen von der zwanglosen Zustimmung der an ihnen beteiligten Subjekte abhängig sind, die Zwecke der Kooperation also nicht über ihre Köpfe hinweg festgelegt werden können, ohne die Ansprüche einer Freiheitstheorie zu verletzen (vgl. dazu Honneth 2011, 224-227). Das setzt aber voraus, dass sich die an der Kooperation Beteiligten über ihre Bedürfnisse und Anliegen ausreichend Klarheit verschaffen können. Honneth betont zwar, dass hierfür rechtliche und moralische Freiheitsgarantien wichtig sind, verwendet darüber hinaus aber kaum Aufmerksamkeit auf die Bedingungen, unter denen sich die Fähigkeiten zur zwanglosen Deutung der eigenen Wünsche und Bedürfnisse und somit zur Zustimmung zu sozialer Kooperation herausbilden. Nimmt man jene Bedingungen in den Blick, so zeigt sich, dass soziale Pathologien auch die Fähigkeit zur Selbstdeutung untergraben müssen. Das ist nicht nur für die Möglichkeit ungezwungener Zustimmung problematisch, sondern schränkt auch die Realisierungschancen der eigenen Bedürfnisse ein, was einen engeren Zusammenhang von Freiheitspathologien und psychischem Leid nahelegt. Eine Ausarbeitung des Verhältnisses würde nicht nur die psychische Beteiligung der Subjekte an den von Honneth betrachteten institutionellen Strukturen klären, sondern auch die praktische Motivation zur Veränderung derselben, sollten sich diese als nicht zustimmungsfähig erweisen.3

Um die skizzierten Punkte auszuführen, wird zunächst Honneths Ansatz in Das Recht der Freiheit knapp rekonstruiert und die damit einhergehende Leerstelle hinsichtlich der Subjektformation herausgearbeitet (2.). Die Freiheitstheorie bietet bereits zwei Ansätze an, welche über theoretische Ressourcen zur Erhellung des Selbstverhältnisses verfügen: Da Honneth freiheitsverwirklichende Institutionen unter Rückgriff auf Parsons‘ mittlere Phase als relationale Institutionen fasst, ließe sich das Selbstverhältnis unter Rückgriff auf dessen Persönlichkeitstheorie klären. Zum anderen wäre es auch möglich, der Anerkennungstheorie im Rahmen der Theorie sozialer Freiheit einen größeren Stellenwert einzuräumen. In beiden Ansätzen werden die Fähigkeiten zur Deutung der eigenen Antriebe und Bedürfnisse auf Grundlage eines psychologischen Konzepts des Selbst skizziert, welches explizit leidvolle Konsequenzen von Störungen vorsieht (3.). Vor diesem Hintergrund lassen sich drei Möglichkeiten nachzeichnen, durch die Störungen in den Sphären sozialer Freiheit Leid hervorrufen (4.). Allerdings zeigt sich hier auch, dass sowohl Parsons‘ Persönlichkeitstheorie als auch die Anerkennungstheorie nur eingeschränkt in der Lage sind, die Ansprüche an Selbstdeutungsprozesse im Rahmen einer Theorie sozialer Freiheit einzulösen (5.).

2. Freiheitstheorie als Gesellschaftstheorie

Um eine Freiheitstheorie ausgehend von der institutionellen Struktur moderner Gesellschaften entwickeln zu können, muss vorausgesetzt werden, dass Freiheitsideen in den untersuchten Institutionen auch tatsächlich systematisch eine Rolle spielen. Daher geht Honneth mit dem mittleren, strukturfunktionalistischen Parsons davon aus, dass „die jeweilige Form der sozialen Reproduktion einer Gesellschaft durch gemeinsam geteilte, allgemeine Werte und Ideale bestimmt ist“ (Honneth 2011, 30). Damit ist gemeint, dass es Gesellschaftsmitgliedern gelingt, ihre Handlungen zu koordinieren und soziale Ordnung zu reproduzieren, weil sie sich an sozial instituierten Normen und Werten orientieren. Die Normen, welche die Sozialintegration regeln, sollen außerdem die Ansprüche prägen, die Individuen gegen institutionalisierte Regelungen geltend machen können (vgl. Honneth 2011, 19). Indem Honneth so die Reproduktion der Gesellschaft tendenziell mit Wertverwirklichung zusammenfallen lässt, weicht er nicht nur deutlich von neueren Institutionstheorien ab,4 sondern verwehrt sich anders als etwa Habermas auch der funktionalistischen Annahme, dass die Koordinierung wirtschaftlichen und staatlichen Handelns unabhängig von Normen vonstattengeht.

Vor diesem sozialontologischen Hintergrund lässt sich der von Honneth entwickelte Freiheitsbegriff in einer ersten Annäherung als eine intersubjektive Kooperationsbeziehung fassen, in der die Tätigkeiten einer Person so auf die der anderen Person abgestimmt sind, dass sie sich in der Realisierung ihrer Zwecke wechselseitig ergänzen und vervollständigen (Honneth 2011, 225). Andere Subjekte erscheinen hierbei nicht als Grenze der eigenen Freiheit, sondern vielmehr als deren „Erfüllungsbedingung“ (Honneth 2011, 222), wodurch die Verwirklichung der eigenen Absichten als etwas erfahren wird, das „sich vollkommen ungezwungen und daher ‚frei‘ vollzieht, weil es innerhalb der sozialen Wirklichkeit von anderen erwünscht oder erstrebt wird“ (Honneth 2011, 222). Mit der Charakterisierung von sozialer Freiheit als kooperativem Ergänzungsverhältnis sieht Honneth Hegels Absicht aktualisiert, die äußeren Bedingungen, unter denen die Bestimmung und Realisierung subjektiver Zwecke vonstattengeht, so in den Freiheitsbegriff zu integrieren, dass das Subjekt auch „im Anderen bei sich selbst sei“ (Hegel 1986, 57). Da allerdings intersubjektive Beziehungen besonders dann, wenn das soziale Band nicht auf persönlicher Bekanntschaft wie in Familie oder Freundschaft beruht, zu flüchtig wären, um verlässliche Bedingungen für die gemeinsame Realisierung von Freiheit zu stiften, bedarf es einer institutionellen Absicherung, welche Honneth unter Rückgriff auf Parsons als „relationale Institutionen“ (Parsons 1964c, 51; vgl. Honneth 2011, 224f) fasst. Diese legen die bereichsspezifischen Zwecke der Kooperation sowie die Rollenerwartungen fest, welche die Teilnehmer:innen in sozialen Kooperationszusammenhängen aneinander richten. Erst mit der Verankerung in einer objektiven institutionellen Struktur könne im eigentlichen Sinne von sozialer und nicht lediglich von intersubjektiver Freiheit gesprochen werden (vgl. Honneth 2011, 86).

