Tragische Gewalt, wankende Gewaltlosigkeit. Exploration einer pazifistischen Haltung in Kriegszeiten mit Emmanuel Levinas und Simone Weil

Tragic violence, fragile non-violence. An exploration of a pacifist attitude in times of war with Emmanuel Levinas and Simone Weil

Zusammenfassung: Pazifismus ist kein Prinzip, sondern eine Haltung der egalitären Ansprechbarkeit gegenüber jeder:jedem Einzelnen. Im Dialog mit Emmanuel Levinas und Simone Weil, deren Ansätze von der Erfahrung des Krieges geprägt sind, entwickele ich hier eine pazifistische Haltung, die diese besondere Ansprechbarkeit ethisch an die Weigerung jedes Menschen knüpft, Gewalt zu erleiden. Der Andere bei Levinas und das Unpersönliche bei Weil lassen sich als Widerständigkeit des Einzelnen aufgreifen, die in der grundlegenden menschlichen Verwundbarkeit wurzelt. In dieser Verwundbarkeit und der entsprechenden Widerständigkeit hat eine pazifistische Haltung ihre Quelle. Sie äußert sich in der Sensibilität gegenüber den Ansprüchen der Betroffenen und in der Verantwortung für jede:n Einzelnen, was in Kriegszeiten vor allem Fluchthilfe, humanitäre Unterstützung und medizinische Versorgung verlangt. Diese Nähe des Anderen kann aber auch zur gewaltsamen Unterstützung verpflichten. Wenn ein anderer Mensch angegriffen wird, dann bin ich zum einseitigen Beistand für diesen Menschen verpflichtet – ohne dass aber die Ansprüche der:des Angreifenden, nicht verletzt zu werden, ungehört bleiben dürfen. In der politisch notwendigen Gegengewalt zeigt sich die pazifistische Haltung noch in Zerrissenheit, wankender Gewissheit und dem ethischen Unbehagen angesichts dessen, was die eigene Tat anrichtet. Aus einer pazifistischen Haltung heraus ist Gegengewalt so zwar politisch notwendig, bleibt aber ethisch unsicher. Dies zeigt, dass es Pazifist:innen nicht um Prinzipien oder Überzeugungen gehen kann. Denn im Angesicht der Gewalt, die ein anderer Mensch ertragen muss, werden eigene Ansprüche von den Ansprüchen dieses Menschen überlagert. Diese pazifistische Haltung leitet abschließend auf zeitgenössische Positionen von Judith Butler und Adriana Cavarero über, die die ethischen Maximen von Levinas und Weil politisch kontextualisieren können. Pazifismus wäre damit eine Haltung, die dem Ethischen im Politischen Geltung verschafft, dabei aber selbst politisch ermöglicht werden muss. So richtet sich die pazifistische Haltung übergreifend gegen einen militärisch-industriellen Apparat und einen militaristischen Geist, die uns zwingen, uns gegenüber individuellen Ansprüchen zu verschließen und unbezwingbare, eindeutige Position zu beziehen. Pazifismus fordert damit eine grundlegende gesellschaftliche Transformation.

Schlagwörter: Pazifismus, Haltung, Verwundbarkeit, Emmanuel Levinas, Simone Weil

Abstract: Pacifism is not a principle, but an attitude of egalitarian responsiveness to every individual person. Engaging in dialogue with Emmanuel Levinas and Simone Weil, whose approaches are both shaped through the experience of war, I explore a pacifist attitude that highlights the responsiveness to each human being's refusal to suffer violence. The Other in Levinas and the Impersonal in Weil are interpreted as a fundamental resistance of every human being against violence. This resistance is rooted in human vulnerability. This vulnerability and the corresponding resistance against violence are understood as the sources of a pacifist attitude. Pacifism is expressed in a sensitivity to the demands of those involved in war and in the responsibility for every individual, which demands of us, above all, escape aid for refugees and humanitarian and medical support. However, this attitude might also oblige us to provide violent support. If another person is attacked, I might be obliged to support this person exclusively and to fight against the attacking person – yet, without being allowed to ignore the claims of the attacker not to be hurt herself. Even in the midst of a politically necessary counterviolence, pacifism shows itself in a wavering certainty and the ethical unease about the harm my support will do. Accordingly, counterviolence might be politically necessary, but remains ethically ambiguous. Thus, pacifists cannot be concerned about principles or convictions, because facing the violence that another is threatened to suffer, one's own claims are outdone by the claims of this other. The explored pacifist attitude then leads to contemporary pacifist positions of Judith Butler and Adriana Cavarero, who might help to politically contextualise the ethical dictums of Levinas and Weil. Following Butler and Cavarero, pacifism is understood as an attitude that expresses the ethical within the political realm, but which has to be politically enabled itself. Hence, pacifism is also directed against a military-industrial complex and a militaristic spirit in general that force us to close off against claims of the other person and to take unconquerable and unambiguous positions in war times. Pacifism, hence, calls for a fundamental social transformation.

Keywords: Pacifism, Attitude, Vulnerability, Emmanuel Levinas, Simone Weil

1 Pazifismus in Kriegszeiten

Dem völkerrechtswidrigen Einmarsch russischer Truppen in ihr Land widersetzen sich die Ukrainer:innen seit über zwei Jahren mit einer beeindruckenden organisatorischen, kulturellen und militärischen Verteidigung. Ihrer ungebrochenen Widerstandskraft kann man nur Anerkennung und Bewunderung zollen. Zahlreiche Staaten unterstützen sie dabei mit finanziellen, diplomatischen und militärischen Mitteln und auch deren Beitrag verdient Anerkennung. Keine pazifistische Argumentation könnte den Ukrainer:innen ihr Recht auf Selbstverteidigung absprechen oder von ihnen fordern, im Kampf um ihr Überleben auf den Einsatz militärischer Mittel zu verzichten. Keine pazifistische Argumentation könnte die auch militärische Unterstützung durch Drittstaaten in diesem Verteidigungskrieg delegitimieren. In dieser Situation muss die Ukraine in der Verteidigung ihrer Souveränität unbedingt unterstützt werden. Aber heißt das zwangsläufig, dass der Pazifismus damit ausgedient hat? Müssen wir pazifistische Ideale, unseren Widerwillen gegen Gewalt, aufgeben zugunsten einer konsequenten Solidarität ohne die Spur eines Zweifels?

Hier in Deutschland jedenfalls, weit entfernt und doch unheimlich nah am Kriegsgeschehen, war schnell die Rede davon, dass wir uns den Pazifismus nicht mehr würden leisten können. Pazifismus wurde unmittelbar nach dem Einmarsch der russischen Truppen pauschal als privilegierte und moralistische Position diskreditiert. So bezeichnete der Historiker Jörg Himmelreich den Pazifismus im Deutschlandfunk als „Irrweg“ (Himmelreich 2022); Alexander Graf Lambsdorff (FDP) schimpfte in der Zeit die Teilnehmer:innen an den Ostermärschen 2022 gar die „fünfte Kolonne Putins“ (Flaßpöhler und Graf Lambsdorff 2022); und nicht zuletzt forderte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) eine neue „Kriegstüchtigkeit“ für Deutschland (Pistorius 2023). Umgekehrt wird Pazifismus von meist rechten Stimmen instrumentalisiert, um der Ukraine die unerlässliche militärische Unterstützung zu verwehren und sich mit der russischen Führung anzubiedern. Sind das also unsere Alternativen: eine pazifistische Haltung, wie sie jene beanspruchen, die der Ukraine jegliche Unterstützung versagen, oder die Klarheit und Kompromisslosigkeit, die internationale Politiker:innen in der militärischen Unterstützung der Ukraine betonen und ihrer Funktion nach betonen sollten? Oder ließe sich ein anderer Pazifismus denken, einer, der gerade in Kriegszeiten eine wichtige Perspektive anbietet?

