Nachbarn oder Nachkommen? Intra- vs. intergenerationelle Gerechtigkeit2
Proximity or posterity? Intra- vs. intergenerational justice
Zusammenfassung: Wie sollen individuelle, miteinander konkurrierende Ansprüche gegeneinander abgewogen werden? Die gerechtigkeitstheoretischen Herausforderungen wachsen, wenn künftige Personen mit einbezogen werden. Mit dem Schritt von rein intra- zu intergenerationeller Gerechtigkeit sind die Ansprüche nicht mehr nur im Raum, sondern auch in der Zeit verteilt. Dieser Beitrag widmet sich der Frage, auf welche Weise die so verteilten Ansprüche zusammengeführt werden sollen.
Dazu wird zwischen einer synchronen und einer diachronen Gerechtigkeitskonzeption unterschieden. Erstere sieht die zeitliche Dimension als Erweiterung der räumlichen: Zunächst setzt sie jene Ansprüche, die zu einem gegebenen Zeitpunkt innerhalb einer Generation existieren, zueinander in Beziehung. Die so zusammengeführten generationellen Ansprüche werden anschließend entlang der Zeit gegeneinander abgewogen. Letztere hingegen verwirft die Generation als relevante Gruppe, um die Bedürfnisse des Individuums zu vertreten. Stattdessen basiert sie auf der Idee transgenerationeller Gemeinschaften. Sie stellt individuelle Ansprüche zunächst innerhalb der jeweiligen, zeitlich ausgedehnten Gemeinschaft einander gegenüber. Anschließend setzt sie dann diese Gemeinschaften zueinander in Beziehung. Bestehende Theorien generationenübergreifender Gerechtigkeit verfolgen dabei zumeist eine Extensionsstrategie: Sie erweitern eine bestehende intragenerationelle Theorie um die zeitliche Dimension hin zur Intergenerationalität. Dies entspricht einer synchronen Konzeption, die jedoch oftmals nichts expliziert wird.
Demgegenüber entwickelt der Beitrag zwei Argumente für die diachrone Alternative. Konzentrieren wir uns weniger auf Forderungen ganzer Generationen, sondern auf Bedürfnisse künftiger Mitglieder unserer transgenerationellen Gemeinschaften, so werden wir, erstens, der motivationalen Herausforderung besser gerecht werden. Sie besteht in der Beantwortung der Frage, warum wir im heutigen Handeln überhaupt Raum für nachfolgende Interessen schaffen sollten. Innerhalb transgenerationeller Gemeinschaften stehen diese nachfolgenden Interessen jedoch nicht in Isolation, sondern sind durch Interaktion innerhalb der Gemeinschaft geprägt und erlauben uns damit, unsere eigenen Interessen über das eigene Leben hinaus zu verwirklichen. Zweitens können wir so auch der epistemischen Herausforderung begegnen. Diese stellt sich angesichts der Frage, worin eigentlich die nachfolgenden Interessen bestehen. Greifen wir sie nicht als kollektive Wünsche ganzer Generationen auf, sondern als die Pläne und Projekte künftiger Mitglieder unserer Gemeinschaft, so wird es leichter sein, vom Heute auf die Zukunft und ihre Bedürfnisse zu schließen.
Die Forderung, künftige Ansprüche im heutigen Handeln zu berücksichtigen, wirft die Frage nach dem ‚Warum‘ und die nach dem ‚Wie‘ auf. Beiden kann eine diachrone Konzeption intergenerationeller Gerechtigkeit eher begegnen.
Schlagwörter: Zukunftsethik, intergenerationelle Gerechtigkeit, Aggregationsverfahren, Synchronität, Diachronität
Abstract: How should competing claims by individuals be weighed against each other? This key challenge to theories of justice is exacerbated when future individuals come into play. With the shift from an intra- to an intergenerational theory, claims are no longer distributed solely in space but also in time. This article addresses the issue of aggregating and reconciling the dispersed claims.
To this end, we distinguish between a synchronic and a diachronic conception of justice. The former considers the temporal dimension as an extension of the spatial one. It first brings together the claims raised within a generation at a given point in time. These aggregated generational claims are then weighed against each other over time in a second step. The latter, in contrast, dismisses the generation as the relevant means to represent individual needs. Instead, it invokes the idea of transgenerational communities. It first considers individual claims within their respective, temporally extended community. Subsequently, it juxtaposes these communities. Existing theories of intergenerational justice oftentimes implicitly invoke the synchronic conception: they extend an existing intragenerational theory along the dimension of time, relying on the role of generations.
In contrast, this article develops two arguments supporting the diachronic alternative. First, shifting the focus from claims of entire generations towards those of future members within our transgenerational communities, it counters the motivational challenge. Why we are to make room for future interests in today's actions at all? If these interests are envisaged within the transgenerational community, they do not stand in isolation but are developed through interaction with the group, allowing us to realise our own interests beyond our own lives. Second, we can also address the epistemic challenge this way, concerning the content of these future interests. Asking about the plans and projects pursued by future members of our community instead of those by generations in their entirety, we can draw inferences from today to the future.
The call to consider future claims of justice in present actions gives rise to the questions of 'why' and 'how'. The diachronic conception of intergenerational justice allows us to address both more convincingly.
Keywords: future ethics, intergenerational justice, aggregation mechanisms, synchronicity, diachronicity
Einleitung
„Welche Kraft“, fragt Hans Jonas (1984, 56, Hervorhebung im Original) in seiner Suche nach einer Zukunftsethik für die Moderne, „soll die Zukunft in der Gegenwart vertreten?“ Damit führt er die Diskussion, ob künftige Generationen in gegenwärtigem Handeln zu berücksichtigen seien, über in die Frage, wie dies zu geschehen habe. Dieser Frage widmet sich auch der vorliegende Beitrag.
Der Begriff der intergenerationellen oder generationenübergreifenden Gerechtigkeit suggeriert dabei, dass hier Gerechtigkeitsansprüche von Generationen gegeneinander abgewogen und miteinander in Einklang gebracht werden müssten. Trägerinnen der Ansprüche wären in diesem Verständnis Generationen als Kollektive, nicht Individuen als Einzelpersonen. Tatsächlich aber sollten wir Gerechtigkeit, auch im intertemporalen Fall, als Beziehung zwischen Personen, nicht zwischen Gruppen verstehen (Steiner und Vallentyne 2009, 64). Andernfalls verlieren wir den Fokus auf jene Entitäten, die letzten Endes von moralischer Relevanz sind: Individuen, nicht Generationen (Herstein 2009, 1180). Sie sind es, die letzten Endes ein gutes Leben erleben – oder es missen müssen.
Eine Theorie intergenerationeller Gerechtigkeit sollte damit also nicht primär zum Ziel haben, Ansprüche der Nachwelt gegenüber der Gegenwart zu begründen. Sowohl Nachwelt wie auch Gegenwart sind heterogene Gruppen, deren Mitglieder unterschiedliche Präferenzen und Charakteristika besitzen. Vielmehr gilt es, die Ansprüche dieser Einzelpersonen zu untersuchen. Die Personen sind dabei räumlich – innerhalb der jeweiligen Generation – und zeitlich – über die verschiedenen Generationen – verteilt. Intergenerationelle Gerechtigkeit hat damit immer zwei Dimensionen: Raum und Zeit. Eine scharfe Trennung zwischen beiden ist im Allgemeinen nicht möglich (Barry 1997, 59).
Wie aber dieses Kontinuum räumlich und zeitlich verteilter Gerechtigkeitsansprüche konzeptuell umsetzen? In der Erstfassung seiner Theorie der Gerechtigkeit erwog John Rawls (1971, 139) den Gedanken einer hypothetischen Versammlung aller Personen, die jemals leben könnten. Diese sollten gemeinsam und generationenübergreifend über Prinzipien der Gerechtigkeit beratschlagen. Diese Idee verwarf Rawls jedoch rasch wieder, da sie die Grenzen der Fantasie überschreite. Stattdessen beschränkte er sich auf eine Versammlung von Zeitgenossinnen und stellte die Frage der Generationengerechtigkeit hintan.3
Rawls weist damit auf die Schwierigkeit hin, das Individuum und seine Ansprüche innerhalb einer universalen Menschheit zu denken. Die Herausforderung stellt sich dabei zum einen in der Theorie beim Versuch, konfligierende Interessen der Einzelnen entlang der beiden Dimensionen von Raum und Zeit auf ‚gerechte‘ Weise zusammenzuführen. Und sie stellt sich zum anderen auch in der Praxis für das Individuum, welches die eigenen Ansprüche gegenüber Mitmenschen geltend machen will und zugleich fremde Ansprüche – heutige wie künftige – im eigenen Handeln berücksichtigen soll. So argumentiert bereits David Hume ([1740] 1896, T 3.2.1.12), dass zur Berücksichtigung fremder Ansprüche eine relationale Beziehung zu und Sympathie gegenüber der Trägerin dieser Ansprüche notwendig sei. Mangels einer „Liebe zur Menschheit“ als Ganzes sei aber ein solch holistische Sympathie nicht gegeben.