Auf dieser Grundlage bestimmt Honneth sein weiteres Vorgehen nun folgendermaßen: Welche „sozialen Sphären welchen Beitrag zur Sicherung und Verwirklichung der gesellschaftlich bereits institutionalisierten Werte leisten“ (Honneth 2011, 25), soll nicht bloß theoretisch, sondern konkret mithilfe eines Verfahrens herausgearbeitet werden, das Honneth „normative Rekonstruktion“ (Honneth 2011, 24) nennt und welches eigentlich im Zentrum von Das Recht der Freiheit steht. Honneth orientiert sich dabei am Schema von Hegels Rechtsphilosophie (vgl. Hegel 1986, 306) und betrachtet hauptsächlich die bereichsspezifische Verwirklichung von sozialer Freiheit mit Blick auf Familie, Markt und demokratischer Öffentlichkeit. In jeder dieser Sphären gelange eine andere Klasse von Absichten zur kooperativen Vervollständigung: In familiären und freundschaftlichen Intimbeziehungen die eigene Bedürfnisnatur und Persönlichkeit, in Marktbeziehungen die eigenen Interessen und in politischen Beziehungen schließlich die persönlichen Überzeugungen und entsprechenden Zielsetzungen für die Einrichtung des Zusammenlebens. Auf Grundlage dieser Rekonstruktion soll auch ersichtlich werden, wo gesellschaftliche Institutionen den in ihnen verkörperten Normen nur unvollständig gerecht werden – daraus ergebe sich die Möglichkeit einer „rekonstruktiven Kritik“ (Honneth 2011, 28), welche die gesellschaftlichen Institutionen an ihren eigenen, aber verfehlten Ansprüchen misst.

Dass angesichts der widersprüchlichen Pluralität von Wertorientierungen in modernen Gesellschaften gerade Autonomie im Zentrum (vgl. Honneth 2011, 35) von Honneths „Gerechtigkeitstheorie als Gesellschaftsanalyse“ (Honneth 2011, 14) steht, und nicht etwa die ebenfalls in der Moderne systematisch formulierten Werte der Gleichheit oder Leistung, hat für Honneth folgenden Grund: Anders als andere Werte gelinge es dem Autonomiekonzept „zwischen dem individuellen Selbst und der gesellschaftlichen Ordnung eine systematische Verknüpfung herzustellen“ (Honneth 2011, 36), weil in den „Vorstellungen davon, was für das Individuum das Gute ist, […] zugleich Anweisungen für die Einrichtung einer legitimen Gesellschaftsordnung“ (Honneth 2011, 36) enthalten seien. Zwar stellt etwa der Gedanke der Leistungsgerechtigkeit ebenfalls eine Beziehung zwischen Individuen und der jeweiligen Sozialordnung her. Aber die Einforderung von Gerechtigkeit setze einen individuellen Raum zur kritischen Befragung voraus, den Honneth nur im Konzept der Autonomie systematisch angelegt sieht (vgl. Honneth 2011, 39). Insofern kann als gerecht gelten, „was den Schutz, die Förderung oder die Verwirklichung der Autonomie aller Gesellschaftsmitglieder gewährleistet“ (Honneth 2011, 40), weil dadurch die kritische Prüfung anderer und partikularer Wertorientierungen – wie die erwähnte Leistungsgerechtigkeit – ermöglicht wird. Wenn man so will, sieht Honneth im Autonomiekonzept eine Dialektik von Individuum und Institution angelegt, die dezidiert die rationale Kritikfähigkeit des Individuums mitumfasst und daher gegen totalitäre oder repressive Ausformulierung des leitenden Wertes absichert (vgl. Berlin 1969; Honneth 2015a).5

2.1 Soziale Pathologien und Fehlentwicklungen in der Theorie sozialer Freiheit

Auch für Das Recht der Freiheit kann somit gelten, was Honneth bereits in einem früheren Aufsatz über die Aufgabe der Sozialphilosophie geschrieben hat: Es sei ihr Anliegen, ein begriffliches Instrumentarium zu entwickeln, mit dem die Diagnose sozialer Pathologien und damit eine Gesellschaftskritik möglich wird (Honneth 2000b). Ursprünglich verstand Honneth unter solchen Pathologien gesellschaftliche Zustände, die die Vorbedingungen einer unverzerrten Verwirklichung der Subjekte durchkreuzen (vgl. Honneth 2000b, 58). In Das Recht der Freiheit werden soziale Pathologien dagegen schwächer als sozial hervorgebrachte „Beeinträchtigungen der rationalen Fähigkeiten der Gesellschaftsmitglieder“ begriffen, „an maßgeblichen Formen der sozialen Kooperation teilzunehmen“ (Honneth 2011, 157).6 Honneth schweben konkret zwei Formen vor, die jenes Missverständnis annehmen kann: nämlich, wenn entweder rechtliche oder moralische Freiheit als das ‚Ganze‘ der Freiheit missverstanden werden. Beide Formen der Freiheit – das eine Mal institutionalisiert im positiven Recht, das andere Mal im Anschluss an Parsons verstanden als kulturell geteiltes Wertmuster (vgl. Honneth 2011, 174) – haben gemeinsam, dass sie Freiheit als einen Rückzug aus sozialen Zusammenhängen fassen. Während das moderne Recht einen negativen Schutzraum umschreibt, in dem das Gesellschaftsmitglied unabhängig von sozialen Verpflichtungen seinen Interessen nachgehen kann, bezeichnet die moralische Freiheit die Gelegenheit zur kritischen Prüfung sozial geltender Regeln im Medium der subjektiven Reflexion. Beide Freiheitsformen räumen den Gesellschaftsmitgliedern also die Möglichkeit zur Suspendierung sozialer Verpflichtungen (‚Exit‘) ein, um ihre Interessen und Überzeugungen zu klären, aber auch die zur Äußerung der so bestimmten Orientierungen (‚Voice‘) (vgl. Hirschmann 1970). Allerdings unterliegen beide einer zweifachen Beschränkung: Einerseits bilden sich Interessen und Überzeugungen nur durch die Teilnahme an einem sozialen Interaktionszusammenhang, inhaltlich sind sie also wesentlich durch die soziale Lebenswelt der Subjekte mitbestimmt. Andererseits ist mit der individuellen Eruierung der eigenen Interessen und Überzeugungen noch nicht gesagt, dass diese überhaupt verwirklicht werden können. Sowohl die inhaltliche Bestimmung als auch die Möglichkeit zur Realisierung individueller Absichten verweisen daher auf einen sozialen Kooperationszusammenhang, der aber aufgrund des individuellen Zuschnitts der Freiheitsbegriffe von diesen nicht thematisiert werden kann.