Wo stehe ich etwa, wenn ich Waffenlieferungen an die Ukraine zwar unterstütze, aber dabei mit meinen Überzeugungen ringe? Wenn ich weiß, dass diese Unterstützung richtig und wichtig ist, ich Waffengewalt aber ablehne? Wenn ich es konkret kritisch sehe, dass den ukrainischen Truppen Streu- oder Uranmunition zur Verfügung gestellt wird, selbst wenn die USA versichern, dass dies militärische Nachteile ausgleiche und die Gefahr für Zivilist:innen nicht erhöhe? Natürlich geht es aktuell nicht um meine Haltung, der ich mich in einer privilegierten, weil vom Kriegsgeschehen distanzierten Position befinde. Aber was ist etwa mit jenen Menschen in der Ukraine, die den Kampf prinzipiell unterstützen, selbst aber nicht kämpfen wollen – aus Überzeugung oder Angst? Was ist mit jenen, die die Flucht ergreifen, um nicht zum Kampf eingezogen zu werden? Handeln sie unsolidarisch oder ist ihre Verweigerung selbst ein widerständiger Beitrag gegen die unterdrückende Gewalt? Beharren sie nicht auf ihre individuelle Freiheit und fordern damit auf ihre Weise eine Beendigung des Krieges? Mir scheint, dass der pazifistische Beitrag in Kriegszeiten darin bestehen kann, diesen Zweifeln, Ängsten und Vorbehalten Geltung zu verschaffen. Pazifismus kann eine Perspektive anbieten, die die Ambivalenzen inmitten einer häufig so eindeutigen Kriegslogik erkennen lässt, sodass wir neben der Notwendigkeit einer bewaffneten Verteidigung auch das Zurückschrecken vor den Waffen als Zeichen des Widerstands gegen den Krieg anerkennen. Pazifismus würde einen tragischen Sinn in die Debatten um Waffenlieferungen einführen und würde damit Akten des Zögerns, Fliehens und Verweigerns, Haltungen des Wankens und der Unsicherheit ihre Bedeutung im Einsatz gegen den Krieg zusichern. Er würde uns diese Akte als widerständige Akte erkennen lassen.1

Nun lässt sich schwerlich in Distanz zu den Schlachtfeldern und Bombardierungen an einer pazifistischen Position arbeiten. Eine Abhandlung über Für und Wider, über die Phänomenologie des Pazifismus inmitten eines Krieges, in den man nicht unmittelbar involviert ist, wäre vermessen, taktlos gegenüber all jenen, die sich nicht entziehen können. Daher werde ich in den Dialog mit zwei Philosoph:innen treten, die ihre Positionen selbst aus der Erfahrung des Krieges entwickelten. In Auseinandersetzung mit Emmanuel Levinas und Simone Weil, die selbst die Schrecken des Krieges erlebt haben, werde ich Grundzüge eines Pazifismus erarbeiten, der dazu beitragen kann, sich auch zu diesem aktuellen Krieg zu verhalten. Indem wir jenen zuhören, die den Krieg gegen sich ertragen, dabei mit sich gerungen und trotzdem am Einsatz für den Frieden festgehalten haben, finden wir möglicherweise eine Ausgangsbasis für eine pazifistische Haltung auch für unsere Zeit.

2 Philosophie in Kriegszeiten

Nur wozu überhaupt philosophieren, wenn um uns herum Krieg tobt, Menschen getötet, Städte und Dörfer zerstört, Infrastrukturen und Ökosysteme verwüstet werden? Man könnte meinen, es stehe um die Philosophie in Kriegszeiten ähnlich schlecht wie um den Pazifismus. Und doch haben Menschen immer wieder inmitten des Krieges philosophiert, haben über Krieg und Gewalt nachgedacht. Und sie haben versucht, über den Krieg hinaus zu denken, sich individuelle oder kollektive Spielräume zu verschaffen, indem sie Fluchtlinien der Befreiung, hoffnungsvolle Perspektiven für einen Frieden entwarfen. Zwei beeindruckende Philosophien aus der Erfahrung des Krieges sind die von Levinas und Weil. Bereits der Erste Weltkrieg hat beide in jungen Jahren getroffen: Weil war bestürzt über die unermessliche Gewalt; die Familie Levinas wurde aus ihrer Heimat vertrieben. Im Spanischen Bürgerkrieg hat sich Weil selbst am Kampf gegen die Truppen Francos beteiligt, wobei ihr Einsatz aufgrund eines Unfalls rasch beendet war. Der Zweite Weltkrieg und die Shoah haben beide dann radikal erschüttert. Als geborene Jüdin musste Weil aus Frankreich fliehen, kam über Umwege nach London, wo sie sich der Résistance anschloss und 1943 an den Folgen von Tuberkulose und Mangelernährung im Sanatorium starb. Levinas, bekennender Jude, geriet 1940 in Kriegsgefangenschaft, von wo aus er nur deshalb nicht ins Vernichtungslager deportiert wurde, weil er als Soldat mit französischer Staatsbürgerschaft dem Schutz der Genfer Konvention unterlag. Nach der Kapitulation Deutschlands aber musste er erfahren, dass ein Großteil der europäischen Jüdinnen:Juden und mit Ausnahme seiner Frau und Tochter auch seine gesamte Familie der grausamen Vertreibung und Vernichtung durch die Deutschen zum Opfer gefallen waren.

Aus diesen Erfahrungen der Shoah und der Gefangenschaft heraus entwickelt Levinas ein Denken, das dem Frieden dennoch höchste Geltung verschafft. Totalität und Unendlichkeit (1961) leitet er programmatisch damit ein, „daß es höchst wichtig ist zu wissen, ob wir nicht von der Moral zum Narren gehalten werden“ (Levinas 2002, 19). Er setzt bei der Frage an, ob Krieg die Moral und damit den Einsatz für Frieden einfach außer Kraft setzt, ob also Moral ein Beiwerk ist, das es aufzugeben gilt, wenn mit Krieg und Kampf das „Wirkliche“ einbricht. Auch Weils Denken kreist um diese Frage. Das zeigt die kurz vor ihrem frühen Tod geschriebene Auftragsarbeit für die Résistance, Die Verwurzelung (1943), in der sie Ideen für den Wiederaufbau Frankreichs nach der Befreiung entwickelt. Pointiert schreibt Weil, man müsse „[e]ntweder […] wahrnehmen, dass im Universum neben der Kraft noch ein anderes Prinzip wirkt, oder man muss die Kraft als einzige und unumschränkte Herrscherin auch über die menschlichen Beziehungen anerkennen“ (Weil 2011a, 222). Immer wieder pocht Weil auf die erste Option: Gerechtigkeit, Mitleid und Gnade sind stets möglich und können die allumfassende Gewalt zumindest kurzfristig unterbrechen. Levinas und Weil zeigen beide, dass der Krieg nicht das letzte Wort hat, dass es neben und trotz der Gewalt stets Akte der Fürsorge und Verantwortung gegeben hat und geben wird, die die Logik der Gewalt zumindest irritieren. Frieden bezeugt sich in dieser Perspektive ungebrochen unter dem Radar, in vermeintlich kleinen Akten, die Achtung bezeugen und einfordern, so schwach sie in ihren Wirkungen auch sein mögen.