Damit stellt sich das folgende Problem: Auf der einen Seite soll das Individuum als moralisch relevante Größe und Träger von Ansprüchen oder Rechten im Zentrum einer Theorie intergenerationeller Gerechtigkeit stehen. Auf der anderen Seite wird die Herausforderung, aus divergierenden Interessen eine Entscheidung oder Verteilung abzuleiten, um so komplexer, wenn diese Interessen gegenüber dem intragenerationellen Fall nun nicht mehr nur im Raum, sondern auch in der Zeit verteilt sind.
Es bedarf eines Zwischenschrittes, um die verschiedenen und zueinander teils im Widerspruch stehenden Ansprüche miteinander in Einklang zu bringen. Der vorliegende Beitrag widmet sich diesem Zwischenschritt. Er unterscheidet zwischen zwei Wegen, die räumlich und zeitlich verteilten Ansprüche in einer Gerechtigkeitstheorie zu berücksichtigen. Der erste Weg konzentriert sich zunächst auf die zu einem gegebenen Zeitpunkt bestehenden Ansprüche und wird im Folgenden daher als synchrone Gerechtigkeitskonzeption bezeichnet. Hier werden als Erstes die Bedürfnisse, Rechte oder Interessen innerhalb einer Generation miteinander in Einklang gebracht oder gegeneinander abgewogen. Erst im zweiten Schritt berücksichtigt dieser Ansatz die zeitliche Dimension und setzt Generationen zueinander ins Verhältnis. Abschnitt 2 argumentiert, dass der synchrone Ansatz vielen gängigen Theorien intergenerationeller Gerechtigkeit implizit zugrunde liegt.
Dem gegenüber werden in Abschnitten 3 und 4 zwei Argumente für eine diachrone Konzeption entwickelt. Diese erachtet Individuen nicht primär als Mitglieder ihrer jeweiligen Generation, sondern als Angehörige zeitlich ausgedehnter Gemeinschaften. Eine solche sogenannte transgenerationelle Gemeinschaft (de-Shalit 1995) bezeichnet die Gesamtheit an Personen – vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger –, Kulturen und Traditionen, innerhalb derer das Individuum sich entwickelt und seine Konzeption eines guten Lebens formt. In ihr ist das Individuum nicht bloß Einzelperson für sich, sondern steht in permanenter Interaktion und Prägung: Es wird geprägt von jenen Personen und Praktiken, in deren Nachfolge es steht; und es kann seine eigenen Vorstellungen und Werte in nachfolgenden Mitgliedern weiterleben lassen. Auf diese Weise erlaubt die transgenerationelle Gemeinschaft ihm eine Verortung über das direkte Umfeld hinaus und eine Selbsttranszendenz über den Tod hinaus.
Der Weg vom Einzelnen zur Gesamtheit führt in der diachronen Konzeption also zunächst entlang der zeitlichen Achse und erst im Anschluss entlang der räumlichen. Auf diese Weise finden zukünftige Gerechtigkeitsforderungen nicht nur in den aggregierten Ansprüchen nachfolgender Generationen Berücksichtigung, sondern auch mittels bereits in der Gegenwart existierenden Gemeinschaften. Konzentriert sich der synchrone Ansatz primär auf das Individuum im Wechselspiel mit seinen (räumlichen) Nachbarinnen, nimmt der diachrone Ansatz die Beziehung zu den (zeitlichen) Nachkommen in den Blick.
Dieser diachrone Ansatz bietet gegenüber dem synchronen in doppelter Hinsicht einen Vorteil. Erstens (Abschnitt 3) erleichtert er die Beantwortung der Frage nach dem ‚Warum‘ – warum sollten heutige Personen künftigen Bedürfnissen in ihrem Handeln Raum einräumen, wenn keine relationalen Beziehungen zu den meisten Trägerinnen dieser Bedürfnisse zu bestehen scheinen? Dieser motivationalen Herausforderung begegnet die diachrone Konzeption, indem sie künftige Individuen als Nachfolgerinnen der heute Handelnden innerhalb der jeweiligen transgenerationellen Gemeinschaft beschreibt. Die Berücksichtigung erfolgt also nicht mehr um abstrakter nachfolgender Generationen – oder gar der ganzen Menschheit – willen, sondern bezieht sich auf Mitglieder einer gemeinsamen Gruppe (de-Shalit 1995).
Zweitens (Abschnitt 4) bietet die diachrone Konzeption gegenüber der synchronen auch eine befriedigendere Antwort auf die Frage nach dem ‚Wie‘ – wie können wir heute künftige Ansprüche berücksichtigen, wenn deren Trägerinnen doch noch gar nicht existieren, sie ihre Bedürfnisse also nicht äußern und wir über deren Inhalt nur mutmaßen können? Ein diachroner Ansatz betrachtet angesichts dieser epistemischen Herausforderung die Präferenzen zukünftiger Personen nicht als Teil der Wertvorstellungen ganzer nachfolgender Generationen, sondern sieht ihre Entwicklung innerhalb der jeweiligen transgenerationellen Gemeinschaft. Wir können also die Unsicherheit, welche Annahmen über kollektive Präferenzen künftiger Generationen prägt, reduzieren, indem wir innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft von heutigen Vorstellungen des Guten auf künftige Vorstellungen schließen (Baier 2010).
Auf diese Weise soll eine diachrone Auffassung intergenerationeller Gerechtigkeit der eingangs zitierten Jonasschen ‚Kraft‘ Form verleihen – eine andere Form als bestehende, synchrone Konzeptionen es tun.
Das Primat synchroner Gerechtigkeitskonzeptionen
Der Versuch, künftige Personen in eine Theorie der Gerechtigkeit einzubeziehen, bringt neue konzeptuelle Herausforderungen mit sich. Die Herausforderungen variieren dabei je nach zugrundeliegender Theorie. So kann ein klassischer Nutzensummenutilitarismus zu moralisch überforderndem Longtermismus führen, wenn die Präferenzen einer großen Zahl künftiger Personen die der Gegenwart ausstechen (Kirsten Meyer 2018a, 51). Auf Reziprozität basierende Ansätze begegnen der Herausforderung, dass angesichts des Zeitverlaufes Interaktion zwischen Generationen oftmals nur in eine Richtung und nicht wechselseitig möglich ist (Gosseries 2008, 63). Libertäre Theorien wiederum müssen das Proviso gerechter Aneignung um die Frage nach gerechter Nutzung erweitern, um einer Übernutzung natürlicher Ressourcen vorzubeugen (Steiner und Vallentyne 2009, 53).
Bei aller Unterschiedlichkeit der zugrundeliegenden Theorien zeigt sich dabei aber ein gemeinsames Vorgehen: Ausgangslage ist eine bestehende Theorie intragenerationeller Gerechtigkeit. Diese betrachtet die Ansprüche von Individuen innerhalb einer Gemeinschaft, wobei die Gemeinschaft eng umgrenzt oder global umfassend sein kann. Die Individuen sind also allenfalls räumlich verteilt, dabei aber Zeitgenossinnen. Dieses Setting wird nun erweitert, indem die räumliche Dimension um eine zeitliche ergänzt wird. Die Zeitgenossinnen haben nicht nur untereinander konkurrierende Ansprüche, sondern sehen sich auch vorherigen sowie nachfolgenden Generationen mit jeweils eigenen Ansprüchen gegenüber. Zentral aber ist, dass hier Generationen als Kollektive einander begegnen. Die Ansprüche innerhalb der jeweiligen Generation sind mittels der ursprünglichen, intragenerationellen Komponente der Gerechtigkeitstheorie in Einklang gebracht worden; es folgen nun die Ansprüche zwischen Generationen und damit die intergenerationelle Dimension. Wolfgang Kersting beschreibt diese Extensionsstrategie wie folgt:
„[I]ch [erweitere] das Personal des Schemas der Verteilungsgerechtigkeit um zukünftige Generationen; und das vermag ich zu tun, indem ich jedem meiner gerechtigkeitstheoretischen Zentralbegriffe den Indikator einer zeitneutralen Bedeutung gebe.“ (Kersting 2000, 12)
Dabei wird durchaus anerkannt, dass idealerweise die Ansprüche von Individuen, nicht von generationellen Kollektiven, gegeneinander abgewogen werden sollten. So betont Kirsten Meyer (2018b, 43, Hervorhebung im Original), „dass wir Pflichten gegenüber künftigen Individuen haben“ und nicht gegenüber künftigen Generationen. Herstein argumentiert gar, dass künftige Generationen an sich gar keine Rolle bei der Frage nach intergenerationeller Gerechtigkeit spielen, da sie eine bloße Hülle ohne moralische Relevanz sein (2009, 1180).
Im besten Fall würde eine Theorie der Gerechtigkeit dabei Individuen gleichermaßen in Raum und Zeit verteilt sehen und entweder beide Dimensionen unterschiedslos berücksichtigen oder aber moralisch relevante Kriterien für eine unterschiedliche Berücksichtigung identifizieren. So sieht auch Kirsten Meyer die Individuen, gegenüber denen wir Pflichten haben, als „als Mitglieder einer sich über die Zeit erstreckenden Menschheit“ (2018b, 165, Hervorhebung im Original). Doch der Versuch, vom Einzelnen mit seinen Gerechtigkeitsforderungen direkt zur Menschheit und einer gesamten Verteilungs- oder Verfahrensgerechtigkeit zu gelangen, erweist sich als schwierig. So wurde bereits eingangs auf Rawls verwiesen, der einen solchen Ansatz als die Fantasie überschreitend verwirft.