Damit wird nun verständlich, aus welchem Grund Freiheitsverständnisse, die auf einer Verabsolutierung rechtlicher und moralischer Freiheit beruhen, für Honneth Erscheinungsformen einer sozialen Pathologie darstellen: Weil sie die Notwendigkeit zur kooperativen Bildung und Verwirklichung von Interessen und Überzeugungen ignorieren, unterlaufen sie den Prozess der normativen Sozialintegration. Personen, die diesem Missverständnis verfallen, „isolieren sich gegenüber dem Rest der Gesellschaft“ (Honneth 2011, 206). Honneth spricht auch von „second-order disorders“ (Honneth 2011, 157; vgl. Zurn 2011), da der soziale Aspekt von Freiheit reflexiv nicht mehr angeeignet werden kann. Das hebt die von Honneth beschriebenen Pathologien wie etwa eine Verrechtlichung von Sozialbeziehungen oder „moralisch motivierten Terrorismus“ (Honneth, 2011, 215)7 von anderen problematischen sozialen Entwicklungen ab: Gegenüber „sozialen Ungerechtigkeiten“ (Honneth 2011, 157), die auf einer ersten Stufe direkt zu Ausschluss und Isolation führen, liegen die sozialen Pathologien auf einer zweiten, nachgeordneten Stufe, da der Ausschluss hier den Umweg über das gewissermaßen ‚falsche Bewusstsein‘ der Subjekte nimmt.

Der wesentliche Zug, den die institutionellen Sphären sozialer Freiheit den Gesellschaftsbereichen voraushaben, welche einem liberalen oder Kantianischen Freiheitsbegriff verpflichtet sind, liegt darin, dass freiheitsverbürgende Praktiken nicht als Rückzug aus der Sozialwelt und einer nachträglichen Anwendung der so gewonnenen Überzeugungen auf sie verstanden werden. Freiheit wird hier bereits in der sozialen Praxis selbst realisiert. Rollenverpflichtungen können zwar auch Einschränkungen des individuellen Handlungsspielraums bedeuten, etwa wenn Partner:innen in einer Intimbeziehungen ihre Lebensplanung von der anderen Person abhängig machen. Aber diese Einschränkung ist nicht als heteronom – das heißt: als Einschränkung ihrer Freiheit – zu begreifen, weil durch die rollenspezifischen Einschränkungen ein subjektives Anliegen – in dem Beispiel: ein gemeinsames Leben zu führen – realisiert wird. Genau deswegen, also durch die Möglichkeit zur kooperativen Realisierung ihrer Bedürfnisse und Absichten, erweisen sich die Institutionen sozialer Freiheit für die Subjekte als rational zustimmungsfähig, auch wenn sie möglicherweise in der Ausübung ihrer subjektiven Freiheit zunächst von diesen eingeschränkt werden. In diesem Zusammenhang wird auch der angemessene Status der rechtlichen und moralischen Freiheit deutlich: Sie sollen durch die Möglichkeit zum Rückzug sicherstellen, dass die Individuen nach Klärung ihrer Interessen und Überzeugungen den Institutionen sozialer Freiheit tatsächlich aus freien Stücken zustimmen können, weil sie ihre Absichten in ihnen verwirklicht sehen (vgl. Honneth 2011, 226).

Kooperative Handlungszusammenhänge – also die institutionellen Sphären sozialer Freiheit – können laut Honneth keine sozialen Pathologien, sondern nur Fehlentwicklungen ausbilden, da „ihre ganze Existenz von der Bedingung abhängig ist, daß sich die Subjekte auf der Basis geteilter Handlungsnormen wechselseitig ergänzen“ (Honneth 2011, 125). Es bestehe daher nicht die „Gefahr einer passiven Versteifung auf ein einziges Freiheitsverständnis“ (Honneth 2011, 125). In anderen Worten: Die Familie, der Markt oder das politische Gemeinwesen können aus sich heraus nicht zu einer einseitigen Interpretation von Freiheit verleiten, weil sie bereits nach dem Grundmuster sozialer Freiheit organisiert sind – Störungen in diesen Bereichen seien von äußeren Einflüssen hervorgerufene Fehlentwicklungen.8

Vor dem Hintergrund der gewissermaßen kognitivistischen Fassung von sozialen Pathologien und Fehlentwicklungen als systematisch hervorgebrachte Missverständnisse kooperativer Handlungsnormen wird der abgeschwächte Stellenwert begreiflich, den soziale Leiderfahrungen in der Theorie sozialer Freiheit einnehmen. Zwar unterminieren soziale Pathologien demnach die Partizipation an den Einrichtungen sozialer Freiheit. Aber da die Konsequenzen hiervon in einem schleichenden Verlust der Realisierungschancen persönlicher Zwecke liegen, und nicht etwa in sozialen Kränkungserfahrungen, besitzen die subjektiven Anzeichen für jene Störungen eher den Charakter von „schwer greifbaren Stimmungen“ (Honneth 2011, 158) und Verhaltenserstarrungen statt expliziter Leiderfahrungen. Die Verstimmungen haben einen subklinischen Charakter und sollen sich daher vor allem in „ästhetischen Zeugnissen“ (Honneth 2011, 158) wie etwa in Romanen, Filmen oder Werken der bildenden Kunst zeigen. Allerdings wird hierbei übersehen, dass jene Missverständnisse nicht allein das kooperative Handeln stören, sondern auch die Deutung und Aneignung der eigenen Bedürfnisstruktur beeinträchtigen müssen.

2.2 Das Problem des Selbstverhältnisses

Dass die Teilnahme an Institutionen notwendig Formen der Selbstdeutung miteinschließt, wird schon daran deutlich, dass die an der sozialen Kooperation beteiligten Menschen ihre Bedürfnisse, Interessen und Überzeugungen darin schließlich auch verwirklichen können müssen. Das setzt voraus, dass die Gesellschaftsmitglieder jene Bedürfnisse und Interessen gut genug kennengelernt haben, sodass für sie abschätzbar wird, ob diese in ausreichender Weise in sozialen Institutionen Widerhall finden. Nur dann kann sichergestellt werden, dass die Zustimmung, an welche Honneth die Sphären sozialer Freiheit bindet, zwanglos vollzogen wird.