Das Besondere an den Ansätzen von Levinas und Weil ist dabei nicht nur, dass sie aus der Erfahrung des Krieges sprechen und trotzdem für Frieden einstehen. Vielmehr argumentieren beide für Frieden, ohne dabei prinzipielle pazifistische Positionen zu vertreten. Einem Pazifismus als Prinzip stehen sie sogar eher kritisch gegenüber. So lehnen weder Levinas noch Weil die Gegengewalt ab: die gewaltsame Verteidigung eines Menschen kann für sie sogar notwendig sein. Man sei verpflichtet, jemandem beizustehen, die:der bedroht oder angegriffen wird, und sei es mit Mitteln der Gewalt. Aber dennoch sei es gerade dann geboten, diese Anwendung von Gewalt zu hinterfragen. Obwohl die gewaltsame Unterstützung eines Menschen also notwendig sein kann, kann sie darum nicht gutgeheißen werden: „Die Hand, die zur Waffe greift, muß gerade durch die Gewalt dieser Geste leiden“, schreibt Levinas (2007b, 133); und ähnlich drückt es Weil in ihren Notizbüchern aus: „Man muß sich bei der Berührung mit dem Eisen von Gott getrennt fühlen wie Christus“2 (Weil 2017a, 187). Der Einsatz von Gegengewalt bleibt gewaltsam, auch wenn er notwendig sein mag. Gegengewalt, gewaltsame Verteidigung sind Dilemmata, strukturell ambivalente Akte, sodass man Gewalt zwar anwenden muss, es aber nicht wollen kann. Es handelt sich um tragische Akte, die zwar gerecht, nicht aber gut sind, politisch notwendig, aber ethisch ambivalent bleiben.

Levinas und Weil haben über Frieden jeweils von diesem Dilemma aus nachgedacht. Statt Pazifismus damit als Prinzip anzusehen, entwickeln beide ein Denken des Friedens, in dessen Kern eine ethische Zerrissenheit steht. Pazifismus wird weder als Beharren auf absoluten Gewaltverzicht verstanden noch als Untersuchung über Bedingungen, unter denen der Einsatz von Gewalt legitim würde. Vielmehr betonen beide, dass Gewalt notwendig sein kann, dass man aber hinter die Gewalttätigkeit dieser Tat nicht zurückkommt. Theorien des gerechten Krieges oder Vertreter:innen eines absoluten Pazifismus würden so gesehen den Diskurs über Gewalt und Gewaltlosigkeit jeweils verfehlen, wenn sie die Tragik der gewaltsamen Verteidigung leugnen. Wer diese Tragik in der Anwendung von Gewalt leugnet, leugnet damit auch den Wert des Friedens. Denn Frieden zeige sich in letzter Instanz noch darin, die Gewalt, die man um des Friedens willen verübt, zu verurteilen. Dies ist eine der zentralen Erkenntnisse von Levinas und Weil. Entsprechend beschließt Levinas Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (1974), damit, dass es „[f]ür das bißchen Menschlichkeit, das die Erde ziert, […] eine Seinsschwäche zweiten Grades [braucht]: im gerechten Krieg, der gegen den Krieg geführt wird, unablässig zittern – ja schaudern – gerade um dieser Gerechtigkeit willen. Es braucht diese Schwäche“ (Levinas 2011, 394f.). Pazifismus ist also an einen bestimmten Sinn von Schwäche geknüpft (Weil 2017c, 319). Trotz der kriegerischen Zwänge bleibt man unsicher, ob das, was man tut, richtig ist. Kaum wahrnehmbar und doch unerlässlich verweist diese Schwäche, inmitten des Krieges, auf eine Unterbrechung, vielleicht sogar auf ein Jenseits dieses Krieges. Pazifismus wird so zum Beharren auf das „Ethische im Politischen“3, auf einen unbedingten Sinn der Ethik gerade dort, wo sie in der Logik des Krieges keinen Platz zu haben scheint.

Dieses Beharren auf das Ethische bietet eine besondere „Optik“ (Levinas 2002, 23), die Pazifismus in Kriegszeiten unerlässlich macht. So lässt diese Optik etwa Formen von Widerständen dort erkennen, wo sie kaum vernehmbar sind. Flucht, Verweigerung oder Formen passiven Widerstands mögen im Krieg als allzu schwache Akte erscheinen. Und doch rehabilitieren sie die ethische Beziehung und damit das, worauf jeder Frieden fußt. Ein höflicher Akt, bedingungsloses Mitleid oder unbedingte Fürsorge können in Kriegszeiten beweisen, dass „nicht alles unerbittlich [ist]“4 (Levinas 2002, 351), dass Frieden weiterhin möglich bleibt. Zudem legt diese Optik ein besonderes Augenmerk auf eher zivilgesellschaftliche Dimensionen des Krieges, etwa die Auswirkungen einer zunehmenden Militarisierung auf das Leben der Menschen (Weil 1975, 231). Dass Menschen dennoch fortfahren, ihr Alltagsleben zu organisieren, sich zusammenzuschließen, um mit Not und ständiger Gefahr umzugehen, wird dadurch ebenfalls als widerständige Leistung erkennbar.

Bevor wir also vorschnell mit dem Einbruch des Krieges den Pazifismus aufgeben, sollten wir uns zunächst fragen, was der Pazifismus überhaupt ist, den wir da aufgeben, und ob es nicht eine Form des Pazifismus gibt, für den es sich lohnt, allen kriegerischen Zwängen zum Trotz einzustehen. Wenn Pazifismus im Krieg letztlich eine unerlässliche Perspektive anbietet, wäre es sogar geboten, diesen Pazifismus hochzuhalten. Mit Levinas und Weil will ich im Folgenden Pazifismus als Haltung erarbeiten, die inmitten des Krieges ein besonderes Gewicht auf das Ethische legt, das heißt auf den Anspruch anderer Menschen auf Unverletzlichkeit. Pazifismus heißt, auf den Frieden in der Beziehung zum anderen Menschen zu beharren. Dieses Beharren auf das Ethische in der Beziehung zu anderen bietet eine im Krieg unerlässliche Perspektive, weil sie den Wert des Individuums betont und die Ambivalenz jeder Gegengewalt erfassen lässt; aber auch weil sie individuelle Widerstände erkennbar macht, die im Krieg sonst unsichtbar bleiben.