Die von Rawls stattdessen gewählte Alternative ist dabei repräsentativ für viele bestehende Theorien intergenerationeller Gerechtigkeit. So sieht Heinz Kleger den Rawlsschen Ansatz als „wohl wichtigsten Beitrag zur ethischen Diskussion der Gerechtigkeit zwischen den Generationen“ (Kleger 1986, 177), weshalb er im Folgenden näher beleuchtet werden soll.
Im Urzustand deliberieren bei Rawls die Mitglieder einer wohlgeordneten Gesellschaft, um sich auf Prinzipien ihrer sozialen und politischen Institutionen zu einigen. Mit diesem Fokus auf eine wohlgeordnete Gesellschaft beschränkt Rawls den Geltungsbereich in zweierlei Hinsicht. Zum einen schließt er Bürgerinnen anderer Nationen ausdrücklich aus. Auf internationaler Ebene gelte nur das weitaus weniger fordernde Recht der Völker (2011, 82), welches bloß ein Mindestmaß an „Achtbarkeit“ verlangt. Ein Differenzprinzip globaler Gültigkeit, demzufolge Ungleichheit stets dem größtmöglichen Vorteil der weltweit am schlechtesten Gestellten dienen müsste, sieht Rawls nicht gegeben. Dafür erntete er sowohl Zuspruch (Reidy 2004) als auch Kritik (Pogge 2010).
Zum anderen aber grenzt Rawls die Reichweite einer wohlgeordneten Gesellschaft nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich ein. Da zwischen nicht-überlappenden Generationen kein „Unternehmen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil“ (Rawls 2012, 149) bestehe, sondern bloß einseitige Interaktion möglich sei, sieht er eine Grundvoraussetzung für seinen kontraktualistischen Ansatz nicht gegeben. Entsprechend schließt er: „Das Differenzprinzip ist also auf die Frage der Gerechtigkeit zwischen den Generationen nicht anwendbar“ (ibid., 322), stattdessen müsse an seine Stelle ein anderes Prinzip treten.
Dass ein Prinzip der Gerechtigkeit zwischen Generationen vonnöten sei, sieht Rawls dabei durchaus. Denn ansonsten bestehe die Gefahr, dass die gegenwärtige Gesellschaft der Nachwelt zu wenig Güter für ein gutes Leben hinterlasse. Wie aber ein solches Prinzip begründen, wenn ein Deliberieren aller jemals möglicherweise lebenden Personen im Urzustand als gedanklich zu herausfordernd verworfen und auf den Austausch von Zeitgenossinnen beschränkt wird? Rawls (ibid., 163) betont ausdrücklich: „[D]ie Menschen im Urzustand wissen, daß sie Zeitgenossen sind“.
Stattdessen entwickelt Rawls zwei Ansätze, um seine primär intragenerationelle Gerechtigkeitstheorie intergenerationell zu erweitern. Beide Ansätze folgen dabei implizit dem von Kersting beschriebenen Muster einer Extensionsstrategie. Die erste Strategie besteht darin, die Spezifikation des Urzustands mit seinem Schleier des Nichtwissens um „eine Annahme über die Motive“ (ibid., 151) der dort deliberierenden Personen zu ergänzen. Diese sollten in ihren Überlegungen nicht mehr nur ihre eigenen Bedürfnisse berücksichtigen, sondern auch die ihrer jeweiligen Nachkommenschaft. Sie verstehen sich nunmehr als „Familienoberhäupter“ (ibid.), denen das Wohl ihrer künftigen Familienmitglieder am Herzen liegt.
Die Erweiterung des Interessenbegriffs steht jedoch im Konflikt mit Rawls’ sonstiger Konzeption. Eingangs geht er noch ausdrücklich davon aus, dass die Parteien im Urzustand „keine aufeinander gerichteten Interessen“ hätten (ibid., 30). Rawls grenzt diese Annahme zwar von reinem Egoismus ab, doch hebt er hervor, dass die Interessen eines Individuums nicht die Interessen anderer Individuen einschließen. Dies widerspricht seiner nun ad hoc eingeführten Annahme, dass den Familienoberhäuptern das Wohl ihrer Nachkommenschaft direkt am Herzen liege (MacClellan 2013). Entsprechend gesteht Rawls in seinem späteren Neuentwurf auch ein, dass die Widersprüchlichkeit zwischen wechselseitigem Desinteresse auf der einen Seite und der Sorge um die Nachkommenschaft auf der anderen „gewisse Schwierigkeiten mit sich“ (2003, 247) bringe.
An die Stelle der motivationalen Annahme setzt Rawls eine zweite Strategie. Zwar beschließen die Individuen im Urzustand zunächst Prinzipien, die für ihr Miteinander als Zeitgenossinnen gelten, doch fordert Rawls nun zusätzlich, dass sie sich ein weiteres Prinzip auferlegen, welches ihren Umgang mit Ressourcen begrenzt und den Ansprüchen nachfolgender Generationen Rechnung trägt. Dieses Prinzip solle derart sein, dass die Zeitgenossinnen „wollen, daß sich frühere Generationen – einerlei, wie lange ihre Zeit schon vorbei ist – danach gerichtet hätten“ (ibid.).
Rawls‘ Hypothese lautet, dass mit dieser Bedingung die Entscheidung für ein intragenerationelles Differenzprinzip um einen intergenerationellen Spargrundsatz ergänzt würde, der eine Akkumulations- und eine stationäre Phase vorsehe. Deren genaue Ausgestaltung ist hier weniger von Relevanz als das Begründungsmuster: Zunächst wird eine Theorie der Gerechtigkeit innerhalb der Gemeinschaft einer Generation entwickelt. Diese Theorie wird anschließend, unter Berücksichtigung zeitlicher Asymmetrie, um das Miteinander zwischen Generationen erweitert. An erster Stelle stehen die Ansprüche von benachbarten Zeitgenossinnen, an zweiter Stelle jene nachfolgender (oder vorangegangener) Generationen.
Damit steht Rawls‘ Konzeption intergenerationeller Gerechtigkeit exemplarisch für synchrone Ansätze im eingangs definierten Sinne: Die räumliche Dimension wird vor der zeitlichen adressiert. Und sie steht symptomatisch für ein verbreitetes Vorgehen, für ein Primat der Synchronizität. Bisweilen wird der synchrone Ansatz dabei explizit gemacht, wobei er je nach Theorie unterschiedliche Form annimmt. Bei Theorien, welche die Berücksichtigung nachfolgender Personen mit den Rechten dieser Personen begründen, werden nachfolgenden Generationen Gruppenrechte zugeschrieben, die über die Individualrechte hinausgehen (Weiss 1990, 203). Hier wird die Summe der zeitgleich lebenden Einzelpersonen in ein Kollektiv von eigener moralischer Relevanz überführt. Anschließend werden dann die Rechte der aufeinanderfolgenden Generationen miteinander in Einklang gebracht. Andere Theorien, die sich auf die Präferenzen nachfolgender Personen konzentrierten, führen diese künftigen Präferenzen zunächst in eine generationelle Präferenz über und betrachten dann jede Generation, als bestünde sie aus einer einzelnen Person (d’Aspremont 2007, 113). Es werden also zunächst zeitgleiche – synchrone – Präferenzen innerhalb einer Generation aggregiert, ehe dann im zweiten Schritt die generationenübergreifende Aggregation in der Zeit erfolgt. Und selbst Kirsten Meyer, die im obig zitierten Abschnitt Individuen als jene Entitäten identifiziert, gegenüber denen wir Pflichten haben, führt diese Individuen dann doch zunächst entlang der räumlichen Dimension zu Generationen zusammen (vgl. Abschnitt 4).
Dieser Ansatz – das Zusammenführen der Individuen und ihrer Ansprüche, Rechte oder Präferenzen in das Kollektiv einer Generation – mag dabei zunächst nicht weiter problematisch erscheinen, vielleicht sogar unausweichlich angesichts der diskutierten Herausforderung, ‚Menschheit‘ als Ganzes zu konzeptualisieren. Doch es gibt eine Alternative zum synchronen Ansatz, die zudem zwei wesentliche Vorteile bietet: einen motivationalen (Abschnitt 3) und einen epistemischen (Abschnitt 4). Diese diachrone Alternative stützt sich auf das Konzept transgenerationeller Gemeinschaften.4 Deren Genese und Beschaffenheit wird im Folgenden näher beleuchtet.
Ansprüche künftiger Personen berücksichtigen: Warum?