Allerdings verwendet Honneth kaum Aufmerksamkeit darauf, wie Personen sich selbst im Licht der sozialen Praktiken deuten und verstehen, an denen sie teilhaben. Zwar spricht Honneth in der Auseinandersetzung mit Hegels Rechtsphilosophie en passant an, dass Individuen gelernt haben müssen, ihre Wünsche und Absichten so zu interpretieren, dass sie sich in sozialen Kooperationsbeziehungen befriedigen lassen (vgl. Honneth 2011, 92-94). Prozesse der Subjektformation, welche im Hegelschaen Vorbild mit den Begriffen der Erziehung und Bildung angesprochen werden (vgl. hierzu Neuhouser 2000, 148-165), werden von ihm aber nicht systematisch beachtet. So wird für Hegel die Grundlage zur Teilnahme an Sittlichkeitsbeziehungen bereits in der Erziehung – der Primärsozialisation in der Familie – gelegt, da hier die zunächst im Natürlichen befangenen Antriebe des Kindes durch Unterordnung unter die elterliche Autorität einer äußeren Bestimmung zugänglich gemacht werden (vgl. Hegel 1986, §174, 326) und die in der Familie erfahrene Liebe eine gefühlsmäßige Empfindung dafür vermittelt, was es heißt, Teil eines sittlichen Ganzen zu sein (vgl. Hegel 1986, 91). Der eigentliche Bildungsprozess vollzieht sich für Hegel schließlich nach Trennung von der Familie durch Tätigkeit im Kontext eines arbeitsteilig organisierten Gemeinwesens (vgl. Hegel 1986, § 187, 343), welche die in der Familie erworbene Disposition erweitert und verallgemeinert. Hierbei erwerben die Subjekte zunächst die Fertigkeiten und das Wissen, ihr Tun so zu gestalten, dass ihre Willensbestimmung in die Wirklichkeit umgesetzt werden und damit „Objektivität“ erlangen kann. Entscheidender ist aber, dass die mit der Arbeitsteilung einhergehende wechselseitige Abhängigkeit der Marktteilnehmer:innen diese dazu nötigt, ihre Tätigkeit an den Bedürfnissen der jeweils anderen auszurichten (vgl. Hegel 1986, § 192, 349) und sich damit als Teil eines umfassenderen Kooperationszusammenhangs zu verhalten und zu begreifen.

Für eine Aktualisierung der grob skizzierten Formierungsprozesse ist es hilfreich, zwei ineinandergreifende Bewegungen zu differenzieren. Zum einen lässt sich hier ein nach ‚innen‘ gerichtetes Geschehen identifizieren, durch welches Subjekte in die Lage kommen, sich zunächst von ihren unmittelbar gegebenen Bedürfnissen zu distanzieren und diese im Vertrauen auf Kooperationsbeziehungen nach und nach im Einklang mit geltenden Normen zu bestimmen. Dies wird zum anderen durch einen eher nach ‚außen‘ gerichteten Lernvorgang begleitet, in welchem die Prinzipien kennengelernt werden, die die soziale Wirklichkeit strukturieren und durch den sich die Subjekte als Mitwirkende in einem gesellschaftlichen Zusammenhang verstehen. Während Honneth in Das Recht der Freiheit noch weitgehend Hegel folgte und davon ausging, dass der Lernvorgang bereits durch die schlichte Teilnahme an den Sphären der sozialen Freiheit vollzogen wird, betonte er in Reaktion auf Kritiken (vgl. Ferrara 2019; van den Brink 2013) die Rolle der politischen Bildung vor allem im Schulunterricht, um die eher abstrakte Kooperationslogik von Märkten und in der politischen Öffentlichkeit zu vermitteln (vgl. Honneth 2020). Offen bleibt aber weiterhin, wie Sozialisationsverläufe außerhalb von Bildungsinstitutionen vonstattengehen und welche Anforderungen sich im Rahmen der Freiheitstheorie an die inneren, psychischen Formierungsprozesse ergeben. Da die Grundlage für die Deutung der eigenen Antriebe auch für Hegel vorwiegend in der Primärsozialisation gelegt wird, und hier außerdem der Bezug zur Bedürfnisstruktur der Individuen deutlicher wird, steht diese im Folgenden im Vordergrund.

3. Mögliche Wege der Selbstdeutung: Verinnerlichung und Anerkennung

Die Theorie sozialer Freiheit bietet zwei Ansätze, auf deren Grundlage eine mögliche Aktualisierung der Subjektbildungsprozesse umrissen und die Frage nach sozialem Leid in der Freiheitstheorie neu beantwortet werden kann: Parsons‘ Persönlichkeitstheorie, welche eng mit der von Honneth rezipierten Institutionstheorie verzahnt ist, und die frühere Anerkennungstheorie von Honneth selbst.

Besonders deutlich wird die Bedeutung der Subjektformation für eine Sozialtheorie von Parsons ausgesprochen: Soziale Kooperation und damit gesellschaftliche Reproduktion können für Parsons nur dann gelingen, wenn handlungsleitende Normen und Werte sowohl im sozialen System instituiert als auch im Persönlichkeitssystem internalisiert worden sind (vgl. Parsons 1964c, 36-37). Da soziale Normen dem Kind zunächst lediglich von außen in Gestalt von Erwartungen der Fürsorge- und Erziehungspersonen entgegentreten, liegt die in der Persönlichkeitstheorie zu klärende Frage für Parsons wesentlich darin, wie sich eine intrinsische Motivation herausbildet, jenen Normen Folge zu leisten und sozial akzeptierte Ziele zu verfolgen. Dabei erweist sich die Abhängigkeit des Kleinkindes von der Zuwendung der Eltern als ein wesentlicher Antrieb des Prozesses, da das Kind so für die Erwartungen der Eltern sensibel wird – was für Parsons zunächst nichts anderes bedeutet, als auf Belohnung und Strafe zu reagieren. Allerdings könnte ein derart allein auf Konditionierung beruhendes Verinnerlichungsmodell nicht klären, wie Subjekte neue Antriebe entwickeln, die über die bloße Befriedigung ihrer gegebenen, organischen Bedürfnisse hinausgehen.

Um das Problem zu lösen, greift Parsons auf Freuds Triebtheorie zurück und nimmt an, dass bei der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse, etwa beim Stillen, immer auch ein gewisses Quantum libidinöser Lust entsteht, welche aber nicht an die Situation der Bedürfnisstillung gebunden ist. Vielmehr hefte diese sich bald an die Fürsorgepersonen als ‚Objekt‘ (vgl. Parsons 1964a). Das Kind strebt dann nicht mehr allein danach, situative Bedürfnisbefriedigung zu erreichen und Deprivation zu vermeiden, sondern es versucht zugleich, die dauerhafte Zuwendung und Liebe der libidinös besetzten Fürsorgepersonen zu sichern. Dadurch erhält die intersubjektive Beziehung selbst, in anderen Worten, einen Wert für das Kind, sodass es beginnt, sich an den elterlichen Erwartungen zu orientieren und damit unvereinbare Regungen zu unterdrücken. Wie schon für Hegel schafft die ‚Liebe‘ somit die emotionale Grundlage für die Teilnahme an sozialen Beziehungen: Der unspezifische und flexible Charakter libidinöser Strebungen lasse es nämlich zu, dass die Orientierung des Kindes nach und nach auf unpersönlichere und abstraktere Werte verschoben wird. Genötigt durch das Inzesttabu und getragen durch die Partizipation an immer umfassenderen Interaktionskontexten – zunächst in der Schule und Peer-Group, später schließlich im Berufsleben und dem politischen Gemeinwesen (vgl. Parsons 1964b, 106f) – wird die affektiv warme libidinöse Bindung der frühen familiären Interaktion zunehmend neutralisiert und zu einer Suche nach Anerkennung und Ansehen sublimiert (vgl. Parsons 1964c, 130-132).