Damit ist das Anliegen dieses Essays ein doppeltes: erstens werde ich mit Levinas und Weil eine pazifistische Haltung entwickeln, die gerade im Krieg auf die ethischen Ansprüche jeder:jedes Einzelnen pocht und von dort aus Gewalt verurteilt, ohne dabei pauschal die Notwendigkeit gewaltsamer Verteidigung zu verneinen; aber auch ohne klare Bedingungen anbieten zu können, wann gewaltsame Verteidigung legitim wäre. Diese pazifistische Haltung blickt klar auf die Brutalität der Gewalt, die Tragik jeder Gegengewalt und weist uns trotzdem auf all jene Akte der Gewaltlosigkeit hin. Mit Weil lässt sich die pazifistische Haltung so beschreiben, „nichts vor dem Schicksal für sicher zu halten, nie die Gewalt zu bewundern, nicht die Feinde zu hassen und nicht die Unglücklichen zu missachten“ (Weil 2011b, 191). Obwohl sich mit Levinas und Weil so zeigen lässt, dass Pazifismus für Kriegszeiten unerlässlich ist, sind beide kaum Bestandteil der aktuellen Debatten des philosophischen Pazifismus. Mit meinen Untersuchungen werde ich also zweitens zeigen, inwiefern Levinas und Weil den philosophischen Pazifismus bereichern können. Indem ich ihre Positionen abschließend mit zeitgenössischen Positionen des Pazifismus in Verbindung bringe, zeige ich, wo konkrete Anknüpfungspunkte sind, um ihr Denken in den Diskurs einzubeziehen.

3 Das Ethische oder: der Widerstand anderer als Quelle einer pazifistischen Haltung

Was kann es bedeuten, im Krieg auf die ethischen Ansprüche der Menschen zu pochen? Meint das bloß die Erschütterung, mit der ich Bilder aus dem Krieg betrachte?5 Mediale Berichte zeigen Ausschnitte der Zerstörung, Berichte von Zeug:innen, liefern Eindrücke der Ereignisse vor Ort. All das ist in der Distanz schwer auszuhalten. Gleichzeitig blicke ich gebannt darauf, wie ukrainische Soldat:innen die russischen Truppen zurückschlagen, wie die Bürger:innen ihren Alltag aufrechterhalten und es schaffen, nicht an alldem zugrunde zu gehen. Die Lage der russischen Zivilbevölkerung oder der eingezogenen Soldat:innen lässt sich großteils nur erahnen. Umso mehr Achtung bringe ich auf für offene Dissident:innen und Regime-Gegner:innen und leide still mit jenen, deren alltäglicher Widerstand ungesehen bleibt. Mit all diesen Menschen leidet man also mit oder erklärt sich solidarisch. Doch wo findet sich hier ein Ausgangspunkt für eine pazifistische Haltung zum Krieg? Ich glaube, Pazifismus muss seine Quelle vor allem im Widerstand jedes:jeder Einzelnen gegen diese Gewalt sehen. All diese Menschen weigern sich, Gewalt hinzunehmen; und die Weigerung dieser Menschen im Krieg gegen diesen Krieg kann den Pazifismus begründen.

3.1 Simone Weil und der Widerstand gegen die Ungerechtigkeit

Gewalt zielt darauf ab, Menschen zu verdinglichen. In ihrem Essay Die Ilias oder das Poem der Gewalt (1940/41) zeichnet Weil nach, dass Gewalt – ob punktuell und manifest oder angedroht und latent – versucht, jeden Menschen „bei lebendigem Leibe zum Ding zu machen“ (Weil 2011b, 162). Sie beraubt Menschen ihrer Freiheit und Lebendigkeit, indem sie sie verletzt, tötet oder dadurch handlungsunfähig macht, dass sie wie ein Damoklesschwert über ihnen hängt. Krieg ist die Verabsolutierung dieser Verdinglichung, eine Atmosphäre ständig angedrohter Gewalt. Nicht nur, weil jederzeit ein Bombeneinschlag droht. Auch das, was man „Kriegsgeist“ oder „Militarismus“ nennen kann, durchzieht schon vor Ausbruch des Krieges zunehmend alle gesellschaftlichen Ebenen: Arbeit, Familie, Politik, Kunst, Denken. Ein sich verbreitender Kriegsgeist geht zudem mit einem stärker zentralistischen und bürokratischen Staat, mit einer expansiveren Wirtschaft einher. All das schafft eine Atmosphäre, in der sich Gewalt häuft und immer mehr gebilligt wird (Weil 1975, 234). In dieser schwelenden Gewalt spielt das Individuum irgendwann keine Rolle mehr. Inmitten einer Zeit „ohne Zukunft“ werden die Betroffenen nach und nach der Kriegsvorbereitung untergeordnet und verlieren so ihre Hoffnung auf ein freies und gutes Leben. Damit treibt der Krieg die allgemeine Tendenz zur „Enteignung des Individuums zugunsten der Kollektivität“ (Weil 1975, 227) auf die Spitze: den Menschen wird ihre gesellschaftliche Rolle geraubt, sie werden zu Menschenmaterial für den Krieg gemacht. Weil sie jederzeit zum Kriegsdienst eingezogen werden können und sich fügen müssen, potenziert sich ihre Unterdrückung und sie werden vollends verdinglicht (Weil 2011b, 181). Der zunehmende Militarismus schafft eine Atmosphäre der Gewalt und des Kollektivismus, in der den Menschen ihre individuellen Spielräume mehr und mehr abhanden kommen.

Doch schon in ihren Reflexionen über die Ursachen von Freiheit und sozialer Unterdrückung (1934) stellt Weil dieser Tendenz zur Enteignung des Individuums die ungebrochene Widerstandskraft jedes Menschen entgegen, denn „nichts auf der Welt [kann] das Gefühl des Menschen verhindern, für die Freiheit geboren zu sein. Niemals, was auch geschehen mag, kann er die Knechtschaft ertragen, denn er denkt“ (Weil 1975, 198). Später, in Die Person und das Heilige (1943), rührt dieser Widerstand des Menschen aus seinem unverbrüchlichen Empfinden von Ungerechtigkeiten. Weil zufolge wohnt jedem Menschen etwas Heiliges inne, das sie das Unpersönliche nennt. Dieses Unpersönliche zeige sich darin, dass „seine Seele von dem Gedanken zerrissen würde, ihm werde ein Übel angetan“, dass es also in jedem Menschen etwas gebe, das „unbesiegbar darauf wartet, daß man ihm Gutes und nicht Übles tut“ und dass jeder Mensch, stumm oder laut heraus, gegen eine drohende Ungerechtigkeit protestiere in der Klage: „Warum tut man mir Übles an?“ (Weil 2018b, 29f.). Das Heilige des Menschen zeigt sich so in seiner Verwundbarkeit und drückt sich im Widerstand gegen jede drohende Verwundung aus, im Beharren darauf, Mensch zu sein und kein Ding.

Insofern Krieg zwangsläufig Gewalt und Ungerechtigkeit bedeutet, verletzt er das Unpersönliche der Menschen. In ihrer Weigerung gegen die Gewalt wurzelt die Weigerung gegen den Krieg, sowie die Unterstützung für all jene, die sich seinen Zwängen entziehen wollen. Denn die Weigerung der Menschen gegen drohende Gewalt hat ethische Folgen. Wie Weil zeigt, artikuliert sich deren Widerstand gegen die Gewalt als Klage. Diese Klage dringt nach außen, nicht immer laut, doch stets vernehmbar. Und wer die Klage eines Menschen vernimmt, dem ein Unrecht droht, der kann davon nicht unberührt bleiben. Für Weil wird man durch diese Klage für den anderen Menschen verantwortlich. Und die Verantwortung geht mit einer universellen Tendenz einher. Da das menschliche Elend eine „konstante und nicht zu reduzierende Größe“ ist (Weil 2017b, 150), verweist der einzelne Widerstand gegen die Gewalt auf eine menschliche Grundbedingung: alle Menschen sind verwundbar, und alle Menschen weigern sich, Verwundungen hinzunehmen. Die Verwundbarkeit macht alle Menschen gleich, denn die Verwundbarkeit des einen drückt die Verwundbarkeit des anderen aus. Wer gegen die Gewalt rebelliert, rebelliert also gegen die Verletzung des Unpersönlichen im Menschen überhaupt. Lasse ich mich von dieser Weigerung ansprechen, und verneine so die Gewalt, die dieser Mensch erträgt, dann kann ich Gewalt überhaupt nicht mehr hinnehmen. Weil verschränkt so die Ablehnung gegen Gewalt, die ein Mensch erleidet, mit der Ablehnung von Gewalt überhaupt. Radikal gedacht bedeutet Gewaltlosigkeit bei ihr, eine Haltung zu entwickeln, durch die die eigene Seele durch die Wunden „in jedem Fleisch, ohne Ausnahme, so verletzbar ist, wie durch die im eigenen Fleisch, nicht mehr und nicht weniger“ (Weil 2017b, 213).