In der alltagssprachlichen Intuition haben ‚wir‘ als Zeitgenossinnen Verpflichtungen gegenüber ‚der Nachwelt‘. So wird bisweilen darauf verwiesen, wir hätten die Erde von unseren Kindern nur geborgt und müssten sie ihnen daher in einem (mindestens) so guten Zustand hinterlassen, wie wir sie vorgefunden haben.5 Zugrunde liegt auch hier der synchrone Ansatz, dass heutige und künftige Generationen, jeweils im Kollektiv, einander gegenüberstehen. Dabei ist diese Formulierung irreführend, argumentiert Marcel Wissenburg (2006, 435). Denn der Verweis auf ein kollektives ‚wir‘ beantworte nicht die Frage, warum ich als heutige Einzelperson Verpflichtungen gegenüber den künftigen Nachkommen einer fremden Zeitgenossin habe.
Wissenburg äußert damit Bedenken, die in anderer Form auch von Jonas beschrieben werden. Im eingangs zitierten Abschnitt fragt Letzterer nach der Kraft, welche die Zukunft in der Gegenwart vertreten soll. Um aber „ein verbindliches Soll“ zu entwickeln, genügt es nicht, „den rationalen Grund“ zu explizieren – vielmehr erfordert das ‚Soll‘ auch „den psychologischen Grund seiner Fähigkeit, den Willen zu bewegen“ (1984, 163, Hervorhebung im Original). Der psychologische Grund also zielt auf Beantwortung von Wissenburgs Frage nach dem ‚Warum‘ ab.
Ein synchroner Ansatz bietet hier keine befriedigende Antwort. Er sieht künftige Personen, deren Ansprüche berücksichtigt werden sollen, primär als Mitglieder der jeweiligen Generationen, denen gegenüber wir Verantwortung tragen. Es fehlt aber, so Jonas, ein entsprechendes „Verantwortungsgefühl“ (ibid., 166, Hervorhebung im Original), da keine Verbundenheit gegenüber nachfolgenden Generationen als Ganzes besteht. David Heyd weist darauf hin, dass wir uns Vorfahren und Nachkommen verbundener fühlen als fremden Zeitgenossinnen. Wenn also schon das Kollektiv fremder, aber zumindest doch zeitgleich mit uns lebender Personen emotional fern ist, wie viel mehr muss diese Ferne dann für die Kollektive fremder und erst nach uns lebender Personen gelten?
„For it is definitely the case that our concern for ‘our own’ descendants (and respect for our predecessors) carries more weight than our concern for contemporary strangers. [...] It is much more natural to view the state as extending in time than to see it as a global entity comprising all actual (present) human beings. We feel solidarity with our (future) children and grandchildren but not with our remote contemporaries.” (Heyd 2007, 127)
Einerseits scheint damit ein psychologischer Grund im Sinne Jonas’ gegeben, künftige Gerechtigkeitsansprüche heute zu berücksichtigen. Andererseits besteht dieser Grund nur, wenn ebenjene Ansprüche von unseren direkten und nahen biologischen Nachfahren stammen – unseren Kindern, Enkelkindern, vielleicht noch den Urenkeln. Eine solche motivationale Kraft hat keine große Reichweite: nicht weiter als einige Generationen, vor allem aber nicht weiter als die direkte Blutsverwandtschaft. Endet sie danach wirklich?
In der Praxis beobachten wir zahlreiche Verhaltensmuster, die eine weiterreichende Anteilnahme am Wohl nachfolgender Personen nahelegen lassen. Menschen spenden posthum Organe für unbekannte Empfängerinnen. Sie hinterlassen ihr Erbe karitativen Projekten. Sie beteiligen sich selbst im hohen Alter an Wahlen, deren Konsequenzen sie selbst nicht mehr erleben werden. Sie engagieren sich gegen Kernkraft, auch wenn das Problem der Endlagerung erst in tausenden von Jahren nennenswert zum Tragen käme. Und sie sind oftmals daran interessiert, ein Nachwirken über die direkte Familie hinaus zu erreichen, sei es mit einem künstlerischen Lebenswerk, unternehmerischen Erfolg oder indem sie in anderer Form in Erinnerung zu bleiben suchen.
Der Mensch strebt mit solchem Handeln nach einer Verortung des eigenen Selbst jenseits des direkten Umfelds (Miller 1984, 179). Dabei beschreibt das ‚direkte‘ Umfeld, über welches hinaus der Mensch Bezug sucht, sowohl räumliche als auch zeitliche Grenzen: das Oikos, die Familie. So wichtig diese für das Individuum und seine Realisierung eines guten Lebens sind, so unzureichend sind sie doch, um die Konzeption eines guten Lebens überhaupt erst zu entwickeln. Es ist ein größerer Kontext, eine größere Gemeinschaft, innerhalb derer eine Prägung durch Kultur, Sprache, soziale Normen und Konventionen stattfindet. Diese Gemeinschaft hat eine räumliche und zeitliche Ausdehnung, es ist eine transgenerationale Gemeinschaft.6 In ihr überschneiden sich Elemente von Familie, Nation, Kultur und Tradition (Baier 2010, 8f.). Und in ihr kann das Individuum den Wunsch realisieren, die eigene Konzeption eines guten Lebens und die eigenen Werte auch über den Tod hinaus fortdauern zu lassen. Avner de-Shalit (1995, 34, eigene Übersetzung) beschreibt diesen Wunsch als Streben nach „Selbst-Transzendenz“.
Die Werte und Lebensentwürfe, die das eigene Leben transzendieren sollen, sind dabei selbst innerhalb der transgenerationellen Gemeinschaft entstanden. Annette Baier beschreibt, wie unsere Vorstellungen und unsere Persönlichkeit wesentlich von unserer Mitgliedschaft in der jeweiligen Gemeinschaft geprägt wurden. Sie geht vom Bild eines raumzeitlich eingebetteten Individuums aus und kontrastiert dieses mit der Konzeption einer „Cartesianischen Person“ (Baier 1985, 74, eigene Übersetzung). Letztere sieht den Menschen mit seinen Gedanken, Erfahrungen und Werten weitestgehend in Isolation. Der Cartesianische Mensch, so Baier, entwickele seine Wünsche und Werte aus einer reinen Ich-Perspektive. Dies ist nicht als Egoismus zu verstehen, sondern als solitäres Erleben und Bewerten der Welt (ibid., Baier spricht von first personal […] mental states). Baier (ibid., 84) verwirft diese Cartesianische Konzeption und setzt an die Stelle einer „first person“ die „second person“. Der Mensch sei nicht ‚für sich‘ und entwickele auch seine Werte nicht in Isolation, sondern stehe in einer Abfolge von Personen, die ihn prägten und die er wiederum prägen wird. Er ist gleichsam die Erweiterung vorheriger Personen, er ist ihre ‚zweite‘ Person und wird in nachfolgenden Generationen selbst zweite Personen haben.
Innerhalb einer transgenerationellen Gemeinschaft finden sich damit starke motivationale Gründe, künftige Forderungen im heutigen Handeln zu berücksichtigen. Dieser Gedanke findet sich schon weit früher als der bisherige Fokus auf zeitgenössische Theoretikerinnen vermuten lässt. Adam Smith machte die Sympathie, im heutigen Verständnis eher als empathisches Mit-Fühlen und Mit-Leiden zu verstehen, zur Grundlage seiner Theorie der ethischen Gefühle (TMS). Fühlt sich beispielsweise eine Person zu unrecht geschädigt, wird sie ein Vergeltungsgefühl entwickeln. Doch erst wenn Mitmenschen – und insbesondere ein unparteiischer Zuschauer – mit diesem Vergeltungsgefühl sympathisieren, es teilen, gilt es als schicklich. Dann können wir attestieren, dass der Person Ungerechtigkeit wiederfahren ist (TMS II.II.I.). Sympathie empfinden wir dabei um so eher, je näher die entsprechende Person uns ist. Doch wie schon bei Baier, de-Shalit und anderen ist auch bei Smith die Nähe nicht nur räumlich zu verstehen. Sympathie – und damit die Möglichkeit, Ungerechtigkeit zu diagnostizieren – kann durch verschiedene Arten von Verbundenheit („particular connexion[s]“, TMS II.II.III.) entstehen. Diese lassen sich bei Smith in physische, affektive und kulturelle Nähe aufschlüsseln (Forman-Barzilai 2010, Kap. 5). Entlang dieser drei Dimensionen dehnen sich „Kreise der Sympathie“ (ibid., Titel, eigene Übersetzung) aus, welche Menschen in Raum und Zeit miteinander verbinden. So entstehen Gemeinschaften, in denen Werte und Normen geteilt werden (ibid., S. 75f) und die es der Einzelnen erlauben, die in der Gemeinschaft selbst entwickelten Vorstellungen des Guten über das eigene Leben hinaus zu transzendieren. So findet sich das Bild der transgenerationellen Gemeinschaft schon bei Smith.7
Janna Thompson greift Baiers und de-Shalits Gedanken auf, dass das Individuum sich nicht nur in der transgenerationellen Gemeinschaft verortet, sondern selbst auch in sie hinein wirken will. Unabhängig von der konkreten Konzeption eines guten Lebens wird diese Konzeption, so argumentiert Thompson, „die Lebenszeit transzendierende Interessen“ (2009, 34, eigene Übersetzung) involvieren. Die eigene Kunst soll auch in der Zukunft wahrgenommen und wertgeschätzt werden, der eigene Betrieb soll weitergeführt, das eigene Erbe weitergegeben werden. Und selbst wenn kein über den Tod hinaus gerichtetes Interesse am Fortbestand des (ästhetischen, ökonomischen oder anders beschaffenen) Lebenswerks besteht, wird die jeweilige Person dennoch ein Interesse an der fortdauernden Existenz von Normen und Institutionen haben, die das Schaffen ebenjenen Lebenswerks überhaupt erst ermöglichten: das entsprechende Bildungs- oder Wirtschaftssystem, das jeweilige kulturelle oder religiöse Umfeld (ibid., S. 37). Als ‚Lebenswerk‘ bezeichnet Thompson dabei diejenigen Projekte, mit denen die Einzelne sich identifiziert und die für sie ein erfülltes Leben ausmachen. Zentral ist, dass das Transzendenzbedürfnis sich nicht notwendigerweise auf das eigene Lebenswerk selbst richten muss, sondern sich auch auf die es ermöglichenden Bedingungen beziehen kann.