Allerdings fasst Parsons den Verinnerlichungsvorgang so, dass er kaum mehr als eben das ist: Verinnerlichung. Die in sozialen Institutionen verkörperten Werte werden von den Subjekten lediglich übernommen und libidinös besetzt. Wenn man in dem Rahmen von Praktiken der Selbstdeutung sprechen kann, dann bestehen diese darin, mittels Anpassung („adjustment“) die libidinösen Strebungen im Laufe der Sozialisation so zu verschieben, dass sie im Rahmen anerkannter Rollen in Familie, Beruf oder als Staatsbürger:in befriedigt werden können, oder wo das nicht gelingt, sie mittels psychischer Abwehr („defense“) unter Kontrolle zu halten (vgl. Parsons 1964c, 252). Von einer ungezwungenen Realisierung der eigenen Absichten in der sozialen Wirklichkeit – von Honneth, wie gesehen, das Charakteristikum sozialer Freiheit – kann hier also keine Rede sein. Vielmehr läuft der Prozess auf einen Konformismus hinaus, wie Parsons schon früh vorgeworfen wurde.9 Nichtsdestoweniger hält Parsons an der Möglichkeit fest, dass Störungen im Prozess der Selbstformation zu Leidmomenten führen, welche er als „strain“ (Parsons 1964c, 252) fasst: So kann es in der Sozialisation dazu kommen, dass nicht alle der infantilen Motivationsschichten auf ein ‚höheres‘ Ziel umgelenkt werden; auch können Verhaltenserwartungen durch Interaktionspartner:innen auf eine Weise enttäuscht werden, die Anpassung oder Abwehr scheitern lassen. Gelingt die Anpassung der Gesellschaftsmitglieder an die an sie gestellten Erwartungen nicht, verweist Parsons auf Mechanismen sozialer Kontrolle abweichender Motivationen, worunter er etwa auch explizit die Psychotherapie zählt (vgl. Parsons 1964c, 301).

Da sich so einmal mehr Zweifel an der Zwanglosigkeit des von Parsons konzipierten Selbstverhältnisses ergeben, stellt sich die Frage, welche theoretischen Ressourcen das Anerkennungsmodell bietet, um Prozesse der Subjektformation und Selbstdeutung zu erhellen. Obwohl die Anerkennungstheorie den Sozialisationsvorgang ebenfalls als Verinnerlichung von normativen Erwartungen fasst, die hier als Anerkennungserwartungen verstanden werden, lässt das Modell mehr Platz für konflikthafte Aspekte der Sozialintegration, da nonkonforme Impulse und Strebungen der Subjekte nicht lediglich als zu kontrollierende Abweichungen, sondern als Schrittmacher sozialen Fortschritts verstanden werden. Die für die hier angestellte Argumentation entscheidende Differenz liegt aber in der psychologischen Theorie, welche dem Sozialisationsprozess zugrunde gelegt wird: Die Motivation zur Teilnahme an sozialer Kooperation wird nicht primär in der Sicherung von Gratifikationsmöglichkeiten ausgemacht; vielmehr geht es darum, ein positives Selbstverhältnis aufrecht zu erhalten, indem Subjekte darauf rechnen können, dass ihre Bedürfnisse, Eigenschaften und Fähigkeiten auf wohlwollende Anerkennung anderer stoßen.10 Nicht mehr Freuds, sondern Winnicotts Objektbeziehungstheorie bildet nun das Fundament der Subjektformation (vgl. Honneth 2014b, 154-174).

Die zentrale Entwicklungsherausforderung besteht entsprechend nicht in der Verschiebung und Sublimierung libidinöser Strebungen, sondern vor allem in der Transformation der ursprünglichen Abhängigkeit, sodass Mutter und Kind „sich am Ende als unabhängige Personen zu akzeptieren und zu lieben lernen“ (Honneth 2014b, 159). Die Herausforderung ließe sich auch so formulieren, dass das Kind akzeptieren können muss, dass die Mutter einer von ihm unabhängigen äußeren Wirklichkeit angehört, ohne damit zugleich für das Kind verloren zu sein. Ermöglicht wird das, wie Honneth unter Rekurs auf Winnicott argumentiert (Honneth 2014b, 162), durch die Erfahrung, dass die Mutter auf aggressive Regungen nicht mit Strafe reagiert; außerdem unterstützen die sogenannten Übergangsobjekte, welche vom Kind als Vertreter der abwesenden Mutter genutzt werden, das Erleben ihrer Unabhängigkeit zu verarbeiten. Gelingt das gut genug, so wird das Kind in die Lage versetzt, den Gedanken, dass die Mutter unabhängig von ihm existiert, ohne Angst zu ertragen, wodurch es ihm nicht zuletzt ermöglicht wird, mit sich selbst allein zu sein, das heißt die eigenen Impulse, Wünsche und Fantasien angstfrei wahrzunehmen und zu symbolisieren. Das Kind erwirbt, so Honneths Schlussfolgerung, dadurch die grundlegende Zuversicht, dass seine Bedürfnisse die zwanglose Bestätigung durch die Mutter finden können – sprich: von ihr anerkannt werden. 11

Das Verhältnis der Liebe ist, wie Honneth dezidiert gegen Freud, und man müsste auch sagen: gegen Parsons gerichtet hervorhebt (vgl. Honneth 2014b, 156-157), damit deutlich intersubjektiver konzipiert. Werte werden hier nicht verinnerlicht, weil Liebesentzug befürchtet wird, sondern weil dem Kind dadurch die Möglichkeit eröffnet wird, für eigene Wünsche und Bedürfnisse intersubjektiv Bestätigung zu finden. Zugleich ist das von Liebe geprägte Mutter-Kind-Verhältnis der Prototyp für weitere Anerkennungsverhältnisse, da auch in ihnen die wechselseitige Bestätigung von Eigenschaften und Fähigkeiten zentral ist. Im Unterschied zur Liebe sind die weiteren Anerkennungsformen des Rechts und der sozialen Wertschätzung jedoch stärker durch sozial geteilte Anerkennungsordnungen bestimmt, sodass das Kind – nicht unähnlich dem von Hegel und Parsons geschilderten Vorgang –, durch Teilnahme an immer komplexeren und unpersönlicheren Sozialinteraktionen lernen muss, welche Fähigkeiten und Eigenschaften in der jeweiligen Sozialsphäre auf Anerkennung stoßen. Im Fall der rechtlichen Anerkennung begreift sich das Subjekt als zurechnungsfähige Akteur:in, weil ihm allgemeine Rechte zukommen. Die wertschätzende Anerkennung besteht wiederum darin, dass das Subjekt in den Eigenschaften und Fähigkeiten, mit denen es mittels Arbeit einen Beitrag zum Erhalt des Gemeinwesens leistet, bestätigt wird und dadurch in die Lage versetzt wird, jene wertschätzende Haltung auch sich selbst gegenüber einzunehmen.