Weil lässt Pazifismus also als radikal egalitäre Antwort auf die grundsätzliche menschliche Verwundbarkeit denken. Und das bedeutet, ethisch nicht zwischen Menschen zu unterscheiden, ihren drohenden Leiden Achtung zu schenken als Leiden, die das Unpersönliche im Menschen überhaupt betreffen. Es bedeutet, nicht aufzuhören, sich von der Gewalt bewegen zu lassen, die Menschen im Krieg erleiden, und nicht zu unterscheiden, wer unter ihr leidet. In ihrem Aufsatz über die Ilias veranschaulicht Weil diese Haltung. Die Ilias zeichne sich durch jene „lichten Momente“ aus, in denen die Menschen, aller Brutalität des Krieges zum Trotz, „eine Seele haben“ (Weil 2011b, 192). Die Ilias offenbart ihren pazifistischen Geist darin, dass sie die unumschränkt zugefügte Gewalt schonungslos darstellt, sie aber immer wieder dadurch unterbricht, dass vom Leiden jedes Menschen berichtet und jede:r Einzelne betrauert wird. Dadurch wird in jedem dieser Mensch das Unpersönliche rehabilitiert. Denn jeder Mensch wird als einzelner Mensch angesprochen, wo der Krieg darauf aus war, ihn in ein bloß kollektives Ding zu verwandeln.

Zusammenfassend findet sich bei Weil eine pazifistische Haltung, die jedem Menschen Achtung zollt und ihn in seinem jeweiligen Widerstand gegen drohende Ungerechtigkeit unterstützt. Quelle der pazifistischen Haltung sind nicht eigene Ideale, die eigene Situation oder mögliche politische Einbußen – sondern das Unpersönliche jedes Menschen, also seine Weigerung, Gewalt zu erleiden.

3.2 Emmanuel Levinas und die Zumutungen der Verantwortung

Die Zumutungen eines solchen Pazifismus schildert Levinas in aller Eindrücklichkeit. Für seine Philosophie ist die Anrufung durch einen anderen Menschen grundlegend, oder wie er betont: des Anderen6, das heißt, eines anderen Menschen in dessen Andersheit. Levinas geht von dem beinahe banalen Phänomen aus, dass andere mit mir sprechen: sie rufen nach mir und fordern mich zur Antwort auf. Ich kann nicht anders, als auf sie zu reagieren, denn selbst wenn ich sie ignoriere, gehe ich auf sie ein, indem ich meine Antwort verweigere. Trotzdem macht sich ein:e andere:r mit dieser Ansprache verwundbar. Sein:ihr Ruf ist zwar fordernd und zwingt mich zur Antwort, aber es ist auch eine Entblößung. Denn andere sind mir als Antlitz7 gegeben, das heißt, hinter ihrer Forderung steckt das Eingeständnis, dass sie mich brauchen. Wenn mich jemand anspricht und zur Hilfe ruft, dann hat dieser Hilferuf also eine gewisse Stärke, insofern er fordernd ist, und gleichzeitig die Schwäche, dass er eine Bedürftigkeit ausdrückt, der ich mich auch nicht annehmen könnte. Nichtsdestotrotz wohnt der Verwundbarkeit, die sich im Blick des Anderen zeigt, auch bei Levinas eine Forderung inne: das Andere fordert mich zur Hilfe und dieser Appell macht den Blick des Anderen zur Quelle seines Widerstands. Levinas beschreibt das Antlitz als „unendliche[n] Widerstand des Seienden gegenüber meiner Macht“ (Levinas 2007a, 117). Im Unterschied zu Weil verweigert sich das Andere bei Levinas dabei nicht nur der drohenden Ungerechtigkeit überhaupt, sondern spezifisch jener Ungerechtigkeit, die ich ihm gegenüber verrichten kann. Der Blick des Anderen soll mich davon abhalten, dass ich mir seine Verwundbarkeit zunutze mache. Ich könnte diesen verwundbaren Menschen verletzen, ihm Leid zufügen; aber wie Levinas zeigt, zerschellt meine Macht über diesen Menschen an seinem hilflosen Blick, und damit an seiner Schwäche. Das Andere beendet meine vermeintlich unbeschränkte Macht, mit der ich mich angesichts seiner Verwundbarkeit ausgestattet sehe, gerade durch diese Verwundbarkeit. Denn nun „[kann ich] nicht mehr können“ (Levinas 2007a, 199).

Der Ruf eines Menschen fordert mich also zur Antwort und dazu, ihm Beistand zu leisten. Dadurch durchbricht er meine Macht. Er drängt sich mir mit einer Dringlichkeit auf, der ich mich nur durch Gewalt entziehen könnte. „Gewaltsam“, definiert Levinas, „ist jede Handlung, bei der man handelt, als wäre man allein: als wäre der Rest des Universums nur dazu da, die Handlung in Empfang zu nehmen“ (Levinas 2017, 15). Nicht auf den Ruf des Anderen einzugehen, ist also ein Akt der Gewalt, weil ich so tue, als gäbe es das Andere nicht, als hätte es nicht nach mir gerufen.

Levinas stellt nun die erhebliche Last heraus, die es bedeutet, von einem Menschen angesprochen zu werden. Denn ich lasse diesen an mich heran, muss diese Annäherung ertragen, die meine Verantwortung für sein Wohl bedeutet. In meiner Ansprechbarkeit entblöße ich mich, setze mich diesem Menschen aus. Indem ich für ihn verantwortlich bin, gebe ich ihm die Möglichkeit, immer mehr von mir zu fordern (Levinas 2005, 94). Ich gebe mich ihm preis, übernehme einen Teil seiner Last und mache mich dadurch selbst verwundbar. Es ist, als würde ich meine Verfügungsmacht jetzt in seine Hände geben, denn dieser Mensch kann mit meinem Hilfsangebot nun machen, was er will: mich täuschen, ausnutzen, über Gebühr beanspruchen. Daher spricht Levinas auch davon, dass ich „Geisel“ des Anderen bin und meine Verantwortung herrührt von einer „[t]raumatische[n] Passivität“ (Levinas 2011, 247f.). Meiner Verantwortung wohnt also selbst eine Spur von Gewalt inne.