Innerhalb einer transgenerationellen Gemeinschaft gibt es damit starke motivationale Gründe, im Hinblick auf nachfolgende Mitglieder bestimmte Handlungen zu tun und andere zu unterlassen. Durch diese Handlungen tradieren wir unsere Werte und Wünsche; wir lassen unser Lebenswerk fortleben; wir ermöglichen den Fortbestand des jeweiligen institutionellen Rahmens und der sozialen Praktiken; wir transzendieren unsere Interessen (Thompson) und unser Selbst (de-Shalit) über den Tod hinaus. Die konkrete Veranlassung mag sich von Person zu Person unterscheiden, doch wirkt quasi als anthropologische Grundkonstante im Hintergrund die Motivation, in der eigenen Gemeinschaft nachzuwirken. Ein diachroner Ansatz greift diese motivationale Kraft auf, indem sie die Gerechtigkeitsforderungen künftiger Personen eben nicht als Teil ganzer Generationenkollektive formuliert, sondern als Ansprüche innerhalb der jeweiligen transgenerationellen Gemeinschaft. Die motivationale Kraft bietet den Jonasschen psychologischen Grund, generationenübergreifende Gerechtigkeit handlungspraktisch zu realisieren. Und der diachrone Ansatz ermöglicht, sie theoretisch zu konzeptualisieren.
Dabei ist die transgenerationelle Gemeinschaft in zweierlei Hinsicht begrenzt. Sie ist es zum einen räumlich innerhalb einer Generation. Zu jedem Zeitpunkt werden wir unterschiedliche, jeweils zeitlich ausgedehnte Gemeinschaften mit eigenen Normen, Bräuchen und Institutionen beobachten. Die transgenerationelle Gemeinschaft ist keine Weltgemeinschaft und der diachrone Ansatz lässt sich nicht auf den synchronen reduzieren. Zum anderen ist sie aber auch zeitlich begrenzt. Eine diachroner Ansatz bedeutet keinen Kosmopolitismus in der Zeit, der auch psychologisch nicht umsetzbar wäre. Nur innerhalb begrenzter zeitlicher Horizonte ist eine Bindung in der Gemeinschaft gegeben. Aber diese Bindung reicht eben weiter als bloß bis zu den direkten biologischen Nachkommen. Sie umfasst nicht nur unsere Kinder und Kindeskinder, sondern zieht sich entlang sozialer und kultureller Praktiken weiter in die Zeit. Menschen innerhalb dieses endlichen, aber doch ausgedehnten Zeithorizontes sind uns mitunter näher als Zeitgenossinnen außerhalb unserer eigenen transgenerationeller Gemeinschaft. Mit ihnen im Blick lässt sich das individuelle Warum der generationenübergreifenden Gerechtigkeit leichter beantworten als beim Gedanken an die Nachwelt als Ganzes.
Ansprüche künftiger Personen berücksichtigen: Wie?
Das Konzept der transgenerationellen Gemeinschaft kann uns in einer weiteren Hinsicht bei der Entwicklung genuin generationenübergreifender Gerechtigkeitsüberlegungen von Nutzen sein. Im vorigen Abschnitt haben wir gesehen, wie die Berücksichtigung der Gemeinschaft und insbesondere ihrer zeitlichen Ausdehnung in der Theorie hilft, den gerechtigkeitstheoretischen Forderungen in der Praxis Geltung zu verschaffen. Das motivationale Argument verwies darauf, dass eine diachron entwickelte Theorie für die Einzelne leichter als Grund des Sollens im Sinne Jonas‘ anzuerkennen ist.
Doch nicht nur der Grund des Sollens, sondern auch der Inhalt des Sollens lässt sich in einem diachronen Gerechtigkeitsverständnis leichter erfassen. Bereits im Kontext intragenerationeller Gerechtigkeit stellt sich die Frage nach einer adäquaten Währung der Verteilungsgerechtigkeit, oft auch als „Equality of what?“ formuliert (vgl. Cohen 1990). Auch im intergenerationellen Fall führt die Diskussion zu einer Vielzahl an Positionen bezüglich der Bedürfnisse künftiger Personen. Betrachten wir zunächst ressourcen- und kapitalorientierte Ansätze. Diese gehen von der Existenz bestimmter Güter aus, welche unveränderlich Bestandteil menschlicher Bedürfnisbefriedigung sein werden. So argumentiert Brian Barry (1997, 53), dass Menschen sich wohl zu jeder Zeit nach sauberem Wasser, Kleidung, Bildung, einer Unterkunft und Gesundheitsversorgung sehnen würden. Andere AutorInnen gehen von weniger konkreten, nicht notwendigerweise physisch beschaffen Gütern aus, sondern verweisen auf immateriell konstituierte Konzepte wie „ecological space“ (Dobson 2003, 101). Nutzt eine Generation mehr von diesem ökologischen Raum, als ihr zusteht, so wird sie zum „ökologischen Schuldner“ (Hayward 2006, 368, eigene Übersetzung) gegenüber der Nachwelt.
In diesem Ansatz einer kollektiven Generationenschuld offenbart sich wieder eine synchrone Gerechtigkeitskonzeption. Zudem führt er in ein Dilemma. Entweder sieht er als relevante Metrik schlicht die entsprechenden Ressourcen, die es zu verteilen gilt. Dies negiert jedoch die Heterogenität menschlichen Vermögens, mithilfe der Ressourcen ein gutes Leben zu realisieren. Oder man modifiziert den Ansatz, indem man körperliche und geistige Verschiedenheiten wie Talente oder Handicaps berücksichtigt und personale anstelle bloß unpersönlicher Ressourcen als Maßstab nimmt.8 Ein solcher Schritt würde das individuelle Budget entsprechend der unverschuldeten Vor- und Nachteile variieren, führt jedoch zum zweiten Horn des Dilemmas. Denn Grundlage für die Bewertung heutigen und künftigen Wohlbefindens ist dann eine als allgemeingültig erachtete Konzeption des guten Lebens. Belässt man es nicht bei basalen Grundbedürfnissen wie Obdach und Nahrung, so läuft man Gefahr, paternalistisch einen wünschenswerten Lebensentwurf vorzuschreiben.
Vor diesem Hintergrund verwirft Kirsten Meyer (2018b, 33f.) rein ressourcen- und kapitalorientierte Ansätze als Währung intergenerationeller Gerechtigkeit. Zwar wäre es durchaus möglich, eine Liste basaler Grundbedürfnisse aufzustellen, die als notwendige Voraussetzung für ein gutes Leben zeitunabhängig gültig sind. Doch ist die Befriedigung dieser Bedürfnisse noch nicht hinreichend. Als Alternative diskutiert sie Amartya Sens (2001) Fähigkeitenansatz und Martha Nussbaums Theorie (2006), die eine Liste konkreter Fähigkeiten entwickelt. Zwar mögen wir diese Fähigkeiten heute als hinreichendes Kriterium erachten. Doch Kirsten Meyer (2018b, 37) argumentiert, dass sich diese Beurteilung in der Zukunft verändern könnte. So wäre beispielsweise Barrys Überlegung, dass künftige Generationen unberührter Natur angesichts artifizieller Substitute keinen Wert mehr zuschreiben, zwar bedauerlich, aber eben doch möglich. Und dieser Veränderbarkeit von Konzeptionen eines guten Lebens sollte eine Theorie intergenerationeller Gerechtigkeit Rechnung tragen.
Demgegenüber stehen jene Theorien, die Kirsten Meyer als „Wunschtheorien“ (ibid., S. 25) bezeichnet. Maßstab der Verteilung ist hier kein Gut und kein vordefiniertes Bedürfnis, welches mithilfe des Gutes befriedigt würde. An die Stelle konkreter, als objektiv gut erachteter Zustände oder Erfahrungen treten individuelle Wünsche. Diese bestehen in den subjektiven Präferenzen der einzelnen Personen und äußern sich in konkreten Wahlentscheidungen. Präferenz- oder Wunschtheorien sind dabei agnostisch bezüglich des Inhalts der jeweiligen Präferenzen und Wünsche.9 Am deutlichsten wird dieser Ansatz in der Ökonomik, welche die individuelle Präferenzbefriedigung (den „Nutzen“) zum alleinigen Maß eines guten Lebens macht und die Summe individueller Nutzenwerte mit der Gesamtwohlfahrt gleichsetzt.10 Auch in Bezug auf künftige Generationen wird hier jede Mutmaßung über konkrete Wünsche als paternalistisch abgelehnt: „future people […] we don’t know what they will do, what they will like, what they will want. And, to be honest, it is none of our business” (Solow 1991, 182).