Das Modell der Selbstdeutung, das so nahegelegt wird, besteht entsprechend in der inneren Aushandlung, inwieweit die Aspekte der Person, welche soziale Anerkennung erfahren, tatsächlich mit den eigenen Tendenzen der Persönlichkeit übereinstimmen. Darin liegt durchaus Konfliktpotenzial: Zum einen kann das Subjekt den Eindruck gewinnen, dass wichtige Aspekte seiner Person sozial keine Bestätigung finden, weil für sie keine entsprechenden sozial geteilten Anerkennungsnormen existieren. Zum anderen können auch breit geteilte Anerkennungserwartungen situativ im sozialen Miteinander enttäuscht werden. Weil Honneth das Fundament der Anerkennungsbeziehung ähnlich wie Parsons psychologisch sehr tief legt, macht sich die Enttäuschung von Erwartungen – also Missachtung – als eine leidvolle Störung des Selbstverhältnisses bemerkbar. Diese zeigt sich besonders in Scham oder Wut – Affekte, die Honneth zufolge auch dazu führen können, dass sich die Betroffenen in einen politischen Kampf um die Ausweitung der Anerkennungspraktiken und -normen begeben.

4. Drei Möglichkeiten des Leidens

Nachdem die in Das Recht der Freiheit nur angedeuteten Theorien der Subjektformation knapp ausgeführt wurden, lässt sich der liegengelassene Faden wieder aufgreifen: Auf Grundlage der in den Ansätzen angelegten Entwicklungstheorie ist erstens davon auszugehen, dass Störungen in den Sphären der sozialen Freiheit – sprich: Familie, Wirtschaft und Politik – Subjektbildungsprozesse auf eine Weise beeinträchtigen, die über Fehlinterpretationen äußerer Handlungsnormen hinausgehen, und vielmehr auch das Vermögen zur Deutung der eigenen Antriebe und Interessen nachhaltig deformieren können. Der Grund hierfür liegt nicht nur darin, dass sich das Selbstverhältnis in beiden Ansätzen wesentlich durch die Teilnahme an sozialen Interaktionskontexten herausbildet. Auch wird jener Bildungsprozess als eine schrittweise Verflechtung sozialer Normen und Werte mit subjektiven Wünschen, Bedürfnissen und Interessen vorgestellt – sei es, indem soziale Normen mit Triebenergie besetzt werden, wie in Parsons‘ Verinnerlichungsmodell, oder sei es, indem Personen in jenen Normen eine Möglichkeit des Ausdrucks und intersubjektiver Bestätigung ihrer Bedürfnisse und Eigenschaften sehen, wie im Anerkennungsmodell. Da sowohl Parsons‘ Persönlichkeitstheorie als auch Honneths frühe Anerkennungstheorie die Basis des derart sozial vermittelten Selbstverhältnisses in der Mutter-Kind-Interaktion sehen, müssten insbesondere Störungen der Intim- und Sorgebeziehungen die Herausbildung der Selbstbeziehung und damit die Fähigkeit zur sozialen Kooperation grundlegend erschüttern.12 Gleiches muss aber auch für Störungen in anderen, hier weniger betrachteten gesellschaftlichen Teilbereichen wie in Arbeits- oder Marktbeziehungen gelten, da diese das in der primären Sozialisation etablierte Prinzip beibehalten und lediglich erweitern.

Die psychologische Grundlage, welche die betrachteten Ansätze der Selbstdeutung geben, hat zweitens zur Folge, dass derartige Störungen des Selbstverhältnisses als leidvoll erfahren werden müssen, da hierdurch eigene Antriebe frustriert werden. Hierbei lassen sich drei Fälle unterscheiden, je nachdem, wie nachhaltig die Beeinträchtigung der sozialen Beziehungen ausfällt: Soziale Ungerechtigkeiten im Sinne Honneths wie etwa sozialer Ausschluss oder soziale Kränkungen würden zunächst unmittelbare Frustrationserfahrungen nach sich ziehen, welche sich dadurch ergeben, dass etablierte Verhaltenserwartungen situativ enttäuscht werden – Momente, die von Parsons als strain oder von Honneth als Missachtung gefasst wurden. Die einseitigen Freiheitsverständnisse, welche in Honneths Entwurf soziale Pathologien wie die Verrechtlichung von Sozialbeziehungen und Formen des moralischen Terrorismus auszeichnen, gehen jedoch darüber hinaus. Bei ihnen handelt es sich um andauernde und sozial hervorgebrachte Blockaden der Fähigkeiten, die eigenen Bedürfnisse, Interessen und Überzeugungen so zu bestimmen, dass sie kooperativ verwirklicht werden können. Das hat nicht nur zur Folge, dass situativ Erwartungen unterlaufen werden, sondern eine ganze Klasse von Interessen und Bedürfnissen im Lebensvollzug gewissermaßen leerlaufen müssen, da sie nicht adäquat interpretiert und realisiert werden können. Hier ließe sich, wie Honneth zuvor, von einem Leiden an Unbestimmtheit (Honneth 2001) sprechen. Während zu erwarten wäre, dass sich derartige Leidphänomene verflüchtigen, wenn die Reflexionsblockaden aufgelöst werden, fällt das Problem bei Störungen innerhalb der Sphären sozialer Freiheit – Fehlentwicklungen im Sinne Honneths – gravierender aus, weil hier die Fähigkeiten zu einer adäquaten Selbstdeutung nicht nur auf reversible Weise eingeschränkt werden, sondern schon ihr Erwerb frühzeitig durchkreuzt wird. In dem Fall würde die Auflösung von Reflexionsblockaden nicht hinreichen, da die bereichsspezifischen Fähigkeiten zur adäquaten Selbstdeutung und Kooperation erst nachholend entwickelt werden müssten. Da entsprechend sowohl bei sozialen Pathologien als auch Fehlentwicklungen, so wie sie Honneth versteht, davon ausgegangen werden muss, dass die Integration von Bedürfnissen und die Bildung von Interessen auf einer subjektiven Ebene zumindest teilweise misslingt, ist schwer einzusehen, warum die Erscheinungsformen jener gesellschaftlichen Missstände lediglich gedrückte Stimmungen und Verhaltenserstarrungen umfassen sollen, und nicht potenziell auch explizitere Formen psychischen Leidens. Nicht zuletzt die psychoanalytische Krankheitslehre sieht im Ausschluss oder Missverständnis der eigenen Antriebe und Wünsche einen zentralen pathogenen Mechanismus. Damit ist nicht gesagt, dass soziale Pathologien und Fehlentwicklungen notwendig schwere Beeinträchtigungen wie etwa psychische Störungen hervorrufen müssen. Aber vor diesem Hintergrund wäre davon auszugehen, dass Leiderfahrungen notwendige Begleiter sozialer Unfreiheit sind.