Wie kann diese wechselseitige Gewaltsamkeit zum Frieden führen? Wie kann der Ruf des Anderen, der selbst gewaltsam ist, auch die „Gewaltlosigkeit schlechthin“ (Levinas 2002, 292) bedeuten? Frieden erhebt sich für Levinas aus der Anerkennung der Verwundbarkeit des Anderen. Und diese Hinwendung an einen Menschen setzt mich wiederum ihm aus. Frieden meint also die Ansprechbarkeit und Antwortbereitschaft für den verwundbaren Menschen; Frieden als „Wachwerden für die Zerbrechlichkeit des anderen“ (Levinas 2007b, 145). Pazifismus ist meine Antwort auf die fordernde Verwundbarkeit des Anderen. Das Andere fordert mich in seiner Schwäche auf, ihm nichts anzutun, sondern ihm beizustehen. Für Levinas entspricht der Ruf des Anderen dabei dem biblischen Tötungsverbot, es fordert also: „Du wirst nicht töten“ (Levinas 2002, 441). Dieses Tötungsverbot ist mehrdeutig: es meint das konkrete Verbot, diesen Menschen zu töten, was umgekehrt auch heißt, ihn angesichts des Todes nicht allein zu lassen (Levinas 2008, 90f.). Zudem bedeutet das Tötungsverbot, das Andere, also die Andersheit, nicht zu verneinen. So definiert Levinas Töten auch als „der absolute Verzicht auf das Verstehen“ (Levinas 2002, 284). Hier geht es darum, das Andere nicht zu instrumentalisieren, es nicht auf eine Rolle festzulegen. Levinas charakterisiert das Tötungsverbot aber auch positiv darüber, wie ich darauf reagiere, nämlich mit dem wiederum biblischen Ausspruch: „Hier bin ich, sieh mich“8 (Levinas 1999, 258). Pazifismus besteht also nicht nur in dem Verzicht auf Gewalt, sondern positiv in meiner Bereitschaft, dem Anderen beizustehen, seine Nähe zuzulassen – und zwar auch im Äußersten, das heißt gerade dann, wenn ihm Gewalt droht. Pazifismus ist die Weigerung, mein Gesicht vom anderen Menschen abzuwenden. Pazifismus ist stattdessen meine Hinwendung an diesen Menschen, auch wenn seine Nähe für mich die enorme Last jeder Verantwortung bedeutet.

Krieg nun leugnet diese ethische Situation. Als Institutionalisierung von Verdinglichung und Verfügung über andere zwingt uns Krieg, dem Anderen im Modus des Nicht-Verstehens, der Gleichgültigkeit oder physischen Gewalt zu begegnen: ob als Kamerad:in oder Feind:in – Krieg verhindert, dass ich die Andersheit und Verwundbarkeit des:der anderen anerkenne. Pazifismus wäre demgegenüber die Aufrechterhaltung meiner Ansprechbarkeit für das Andere, denn es ist der Ruf des Anderen nach mir, der die Logik des Krieges unterbricht. Das Andere ist bei Levinas Quelle der Gewaltlosigkeit und meine Verantwortung darf im Krieg nicht nachlassen: „In der Welt des Krieges nicht zu dem Schluß kommen, die Werte des Krieges seien allein sicher; in tragischen Situationen nicht an den virilen Tugenden des Todes und des Mordes aus Verzweiflung Gefallen finden“ (Levinas 1988, 104). Pazifismus heißt, dem Anderen weiterhin im Modus des Friedens zu begegnen.

Auch für Levinas beruht Pazifismus so auf den Ansprüchen der einzelnen Menschen. Pazifismus meint, sich ihren Rufen anzunehmen und mit bedingungsloser Bereitschaft zu antworten. Ich muss ihnen im Angesicht des Äußersten beistehen, selbst wenn das heißt, sich dem Anderen wiederum auszusetzen. In meiner Bereitschaft, dem Anderen zu antworten und beizustehen, muss ich sein Leid an mich heranlassen. Ich bin verantwortlich für die Belange des Anderen, muss das Andere in seiner Verwundbarkeit schützen. Konkret besteht Pazifismus also darin, Fluchthilfe zu leisten und medizinische oder finanzielle Unterstützung zu bieten. Manchmal reicht auch die bloße Höflichkeit einem Menschen gegenüber, der nach der Logik des Krieges als Feind:in geächtet werden sollte, die Weigerung etwa, jeden russischen Menschen als Feind:in anzusehen und stattdessen besonders jene unter ihnen zu unterstützen, die sich dem Krieg offen oder heimlich widersetzen. So geht es einer pazifistischen Haltung darum zu bezeugen, dass es immer auch etwas anderes gibt als den Krieg: dass es trotz des Krieges das Andere gibt: „Die Gewalt ist nicht das Ende der Rede“ (Levinas 2002, 351). Die Last dieses Pazifismus kann enorm sein, denn er impliziert, das Kriegsgeschehen unangenehm nah kommen zu lassen, etwa durch persönliche und finanzielle Einbußen, in der Trauer um all die Opfer dieses Krieges, sowie im Einsatz für sichere Fluchtwege und umfassendes Asyl. Dem voraus geht die Einsicht, dass es gerade nicht vorrangig um eigene Belange geht und auch nicht, wie ich im Folgenden zeigen werde, um eigene Überzeugungen. Pazifismus kann bedeuten, selbst eine prinzipielle Gewaltlosigkeit aufzugeben, um andere im Widerstand gegen die Gewalt auch gewaltsam zu unterstützen. Die Logik des Krieges, so Levinas, endet erst, wenn ich selbst infrage gestellt bin, wenn ich auf meine Ansprüche und Überzeugungen verzichte (Levinas 2007a, 191).

4 Das Politische oder: der Widerstand anderer als Quelle von Gegengewalt

Aber die Last des Pazifismus wird noch größer. Da ist nicht nur die unangenehme Nähe des Anderen, sondern die Frage danach, wie ich verfahren soll, wenn in jedem Menschen etwas gegen Gewalt rebelliert, aber einer unter ihnen angegriffen wird und ich diesem Menschen nur helfen kann, wenn ich einen anderen attackiere. Wenn ich mich von den Ansprüchen jedes Menschen leiten lasse, wie kann ich dann zur Gewalt gegen einen unter ihnen greifen müssen? Verliert, drastisch formuliert, ein:e Angreifer:in den Anspruch auf meine Gewaltlosigkeit? Ist der Ruf der:des Angegriffenen so stark, dass er mich gänzlich vereinnahmt? Und kann ich mich weigern, mich von der:dem Angreifenden weiter ansprechen zu lassen?