Damit aber stehen wir vor einem Problem, wenn es um die Frage geht, was wir künftigen Generationen denn nun schulden. Bemessen wir diese Schuld in Kapitalien, so ignorieren wir die von Kirsten Meyer benannte zeitliche Veränderbarkeit menschlicher Konzeptionen eines guten Lebens und können uns allenfalls auf basale Grundbedürfnisse beschränken. Anstelle objektiver Güter können wir stattdessen subjektive Erfahrungen zum Maßstab nehmen, sei es in Form von Präferenzen oder hedonistischen Freuden.11 Wir vermeiden das Problem von zeitlichem Paternalismus und akzeptieren,
„dass die Güte des Lebens aus der jeweiligen Perspektive derjenigen Person betrachtet werden sollte, um deren Leben es tatsächlich geht. Daher muss man fragen, was sie sich wünscht oder was ihr Freude macht.“ (Kirsten Meyer 2018b, 29, Hervorhebungen im Original)
Wie aber diese subjektive Erfahrung erfragen, wenn die sie erfahrende Person noch gar nicht existiert? Es entsteht die epistemische Herausforderung, die Wünsche künftiger Personen zu prognostizieren. Dieser Herausforderung begegnet der diachrone Ansatz, wie im Folgenden argumentiert wird.
Betrachten wir zunächst synchrone Konzeptionen. Wir haben gesehen, dass diese in einem ersten Schritt die relevanten Informationen für einen gegebenen Zeitpunkt aggregieren, ehe diese im zweiten Schritt in Beziehung zu späteren Zeitpunkten gesetzt werden. Im Kontext von Wünschen und Präferenzen bedeutet das: Jeder Generation wird ein kollektives Interesse zugeschrieben, welches den Interessen anderer Generationen gegenübergestellt wird. Die genaue Terminologie variiert, doch ist die Rede von aggregierten „Interessen künftiger Generationen“ (Kirsten Meyer 2018b, 8), von den „Bedürfnisse[n] der kommenden Generationen“ (ibid., 11), oder vom „Wohlergehen künftiger Generationen“ (ibid., 12). Dabei sind schon heute die individuellen Wünsche stark verschieden, und Lukas Meyer (2009, 282) argumentiert, dass der „Pluralismus von Konzeptionen des guten Lebens“ in der Zeit noch stärker variieren wird als im Ort. Synchrone Konzeptionen versuchen also, von den Wünschen der Gegenwart als Kollektiv auf spätere Kollektive zu schließen. Und bei diesem Extrapolationsversuch stoßen sie auf das „ignorance problem“ (Norton 2005, 322) angesichts der Vielzahl möglicher Wünsche.
Wie also dieser Herausforderung begegnen? Eine erste Idee bietet wiederum Robert Solow (1991, 82): „I think all we can do in this respect is to imagine people in the future being much like ourselves”. Auch hier klingt an, von der Gegenwart auf die Zukunft zu schließen. Ein diachroner Ansatz tut dies aber nicht auf der Ebene generationeller Kollektive, sondern im kleineren Kosmos transgenerationeller Gemeinschaften. Wie im vorigen Abschnitt erläutert, entwickeln Menschen ihre Wünsche und Konzeptionen eines guten Lebens nicht in Isolation, sondern innerhalb ebenjener Gemeinschaften. Sie werden geprägt durch die sie umgebende Kultur, Tradition, das Wert- und Normsystem. Diese Systeme sind zwar nicht statisch, sondern einem permanenten Wandel unterworfen, doch lässt sich dieser Wandel auf der Ebene der Gemeinschaft noch eher prognostizieren als auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene. Die Mitglieder einer jeweiligen Gemeinschaft teilen Gemeinsamkeiten, und „[d]iese Gemeinsamkeiten sorgen auch für eine gewisse Kontinuität ihrer Erfahrungen und Wünsche über die verschiedenen Generationen hinweg“ (Kirsten Meyer 2018b, 30).12
Wenn wir die Ansprüche künftiger Personen artikulieren wollen, müssen wir Mutmaßungen über ihre Wünsche anstellen. Grundlage dieser Mutmaßungen sind einerseits unsere eigenen Wünsche, andererseits die von uns beobachteten Konstanten und Veränderungen. Diese lassen uns Rückschlüsse ziehen auf mögliche künftige Wünsche. Doch werden unsere Rückschlüsse genauer sein, wenn wir die Konstanten und Veränderungen nicht auf der makroskopischen Ebene der Gesellschaft als Ganzes suchen. Innerhalb unserer transgenerationellen Gemeinschaft haben wir weitaus detaillierter die Möglichkeit, sowohl die Permanenz als auch den Wandel von Wertvorstellungen und Konzeptionen des guten Lebens zu beobachten. Während sich also die Wünsche zwischen solchen Gemeinschaften stark unterscheiden können, haben wir innerhalb unserer Gemeinschaft einen epistemischen Vorteil. Baier (2010, 31f.) argumentiert, dass wir zunächst mit allgemeinen und recht ähnlichen Präferenzen geboren werden, diese dann jedoch innerhalb unserer jeweiligen Gemeinschaft ausdifferenzieren. So entwickeln sich geteilte „aims, desires, ideas, dreams, and values of the transgenerational community“ (de-Shalit 1995, 126). Der Blick auf die transgenerationelle Gemeinschaft statt auf die Generation als Ganzes erlaubt es, die Wünsche nachfolgender Personen klarer zu bestimmen. Diese können dann in konkrete Forderungen nach generationenübergreifender Gerechtigkeit umgewandelt werden. Ein diachroner Ansatz mit seinem Fokus auf die transgenerationelle Gemeinschaft ist somit epistemisch im Vorteil, wenn es um die Bestimmung des Inhalts dieser Forderungen geht.
Fazit
Dieser Beitrag wurde eingangs motiviert durch die Frage Jonas’, auf welche Art und Weise – mit welcher Kraft – die Zukunft in der Gegenwart vertreten werden solle. Zunächst wurden die einzelnen Individuen mit ihren jeweiligen Bedürfnissen als jene moralisch relevanten Entitäten identifiziert, die es zu vertreten gilt. Diese Individuen sind in Raum und Zeit verteilt und haben teils rivalisierende Gerechtigkeitsforderungen, die es gegeneinander abzuwägen gilt. Anschließend wurden zwei Strategien beschrieben, diese Abwägung zu vollziehen – und damit zwei Möglichkeiten, der Jonasschen Kraft Form zu verleihen.
Die erste Möglichkeit besteht in einer Extensionsstrategie. Sie nimmt eine bestehende, intragenerationelle Gerechtigkeitstheorie und konzentriert sich zunächst auf die konkurrierenden Ansprüche innerhalb einer Generation. Der Fokus liegt also anfangs auf synchron existierenden Personen und ihren Forderungen. Die Berücksichtigung nachfolgender und vorheriger Personen erfolgt parallel dazu innerhalb deren jeweiliger Generation. Anschließend werden dann die verschiedenen Generationen mit ihren kollektiven Ansprüchen in Bezug zueinander gesetzt. Die räumliche Dimension steht hier vor der zeitlichen, Nachbarn vor Nachkommen. Dies wurde als synchrone Konzeption beschrieben. Sie liegt, teils implizit, verbreiteten Theorien intergenerationeller Gerechtigkeit zugrunde, wie insbesondere am Rawlsschen Ansatz verdeutlicht wurde.
Dem gegenüber steht als zweite Strategie der diachrone Ansatz. Er sieht die zeitliche Dimension nicht als bloße Erweiterung der räumlichen, sondern als wesentlichen Aspekt gerechtigkeitstheoretischer Überlegungen. Dazu haben wir das Modell der transgenerationellen Gemeinschaft im Sinne Baiers, Thompsons und de-Shalits aufgriffen. Dieses betrachtet künftige Individuen als Mitglieder zeitlich ausgedehnter Kollektive. Diese Gemeinschaften sind jedoch, anders als das Kollektiv der jeweiligen Generation, keine bloße Hülle im Sinne Hersteins. Vielmehr gibt es Gründe, sie zum Ausgangspunkt generationenübergreifender Gerechtigkeitsüberlegungen zu machen. Dieser Beitrag hat zwei solcher Gründe entwickelt.