Das hätte aber noch eine weitere, für eine Freiheitstheorie problematische Konsequenz: Da zwanglose Zustimmung auch die Möglichkeit einer ungezwungenen Selbstdeutung voraussetzt, kann die von den Gesellschaftsmitgliedern gegebene Zustimmung zu sozialen Institutionen nicht ohne weiteres als Garant dafür verstanden werden, dass diese Institutionen tatsächlich eine zwanglose Kooperation ermöglichen.13 Vielmehr wäre es nötig, auch sicherzustellen, dass die Möglichkeit zur Selbstdeutung weitgehend unbeeinträchtigt gegeben ist. Die bloße Gelegenheit zu Exit oder Voice reicht dafür nicht hin. In der Konsequenz würde das auch bedeuten, dass pathologische Phänomene nicht nur – wie in Honneths Beispielen – in sozialer Isolierung oder Desintegration bestünden. Es wäre umgekehrt auch denkbar, dass Störungen in der Selbstdeutung zu einer übermäßigen, gewissermaßen ideologischen Zustimmung und Sozialintegration führen,14 obwohl die Bedürfnisse und Interessen der Gesellschaftsmitglieder in der so fundierten sozialen Kooperation gerade nicht verwirklicht werden.15

5. Schluss: Jenseits von Anerkennung und Verinnerlichung

Zieht man mit dem Verinnerlichungs- und Anerkennungsmodell die Ansätze heran, welche die Theorie sozialer Freiheit zur Klärung von Selbstdeutungsprozessen anbietet, so wird bereits die Schlussfolgerung nahegelegt, dass Störungen in der Aneignung kooperativer Handlungsnormen nicht allein auf einer kognitiven Ebene verbleiben. Vielmehr müssen sie auch zu Störungen in der Integration der eigenen Antriebe und damit zu einer andauernden Frustration derselben, also Leiderfahrungen, führen. Für eine detailliertere Ausarbeitung des Zusammenhangs wäre es jedoch nötig, sich für ein psychologisches Modell zu entscheiden, welches dem Prozess der Subjektformation zugrunde gelegt wird. Parsons‘ Verinnerlichungsmodell scheidet wegen der Zweifel an der Zwanglosigkeit des Selbstverhältnisses offenkundig aus, sodass vor allem das Anerkennungsmodell infrage zu kommen scheint, um die Leerstelle in der Freiheitstheorie zu füllen. Allerdings steht auch die Anerkennungstheorie vor einem Problem, welches sich ausgerechnet infolge des normativ-funktionalistischen Anspruchs, eine Freiheitstheorie ausgehend von den institutionellen Reproduktionsbedingungen moderner Gesellschaften zu entwickeln, ergibt.

Obwohl Anerkennung auch in Das Recht der Freiheit eine nicht unwesentliche Rolle spielt, fallen gegenüber der hier skizzierten Konzeption einige begriffliche Verschiebungen ins Auge. Während ursprünglich ein wesentlicher Aspekt von Anerkennungsbeziehungen darin lag, intersubjektive Bestätigung für persönliche Fähigkeiten und Eigenschaften zu erhalten, versteht Honneth Anerkennung inzwischen lediglich als „reziproke Einräumung eines normativen Status“ (Honneth 2011, 224), mit welchem in Sozialinteraktionen gewisse Pflichten und Ansprüche einhergehen. Das schließt die affirmative Begegnung nicht aus, doch ist die Formulierung erkennbar weiter gefasst und zielt eher darauf, die wechselseitige Zuweisung von Verhaltenserwartungen in Interaktionszusammenhängen zu klären. Honneth löst, in anderen Worten, die enge Bindung der Anerkennung an das Selbstverhältnis und begreift diese nun eher im Sinne eines Mittels zur Handlungskoordinierung.

Diese Begriffsverschiebung scheint mit der institutionellen Perspektive zusammenzuhängen, welche die Freiheitstheorie auszeichnet. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf der Frage, wie Gesellschaftsmitglieder ihr Zusammenwirken als etwas begreifen können, das mit der gesellschaftlichen Reproduktion auch die freie Verwirklichung ihrer Ziele und Absichten sicherstellt. Die Perspektive auf ein gelingendes Selbstverhältnis, welche das Anerkennungsmodell auszeichnet, muss daher als zu eng erscheinen, weil dadurch die in sozialen Institutionen eingelassenen Zwecke nur ausschnittsweise erfasst werden. Die Teilnahme an Arbeitsbeziehungen setzt, um ein Beispiel zu geben, zwar ein gewisses Maß an intersubjektiver Bestätigung der eigenen Fähigkeiten voraus. Aber der gesellschaftliche Zweck der Arbeit lässt sich offenkundig nicht darauf reduzieren, sondern besteht vielmehr in der Bereitstellung von Produkten und Dienstleistungen, um den Fortbestand der Gesellschaft auf ihrem gegenwärtigen Niveau zu sichern – kurzum: Das Anerkennungsmodell kann den funktionalistischen Aspekten sozialer Kooperation nicht ausreichend Rechnung tragen.

In gewisser Weise bewältigt Parsons‘ Verinnerlichungsmodell daher die Herausforderungen für Selbstverhältnisse im Rahmen institutioneller Kooperation besser, als es zunächst scheint. So kann es die Bereitschaft, sozialen Verhaltenserwartungen zu folgen, auch dann erklären, wenn diese kein positives Selbstverhältnis fundieren. Die Anforderung an eine Konzeption des Selbstverhältnisses im Rahmen einer Theorie sozialer Freiheit bestünde folglich darin, die Aneignung der in der sozialen Wirklichkeit eingelassenen Handlungsziele sowohl in ihrer funktionalen als auch normativen Dimension zu klären, aber anders als Parsons so, dass sie ihren bloß äußerlichen, heteronomen Charakter verlieren und als die eigenen Zwecke affirmiert werden können.

Literatur


  1. Abgesehen von der abgeschwächten Beziehung zu sozialen Leiderfahrungen gehen, wie verschiedene Kommentator:innen herausgestellt haben, mit der Perspektive auf institutionalisierte Freiheitsverständnisse diverse Unklarheiten auf der Handlungsebene einher, etwa hinsichtlich der Frage, wie es Akteur:innen im Alltag gelingt, sich im Handeln kompetent zwischen den verschiedenen Freiheitsverständnissen zu bewegen (vgl. Anderson 2013, 20) oder welche Rolle ihnen nun noch in Kämpfen um sozialen Fortschritt zukommt (vgl. McNay 2015, 176). Zudem wurden in dem Zusammenhang auch Bedenken an der weiterhin zentralen Konzeption der Sozialpathologie laut, da ohne Rückbindung an die Erfahrung von Betroffenen der Verdacht eines repressiven (vgl. Nys 2013, 12) oder normalisierenden (vgl. Genel 2019, 12) Perfektionismus nicht ganz ausgeräumt werden könne.↩︎