4.1 Emmanuel Levinas und die Ansprüche des Dritten

Gäbe es nur ihn und mich, dann wäre die Sache klar: ich wäre nur verantwortlich für diesen Menschen. Aber es bleibt nicht bei dieser rein ethischen Begegnung. Schon in Totalität und Unendlichkeit verkompliziert Levinas die Situation durch Einführung des Dritten: hinter dem Blick des Anderen werde ich dieses Dritten gewahr, das heißt, ich sehe andere Andere, sehe sogar die ganze Menschheit (Levinas 2002, 308).9 Später vertieft Levinas die Auseinandersetzung mit dem Dritten und erschließt sich damit konzeptuell und vom Ethischen ausgehend das Politische, also jenen Raum, in dem neben mir und dem Anderen noch andere Andere sind – wo es also um Fragen der Pluralität geht. Im Politischen kommt meine Verantwortung strukturell an ihre Grenzen. Denn in Anwesenheit mehrerer Anderer muss ich die Belange all dieser Anderen koordinieren, ich muss abwägen und womöglich schließen sich die Belange der Anderen untereinander aus. Dann muss ich mich entscheiden, wem ich beistehe. Hinzu kommt, dass mein Engagement, meine Möglichkeiten zum Beistand begrenzt sind und ich nicht allen alles geben kann. Ich kann die ethischen Belange aller Anderen nicht erfüllen, wenn ich mit einer Pluralität von anderen konfrontiert bin – und, wie Levinas erinnert, „in der Gesellschaft ist man niemals zu zweit, sondern immer mindestens zu dritt“ (Levinas 2013, 191). So bin ich gezwungen abzuwägen: wem gebe ich was, wer braucht mich wie am ehesten, und gibt es womöglich jemanden, der:die diesem Menschen besser helfen könnte? Die unüberwindbare Schwierigkeit, die mit dem Dritten aufkommt, ist, dass ich das Unvergleichliche vergleichen muss. Jede:r Einzelne ist ein Anderer und damit jemand, der:die nach mir ruft, meine Antwort und meinen Beistand verlangt. Doch ich kann nicht allen entsprechen und so kommt es zur „Gewissensfrage“ (Levinas 2011, 344). Helfe ich dem einen Menschen, vernachlässige ich den anderen; schlage ich mich auf die Seite des einen, stelle ich mich gegen den anderen. So ist es unausweichlich, dass ich im Zusammenleben mit anderen Menschen deren Ansprüche verletze. Ich kann es nicht allen recht machen, was in aller Drastik bedeutet: ich werde manch eine:n verletzen.

Verschärft wird die ohnehin überfordernde Verantwortung also dadurch, dass Menschen einander verletzen wollen können. Wie reagieren, wenn jede:r nach meinem Beistand ruft, aber eine:r dem:der anderen Gewalt antut? Für Levinas ist dies die Situation, in der der politische Druck mich zur Einseitigkeit zwingen kann. Die Verletzung eines Menschen kann mir die bewusste Verletzung eines anderen gebieten: „Mein Widerstand beginnt dann, wenn das Böse, das er mir antut, einem Dritten angetan wird, der ebenso mein Nächster ist. Der Dritte ist es, der die Quelle der Gerechtigkeit und dadurch der berechtigten Repression ist. Die Gewalt, die ein Dritter erleiden muß, rechtfertigt es, daß man gewaltsam der Gewalt des Anderen Einhalt gebietet“ (Levinas 1999, 104). Hier deutet sich eine Zuspitzung des Konflikts an: wo das Andere Quelle der Gewaltlosigkeit ist, begründet das Dritte die Gerechtigkeit. Im Idealfall fallen ihre Ansprüche zusammen, aber insbesondere in Kriegszeiten fallen sie auseinander. Ich verteidige das Dritte gewaltsam, schlage mich auf seine Seite, und verletze damit die Ansprüche des Anderen. Ich handle gerecht oder zumindest im Namen der Gerechtigkeit, aber nicht unbedingt gut; im Namen der menschlichen Würde und Verwundbarkeit, aber durch die Verletzung der Verwundbarkeit und Würde eines:einer Einzelnen. Gilt es das so hinzunehmen, muss ich mich der Notwendigkeit beugen und das Ethische doch einfach aufgeben?

Levinas bietet keinen Ausweg aus dieser tragischen Situation, aber er erinnert daran, dass die Beziehung zum Anderen nicht endet, wo das Dritte auftritt. So wie hinter dem Blick des Anderen das Dritte lauert, ist in jedem Dritten immer das Andere anwesend: jede soziale Beziehung geht auf die Begegnung mit einem Antlitz zurück (Levinas 2002, 309). Und der Ruf des Anderen verstummt nicht. Darin scheint für Levinas ein Umgang mit, aber keine Lösung der Tragik der Gegengewalt zu bestehen: nicht aufhören, sich ansprechen zu lassen, selbst wenn ich mich gegen die Belange eines Menschen wende. So „[bleibt] [d]ie Gerechtigkeit […] Gerechtigkeit nur in einer Gesellschaft, in der zwischen Nahen und Fernen nicht unterschieden wird, in der es aber auch unmöglich bleibt, am Nächsten vorbeizugehen“ (Levinas 2011, 347). Das Andere, und damit jede:r andere, darf also nicht aufhören, für mich zu zählen. Eine pazifistische Haltung wäre eine solche, die hinter jeder politischen Entscheidung, hinter jedem Einschreiten im Namen der Gerechtigkeit, auf die Weigerung aller Menschen, Gewalt zu erleiden, pocht. Die Gewalt, die wir verüben, um jene, die Gewalt verüben, an weiterer Gewalt zu verhindern, stößt unweigerlich auf einzelne andere, die sich weigern, diese Gewalt gegen sich hinzunehmen. Und diese Weigerung muss gehört werden. Die Ansprüche, keine Gewalt zu erleiden, versiegen nicht und dürfen hinter der Politik und den Notwendigkeiten des Krieges nicht an Bedeutung verlieren. Daher das zitierte Wort von Levinas, dass wir durch unsere Gegengewalt selbst leiden müssen (Levinas 2007b, 133). Es geht darum, sich der Gewalt der eigenen Tat bewusst zu bleiben und nicht im Namen der Gerechtigkeit die Verletzung zu vergessen, die ich im Begriff bin zu verursachen. Gegengewalt ist eine schmerzliche Tat, und dieser Schmerz versichert, dass das Andere weiterhin zählt. Levinas nennt dieses ethische Unbehagen, das uns angesichts eigener Gewalt ergreift und das sich in der Zerrissenheit ob der eigenen Tat zeigt, „schlechte[s] Gewissen“ (Levinas 1999, 247). Sich in der Tat vor dem fürchten, was dem Anderen blüht, sich vor dem Ungerechten fürchten, das man im Namen der Gerechtigkeit verübt: das wäre der letzte pazifistische Niederschlag in meiner Handlung. Nur so bleibe ich ansprechbar und lasse die unerträgliche Nähe des Anderen weiterhin zu; selbst in Ausübung von Gewalt gegen einzelne andere.

Levinas entwickelt also einen Pazifismus, der sich keinem Prinzip, sondern den Widerständen des Anderen und des Dritten gegen die Gewalt verschreibt. Diese Ansprüche können mich zu Einseitigkeit, zu militärischer Unterstützung und selbst zum Einsatz von Gewalt zwingen – ohne dabei den Konflikt zu kaschieren, den die Anwendung von Gewalt gegen einzelne andere für mich bedeuten muss. Gewalt muss widerwillig bleiben, damit der Krieg die Moral nicht zum Narren hält. Ich muss zwar den einen Menschen verletzen, weil er einen anderen bedroht oder angreift, aber ich kann seine Verletzung trotzdem nicht wollen. Meine Zerrissenheit angesichts der eigenen Handlung zeugt so von einem Rest Pazifismus inmitten des Krieges. Pazifismus zeigt sich in seinem Beharren darauf, dass dieses Leben, das dem politischen Kampf geopfert werden soll, nicht aufhört, mich anzugehen, dass es mir sogar unangenehm nahegeht, obwohl ich im Begriff bin, diese:n Einzelne:n zu verletzen. Der Frieden zeigt sich in meiner Angst vor der Gewalt, die ich ausübe, und damit in meiner ungebrochenen Wachheit für die Verwundbarkeit auch dieses Menschen (Levinas 2007b, 142f.).