Der erste Grund zielt auf die Frage ab, warum die Gegenwart überhaupt die Zukunft vertreten sollte. Er verweist auf die Notwendigkeit, theoretische Prinzipien der Gerechtigkeit mit dem praktischen Vermögen der Menschen in Einklang zu bringen. Der Umfang der Gerechtigkeitstheorie ist beschränkt durch die Grenzen der menschlichen Psyche und Motivation. So stellt sich bei synchronen Ansätzen rasch die Frage, warum die Einzelne Ansprüche abstrakter Entitäten wie nachfolgenden Generationen berücksichtigen sollte. Dem rationalen Grund des ‚Sollens‘ müsse, so Jonas, ein psychologischer Grund beigefügt werden. Nur so entstehe auch ein ‚Können‘. Eine diachrone Konzeption bietet diesen psychologischen Grund. Denn hier werden an das heutige Individuum nicht die Forderungen von ganzen Generationen herangetragen, sondern von künftigen Mitgliedern seiner Gemeinschaft. Da im Fortbestehen dieser Gemeinschaft auch das Selbst des Individuums transzendiert, bietet dieser Ansatz ihr Beweggründe, wie ein synchroner Ansatz es nicht vermag.
Der zweite Grund, intergenerationelle Gerechtigkeit innerhalb zeitlich ausgedehnter Gemeinschaften zu denken, fragt nach dem Wie der Interessensvertretung. Er ist epistemischer Natur und greift die Schwierigkeit auf, die Bedürfnisse künftiger Generationen vorauszuahnen. Weder ein Fokus auf Ressourcen im Sinne eines Inputs noch auf Nutzen im Sinne eines Outputs gerechtigkeitstheoretischer Überlegungen vermögen das Unwissenheitsproblem à la Bryan Norton (2005, 307) aufzulösen. Im Sinne seiner „welfare-or-stuff dichotomy“ erlaubt keine der beiden Optionen uns, die individuellen Interessen künftiger Personen im Kollektiv ihrer Generation auszudrücken. Einen Ausweg bietet wiederum die diachrone Konzeption. Denn sie macht es nicht länger erforderlich, ebenjene Bedürfnisse einer Generation als Ganzes zu ermitteln. Stattdessen macht sie sich das Wissen der heutigen Mitglieder transgenerationeller Gemeinschaften zunutze. Innerhalb dieser Gemeinschaften werden Werte geteilt und Normen geprägt. Zwar sind diese nicht statisch, doch können heutige Personen weit eher Annahmen zum Wandel innerhalb ihrer Wertegemeinschaft treffen als auf eine künftige Generation als Ganzes zu extrapolieren.
Der Begriff der transgenerationellen Gemeinschaft lädt zu einem Einwand ein: Ist der Ansatz nicht den gleichen Vorwürfen ausgesetzt wie andere kommunitaristische Theorien? Redet er nicht einer Bevorzugung der eigenen Gruppe das Wort und lässt diejenigen Personen in der Zukunft am besten dastehen, die in der Gegenwart die stärksten Fürsprecherinnen haben? Hierzu sei zweierlei erwidert. Erstens bringt nicht die diachrone Konzeption das kommunitaristische Denken in den Diskurs der intergenerationellen Gerechtigkeit – sie expliziert ihn lediglich stärker als gängige Theorien. Denn bisherige, implizit synchrone Ansätze, konzentrieren sich zunächst auf die gegenwärtige Gesellschaft sowie ihre Rechte und Pflichten gegenüber der Vor- und Nachwelt. Angesichts dessen spricht Kersting von einem „Präsentismus“, einem „Zeitvorteil der Gegenwart“ (2000, 12). Ausgang der Überlegung ist stets die Gruppe gegenwärtiger Personen und ihre Generation. Dem stellt die diachrone Konzeption nun die Gruppe der transgenerationellen Gemeinschaft gegenüber. Ersetzt sie damit eine Form von Parochialismus durch eine andere? Können wir vom Sein, insbesondere den beschriebenen motivationalen und epistemischen Gegebenheiten, auf ein Sollen schließen? Hier setzt die zweite Entgegnung an. Wir haben gesehen, dass die transgenerationelle Gemeinschaft, anders als die Generation, konstitutiv für die sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen ist, innerhalb derer das Individuum seine Konzeption eines guten Lebens entwickelt und sie verfolgen kann. Als konstitutives Element eines guten Lebens erhält die transgenerationelle Gemeinschaft damit selbst moralische Signifikanz (Raz 1986, 206). Dieser Gemeinschaft Stellenwert im Rahmen einer Gerechtigkeitskonzeption einzuräumen, bedeutet dabei nicht, dass sie ihren Mitgliedern ein Vorrecht zur Verwirklichung der eigenen Ansprüche einräumt – sondern vielmehr, dass diese dadurch überhaupt erst artikuliert werden können. Während die Generation also hauptsächlich entlang von Alterskohorten gruppiert, aber selbst keinen Sinn stiftet (Herstein 2009, 1180), ist die transgenerationelle Gemeinschaft von zentraler Bedeutung für das gute Leben der Einzelnen und damit selbst von moralischer Signifikanz.
Wie aber kann ein solcher diachroner Ansatz in die Praxis übersetzt werden? Ziel der Übersetzung ist, die Ansprüche nachfolgender Personen als individuelle Bedürfnisse zu berücksichtigen und nicht als kollektive Forderung der ‚Nachwelt‘, die es gegenüber der Gegenwart zu bedenken gilt. Ein erster Schritt bestünde darin, junge Menschen stärker in gesellschaftliche Entscheidungsfindungsprozesse einzubinden: Derzeit sind sie beispielsweise qua Wahlrecht meist davon ausgeschlossen, zugleich aber qua Lebenserwartung von den Entscheidungen länger betroffen als die tatsächlichen Wählerinnen. Ein diachroner Ansatz könnte beispielsweise Eltern zusätzliches Stimmrecht für ihre Kinder verleihen. Letztere würden damit von Mitgliedern ihrer Gemeinschaft repräsentiert, ohne selbst schon den Anforderungen wohlinformierter und überlegter Wahlen gerecht werden zu müssen (Tremmel 2016). Eine andere – und weiter in die Zeit reichende – Möglichkeit, künftigen Mitgliedern der jeweiligen Gemeinschaft eine Stimme im heutigen Diskurs zu verschaffen, besteht in sogenannten „mini-publics“ (López-Guerra 2011, 212). Diese setzen sich aus zufällig ausgewählten Repräsentantinnen der verschiedenen Gemeinschaften zusammen. Mit Informationen und Zeit ausgestattet, ist es der repräsentativen Kleingruppe weit eher möglich, dem Ideal deliberativer Demokratie gerecht zu werden. Die Gruppenmitglieder wüssten, dass sie als Advokatinnen ihrer jeweiligen Gemeinschaft und deren Mitglieder – heutiger wie auch künftiger – fungieren.
Noch liegt eine solche Praxis diachroner Gerechtigkeit in weiter Ferne. Und auch in der Theorie haben wir das Primat synchroner Gerechtigkeit beobachtet. Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist daher zweierlei: Er soll zum einen dieses Primat explizieren (Abschnitt 2) und zum anderen eine Begründung für die diachrone Alternative entwickeln (Abschnitte 3 und 4).
Der Weg zu einer diachronen Konzeption der Gerechtigkeit besteht aus kleinen Schritten. Einer davon findet sich, wohl unbeabsichtigt, in der Übersetzung von Adam Smiths Theorie der ethischen Gefühle durch Walther Eckstein. Im Untertitel seines Werkes schreibt Smith, er wolle jene Prinzipien analysieren „by which Men naturally judge concerning the Conduct and Character, first of their Neighbours, and afterwards of themselves.“13 In der deutschsprachigen Übersetzung schreibt Walther Eckstein (Smith [1759] 1994, 1), dass Menschen „naturgemäß […] das Verhalten und den Charakter ihrer Nächsten […] beurteilen“. Aus den ‚Nachbarn‘ werden also die ‚Nächsten‘. In einer wohlwollenden Interpretation können wir Eckstein unterstellen, dass er hier den ersten Schritt in Richtung diachroner Gerechtigkeit gegangen ist: Die Nachwelt sollte der Nachbarschaft gegenüber in unseren gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen kein Nachsehen haben. Nachkommen wie Nachbarn sind unsere Nächsten.
Literatur
Arneson, Richard J. 1989. „Equality and Equal Opportunity for Welfare“. Philosophical Studies: An International Journal for Philosophy in the Analytic Tradition 56 (1): 77–93.
Baier, Annette. 1985. Postures of the Mind: Essays on Mind and Morals. Minneapolis: University of Minnesota Press.
———. 2010. Reflections on How We Live. Oxford: Oxford University Press.
Barry, Brian. 1997. „Sustainability and Intergenerational Justice“. Theoria 44 (89): 43–64.
Blau, Julian H. 1975. „Liberal Values and Independence“. The Review of Economic Studies 42 (3): 395–401.
Broome, John. 1991. „“Utility”“. Economics & Philosophy 7 (1): 1–12.
Burke, Edmund. 1790. Reflections on the Revolution in France. London: J. Dodsley.
Cohen, G. A. 1990. „Equality of What? On Welfare, Goods and Capabilities“. Recherches économiques de Louvain 56 (3–4): 357–82.
d’Aspremont, Claude. 2007. „Formal Welfarism and Intergenerational Equity“. In Intergenerational Equity and Sustainability, herausgegeben von John Roemer und Kotaro Suzumura, 113–30. London: Palgrave Macmillan UK.
de-Shalit, Avner. 1995. Why Posterity Matters : Environmental Policies and Future Generations. London: Routledge.