  2. Honneth verweist hier auf Georg Lohmanns Auseinandersetzung mit Stimmungen im Kontext von Zeitdiagnosen (vgl. Lohmann 1993). Der Zusammenhang zwischen Stimmungen und Leiderfahrungen wird von Lohmann eher lose gefasst, da Stimmungen als gefühlsmäßige, aber ungerichtete und unbestimmte Reaktionen auf das „Ganze“ der Zeit verstanden werden. Nicht nur bleibt der Bezug zu konkreten Erfahrungen dadurch unterbestimmt, auch müssen derartige Stimmungen nicht notwendig mit Leiden zusammenfallen, sondern können hinsichtlich ihrer emotionalen Valenz ebenfalls uneindeutig oder positiv getönt sein.↩︎

  3. Zur Bedeutung dieses Aspekts für eine Sozialkritik vgl. Renault 2009, 2017.↩︎

  4. Der Neo-Institutionalismus geht dezidiert in Abgrenzung zu Parsons etwa davon aus, dass es sich bei Institutionen lediglich um kognitive Skripte zur Handlungskoordinierung handelt und Rechtfertigungserfordernisse eher von außen an diese herangetragen werden (vgl. Meyer und Rowan 1991).↩︎

  5. Honneths Annahme, dass Autonomie so etwas wie einen Meta-Wert moderner Gesellschaften bildet, ist jedoch nicht unumstritten, vgl. etwa kritisch dazu Ferrara 2019, McNeill 2015.↩︎

  6. Honneth entwickelt neben den beiden hier erwähnten Verständnissen von sozialen Pathologien im Laufe der Zeit noch eine dritte Variante, die die organizistischen Aspekte, die in das Recht der Freiheit schon anklingen, weiter in den Vordergrund rückt. Soziale Pathologien liegen der dritten Auffassung gemäß dann vor, wenn es innerhalb oder zwischen gesellschaftlichen Teilbereichen (der ‚Organe‘) so zu Abstimmungsproblemen kommt, dass die Reproduktion des gesellschaftlichen Ganzen (des ‚Organismus‘) bedroht ist (vgl. Honneth 2014a, 2017; Laitinen und Särkelä 2019). Auch wenn schon Honneths Verständnis von Sozialpathologien als Störungen des Reflexionsvermögens letztlich auf einer ‚Wucherung‘ bereichsspezifischer Wertvorstellungen beruht, und damit ebenfalls auf ein Missverhältnis zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereichen hinausläuft, bleiben die Störungen auf die Bewusstseinsebene der Akteur:innen begrenzt. Die dritte Variante geht darüber hinaus, indem sie reflexionsunabhängige Störungen auf einer ersten Ebene – etwa in der Aneignung der Natur – miteinschließt. Da die stärkere, organizistische Variante jedoch keinen direkten Bezug zur Freiheitsthematik besitzt, wird sie hier nicht weiter beachtet. Die organizistische Pathologiekonzeption wird auch von Neuhouser (2023) geteilt.↩︎

  7. Darunter versteht Honneth Phänomene, bei denen sich Personen allein aufgrund moralisch begründeter Zweifel an der Legitimität sozialer Einrichtungen für berechtigt halten, sämtliche weitere soziale Rücksichten abzulegen. In anderen Worten wird hierbei ein bestimmter moralischer Standpunkt gegenüber allen anderen Verpflichtungen totalisiert.↩︎

  8. Diese Differenzierung von Pathologien und Fehlentwicklungen scheint auf den ersten Blick wenig plausibel und hat verschiedentlich Kritik hervorgerufen (vgl. etwa Freyenhagen 2015; Schaub 2015). Honneth ließ in einer späteren Replik auf Einwände daher zu, dass auch die Marktsphäre – und damit eine Sphäre sozialer Freiheit – aus sich heraus einem Missverständnis zum Opfer fallen und eine soziale Pathologie ausbilden könne (vgl. Honneth 2015b).↩︎

  9. Klassisch ist etwa die Kritik an der „Übersozialisierung“ (Wrong 1961) des Subjekts, da in Parsons‘ Theorie einerseits die subjektive Wertverinnerlichung zu tief angelegt wird, andererseits den Subjekten eine konformistische Grundorientierung – nämlich ein primäres Streben nach sozial anerkannten Gratifikationen – unterstellt wird, ohne dass soziale Normen, für die es Belohnungen geben soll, hinterfragt werden können (vgl. auch Adorno 2003, 45).↩︎

  10. Für eine Gegenüberstellung des triebtheoretischen und objektbeziehungstheoretischen Fundaments der Subjektformation im Kontext der Anerkennungstheorie vgl. Honneth 2000a sowie klassisch Benjamin 1977.↩︎

  11. Um diese Schlussfolgerung ziehen zu können, deutet Honneth Winnicott jedoch deutlich intersubjektiver, als es gemessen an Winnicotts eigenen Schriften und dem damaligen theoretischen Umfeld, in dem sie entstanden sind, vertretbar wäre (vgl. Whitebook 2022).↩︎

  12. Das war nicht zuletzt ein Argument in den Untersuchungen zu Familie und Autorität am Institut für Sozialforschung der frühen 1930er Jahre (vgl. Horkheimer 1987).↩︎

  13. Kritisch zum Punkt der Zustimmung, gerade hinsichtlich Honneths Auffassung, dass diese schon durch die bloße Teilnahme an sozialen Institutionen gewährt wird, vgl. Borman 2019.↩︎

  14. An dieser Stelle kann leider nicht auf die Frage eingegangen werden, inwiefern auch gelingende Kooperationsbeziehungen zu Leiderfahrungen beitragen oder diese perpetuieren können – ob also soziale Freiheit und negative soziale Erfahrungen sich notwendig ausschließen. Eine vergleichbare Frage wurde etwa im Kontext der Anerkennungstheorie zunehmend, auch von Honneth selbst, diskutiert (z.B. vgl. Ikäheimo, Lepold und Stahl 2021; Lepold 2021; auch Honneth 2010). Hinweise auf eine mögliche Verschränkung von sozialer Freiheit mit Leiderfahrungen lassen sich etwa der Kritik Lois McNays (2015) entnehmen, der zufolge die Konzeption besonders aufgrund der teleologischen Perspektive nicht hinreichend sensibel für geschlechtsbezogene Ungerechtigkeiten in der sozialen Praxis ist.↩︎

  15. In diesem Zusammenhang ließe sich der Einwand vorbringen, dass derartige Formen ideologischer Sozialintegration auch die Wahrnehmung von sozialem Leiden unterlaufen und ein Beispiel von Sozialpathologien ohne Leidcharakter abgeben. Auf Grundlage der hier eingeschlagenen Argumentation lässt sich dem Einwand jedoch begegnen: Da Leidempfindungen hier aus Blockaden oder Fehlinterpretationen der Antriebsstruktur resultieren, produziert gerade auch eine ideologische Verkennung entsprechende Erfahrungen. Nicht die Empfindung als solche wird durch Fehlinterpretationen blockiert, sondern das Verständnis der sozialen und psychischen Bedingungen, aus denen sie resultiert.↩︎