Dobson, Andrew P. 2003. Citizenship and the Environment. Oxford: Oxford University Press.
Forman-Barzilai, Fonna. 2010. Adam Smith and the Circles of Sympathy: Cosmopolitanism and Moral Theory. Ideas in Context. Cambridge: Cambridge University Press.
Gosseries, Axel. 2008. „Theories of intergenerational justice: a synopsis“. Surveys and Perspectives Integrating Environment and Society (SAPIENS) 1 (1): 61–71.
Harsanyi, John C. 1982. „Morality and the Theory of Rational Behaviour“. In Utilitarianism and beyond, herausgegeben von Amartya Kumar Sen und Bernard A. Williams, 39–62. Cambridge: Cambridge University Press.
Hausman, Daniel, Michael McPherson, und Debra Satz. 2017. Economic Analysis, Moral Philosophy, and Public Policy. Cambridge: Cambridge University Press.
Hayward, Tim. 2006. „Global Justice and the Distribution of Natural Resources“. Political Studies 54 (2): 349–69.
Herstein, Ori J. 2009. „The identity and (legal) rights of future generations“. The George Washington Law Review 77:1173–1215.
Heyd, David. 2007. „Justice and Solidarity: The Contractarian Case against Global Justice“. Journal of Social Philosophy 38 (1): 112–30.
Hume, David. (1740) 1896. A Treatise of Human Nature. Herausgegeben von Lewis Amherst Selby-Bigge. Oxford: Clarendon Press.
Jonas, Hans. 1984. Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Kersting, Wolfgang. 2000. Theorien der sozialen Gerechtigkeit. Stuttgart: J.B. Metzler.
Kleger, Heinz. 1986. „Gerechtigkeit zwischen den Generationen“. In Begründung der Menschenrechte, herausgegeben von Peter Müller-Schmid, 145–91. Stuttgart: Franz Steiner Verlag.
López-Guerra, Claudio. 2011. „The enfranchisement lottery“. Politics, Philosophy & Economics 10 (2): 211–33.
MacClellan, Joel. 2013. „How (Not) to Defend a Rawlsian Approach to Intergenerational Ethics“. Ethics and the Environment 18 (1): 67–85.
Mankiw, Nicholas Gregory, und Mark P. Taylor. 2014. Economics. 3. Aufl. Andover: Cengage Learning EMEA.
Mas-Colell, A., M.D. Whinston, und J.R. Green. 1995. Microeconomic Theory. New York: Oxford University Press.
Meyer, Kirsten. 2018a. „The Claims of Future Persons“. Erkenntnis 83 (1): 43–59.
———. 2018b. Was schulden wir künftigen Generationen? Herausforderung Zukunftsethik. Stuttgart: Reclam.
Meyer, Lukas H. 2009. „Intergenerationelle Suffizienzgerechtigkeit“. In Generationengerechtigkeit: Ordnungsökonomische Konzepte, herausgegeben von Nils Goldschmidt, 281–322. Tübingen: Mohr Siebeck.
Miller, David. 1984. Anarchism. London: Dent.
Norton, Bryan G. 2005. Sustainability: A Philosophy of Adaptive Ecosystem Management. Chicago: University of Chicago Press.
Nussbaum, Martha Craven. 2006. Frontiers of Justice: Disability, Nationality, Species Membership. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press.
Page, Edward A. 2007. „Intergenerational justice of what: Welfare, resources or capabilities?“ Environmental Politics 16 (3): 453–69.
Pogge, Thomas. 2010. World Poverty and Human Rights: Cosmopolitan Responsibilities and Reforms. Cambridge: Polity Press.
Rawls, John. 1971. A Theory of Justice. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press.
———. 2003. Gerechtigkeit als Fairneß - Ein Neuentwurf. Herausgegeben von Erin Kelly. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
———. 2011. Das Recht der Völker. Übersetzt von Wilfried Hinsch. Berlin: de Gruyter.
———. 2012. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Übersetzt von Hermann Vetter. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Raz, Joseph. 1986. The Morality of Freedom. Clarendon Paperbacks. Oxford: Oxford University Press.
Reidy, David A. 2004. „Rawls on International Justice: A Defense“. Political Theory 32 (3): 291–319.
Ross, Ian Simpson. 2010. The Life of Adam Smith. Oxford: Oxford University Press.
Sen, Amartya. 2001. Development as Freedom. Oxford: Oxford University Press.
Singer, Peter. 2011. Practical Ethics. Third edition. Cambridge: Cambridge University Press.
Smith, Adam. (1759) 1994. Theorie der ethischen Gefühle. Übersetzt von Walther Eckstein. Hamburg: Meiner.
Solow, Robert M. 1991. „Sustainability: an economist’s perspective“. In Economics of the Environment: Selected Readings, herausgegeben von R. Dorfman und N. S. Dorfman, 179–87. New York: Norton.
Steiner, Hillel, und Peter Vallentyne. 2009. „Libertarian Theories of Intergenerational Justice“. In Intergenerational Justice, herausgegeben von Axel Gosseries und Lukas H. Meyer, 50–76. Oxford: Oxford University Press.
Thompson, Janna. 2009. „Identity and Obligation in a Transgenerational Polity“. In Intergenerational Justice, herausgegeben von Axel Gosseries und Lukas H. Meyer, 25–49. Oxford: Oxford University Press.
Tremmel, Jörg. 2016. „Demokratie, Epistokratie und der Ausschluss Minderjähriger vom Wahlrecht“. In Politische Beteiligung junger Menschen: Grundlagen – Perspektiven – Fallstudien, herausgegeben von Jörg Tremmel und Markus Rutsche, 105–44. Wiesbaden: Springer.
Weiss, Edith Brown. 1990. „Our Rights and Obligations to Future Generations for the Environment“. The American Journal of International Law 84 (1): 198–207.
Wissenburg, Marcel. 2006. „Global and Ecological Justice: Prioritising Conflicting Demands“. Environmental Values 15 (4): 425–39.
Ich danke Konrad Ott und den anonym begutachtenden Personen für hilfreiche Kommentare.↩︎
Ich danke Konrad Ott und den anonym begutachtenden Personen für hilfreiche Kommentare.↩︎
Rawls skizziert später (§ 44) zwei alternative Ansätze, um seine Gerechtigkeitstheorie intergenerationell auszuweiten. Zu diesen kehren wir in Abschnitt 2 zurück.↩︎
Avner de-Shalit (1995, 13) spricht von einer „transgenerational community“, Annette Baier (2010, 8) von einer „cross-generational community“.↩︎
So beispielsweise schon 1979 von der Partei Die Grünen im Wahlkampf zur Europaparlamentswahl ausgedrückt. Siehe https://www.dhm.de/archiv/sammlungen/plakate/pli02940.html, zuletzt abgerufen am 13. Dezember 2023.↩︎
Auch Smiths Zeitgenosse Edmund Burke spricht von einer „Partnerschaft zwischen den Lebenden, den Toten, und den noch nicht Geborenen“ (1790, 144, eigene Übersetzung).↩︎
Edward Page unterscheidet zwischen „personal“ und „impersonal resources“ (2007, 456) im Kontext der Verteilungsgerechtigkeit zwischen Generationen.↩︎
Es bestehen jedoch durchaus Möglichkeiten der Differenzierung. So lässt sich zum einen unterscheiden zwischen idealen, „first-best“ Präferenzen und „second-best“ Präferenzen, die sich angesichts von eingeschränkten Informationen, Opportunitätskosten, ungewollten Vorlieben wie Süchten und weiteren Einschränkungen ergeben (Arneson 1989, 83). Zum anderen schließen manche Ansätze solche Präferenzen aus, welche als bösartig (Harsanyi 1982) oder die Privatsphäre Dritter verletzend (Blau 1975) angesehen werden.↩︎
Dies lässt sich auch in den einschlägigen Lehrbüchern beobachten, sowohl im Studieneingangsbereich (Mankiw und Taylor 2014, 174) als auch in fortgeschrittenen Abschnitten (Mas-Colell, Whinston, und Green 1995, 80). Für eine kritische Diskussion dieser ökonomischen Auffassung siehe beispielsweise Hausman et al. (2017, Kap. 8) und Broome (1991).↩︎
Für eine Unterscheidung im Kontext allgemeiner Ethik siehe Peter Singer (2011, 13f.); im konkreten Fall generationenübergreifender Gerechtigkeit siehe Kirsten Meyer (2018b, Kap. 1.1).↩︎
Kirsten Meyer bezieht sich an dieser Stelle jedoch vor allem auf Gemeinsamkeiten der Menschheit als Ganzes.↩︎
Diesen Untertitel ergänzte Smith erst in späteren Ausgaben seines Buches, siehe beispielsweise Smith ([1759] 1793). Ursprünglich lautete der Titel schlicht The Theory of Moral Sentiments. Eine Untersuchung der Editionsgeschichte findet sich bei Ian Ross (2010, 286).↩︎