4.2 Simone Weil und die politischen Ansprüche des Pazifismus

Weil drückt diese wankende Haltung in ihrem Londoner Notizbuch (1943) aus. Darin rechnet sie mit ihrem Pazifismus vor 1939 ab und notiert: „Wenn ich bereit bin, im Falle strategischer Notwendigkeit Deutsche zu töten, dann nicht, weil ich ihretwegen gelitten habe. Nicht weil sie Gott und Christus hassen. Sondern weil sie die Feinde aller Nationen der Erde sind, einschließlich meiner Heimat, und weil man sie unglücklicherweise, zu meinem großen Schmerz, zu meinem äußersten Bedauern, nicht daran hindern kann, Böses zu tun, ohne eine gewisse Anzahl von ihnen zu töten“ (Weil 2017d, 324). Ihre Einschätzung der Kriegslage gebietet also, die Deutschen gewaltsam zurückzuschlagen. Deren expansive Menschenverachtung, ihr Massentöten und unverhohlener Militarismus drängen dazu, einige unter ihnen gar zu töten, um ihre weitere Ausbreitung zu verhindern. Doch der dreifache Einschub, „unglücklicherweise, zu meinem großen Schmerz, zu meinem äußersten Bedauern“, drückt jenes Unbehagen vor der eigenen Gewalt aus, das Levinas als schlechtes Gewissen beschrieben hat.

Dabei lässt sich bei Weil bereits 1933 eine ähnliche Tendenz erkennen. Schon in einem kurzen Text aus dieser Zeit, Gedanken über den Krieg, der unmittelbar nach einem Aufenthalt in Deutschland verfasst wurde, notiert sie, „[d]er Frieden scheint weniger kostbar, wenn er mit den unsagbaren Schrecken einhergehen kann, unter denen Tausende von deutschen Arbeitern in den deutschen Konzentrationslagern stöhnen“ (Weil 2011b, 10). Bereits hier wird eine Distanz zum Pazifismus als Prinzip spürbar – Frieden, aber nicht um jeden Preis. Weil betont in diesem Text explizit, dass es statt um Prinzipien um die genaue Analyse der Situation gehen müsse, ehe man die Anwendung von Gewalt legitimiert oder ablehnt (Weil 2011b, 11). Dennoch hat Weil in der Folge immer wieder gefordert, dass man zu möglichst gewaltlosen Mitteln greifen solle, um einen Krieg zu verhindern – etwa zur Störung der Produktion oder zivilem Ungehorsam, um die staatliche Ordnung zu dezentralisieren. So schreibt sie in Beginnen wir den Trojanischen Krieg nicht von Neuem (1937), dass Krieg vom eigentlichen Kampf, dem Klassenkampf, ablenke, und dass man diesen Kampf führen könne, „ohne einen Tropfen Blut zu vergießen“ (Weil 2011b, 48). Später bekennt sie sich zu einer „wirksame[n] Gewaltlosigkeit“. So notiert sie in ihren Notizbüchern, dass die Gewaltlosigkeit nicht selbst gut sei; vielmehr müsse man sich stets genau und aufrichtig fragen, ob es die Verhältnisse hergeben, nicht zu kämpfen. Eines stellt sie bereits an früherer Stelle klar: sobald ein Krieg begonnen hat, sei Nichtwiderstand keine Option, denn dann könne man sich nicht mehr entziehen (Weil 2017a, 185). Dann müsse es darum gehen, ob der Widerstand gewaltsam oder gewaltlos zu führen sei. Und Gewaltlosigkeit ist für Weil nur eine Option, wenn sie wirksam ist, wenn sie also hilft, die Situation der Unterdrückten zu verbessern. Allerdings bekennt sie einen Vorrang der Gewaltlosigkeit: „Sich anstrengen, so zu werden, daß man gewaltlos sein kann. Das hängt auch vom Gegner ab. Sich anstrengen, in der Welt die Gewalt immer mehr durch wirksame Gewaltlosigkeit zu ersetzen“ (Weil 2017a, 291). So drängt Pazifismus auf eine kontinuierliche Abkehr von und Überwindung der Gewalt10 – schließt aber dabei den partiellen Einsatz von Gewalt nicht aus.

„Triebfeder für den aktiven Widerstand“ (Weil 2011a, 163) muss dabei das universelle Mitleid für jede:n andere:n sein, also ähnlich wie bei Levinas eine grundsätzliche und egalitäre Ansprechbarkeit und Verantwortung für das Andere. Auch bei Weil führt dieses Mitleid zum Konflikt, dass man zur Gewalt gegen jemanden greifen muss, die:der sich dieser Gewalt widersetzt. Im Gegensatz zu Levinas erweitert Weil diese Verantwortung aber zur politischen Haltung. So führt das Mitleid für Weil nicht nur dazu, jedem Menschen Achtung zu schenken, weil er ein Mensch ist (Weil 2011a, 8), und ihn im Kampf gegen erlittenes oder drohendes Unrecht zu unterstützen. Das Mitleid verleiht vielmehr den Schwächeren einer Gesellschaft überhaupt Priorität. Die Gewalt, die ein Mensch erleidet, führt zur politischen Solidarität mit allen Unterdrückten. Pazifismus führt so anhand eines individuellen Leidens zur Ablehnung von Unterdrückung überhaupt. Die Verantwortung, die bei Levinas zwischen den Ansprüchen des Anderen und des Dritten changiert, wird bei Weil übertragen in eine Solidarität mit allen Unterdrückten. Diese Solidarität führt Weils Pazifismus auch über den Krieg hinaus. So prangert sie in Die Verwurzelung die Situation der Arbeiter:innen und Bäuerinnen:Bauern an und fordert für den Wiederaufbau Frankreichs einen Gesellschaftsentwurf, der von der Solidarität mit den Unterdrückten ausgeht. Das ist für sie unweigerliche Folge des Krieges (Weil 2011a, 162f.). Genauso prangert sie die Situation in den Kolonien an und knüpft den antimilitaristischen Kampf der Résistance an dekoloniale Widerstände (Weil 2018a, 96f). Diese umfassenden gesellschaftlichen Neuausrichtungen sollen die Gewaltlosigkeit wahrscheinlicher machen, denn Weil sieht die Ursache für gewaltsame Situationen in unterdrückenden Gesellschaftsordnungen (Weil 2011a, 8). Pazifismus wird damit eine ethische Optik, die sich dezidiert auf politische Konstellationen richtet, wird zur ethischen Kritik an der politischen Situation überhaupt. Aber auch dies stellt wiederum nur einen Umgang mit, und keinen Ausweg aus der dilemmatischen Anforderung dar, dass die Befreiung jetzt mit Waffen erkämpft werden muss.

5 Das Ethische im Politischen oder: Pazifismus als brüchige Haltung

Mit Levinas und Weil wird Pazifismus als Haltung verstehbar, auf das Ethische im Politischen zu pochen. Diese Haltung ist in der Weigerung anderer Menschen begründet, Gewalt zu erleiden und sie äußert sich als ständige Wachsamkeit für die Verwundbarkeit des Anderen oder Unpersönlichen. Pazifismus nimmt seinen Ausgang damit von der ethischen Beziehung zum anderen Menschen. Konkret bedeutet Pazifismus in Kriegszeiten damit: erstens den Einsatz für Menschen, die von diesem Krieg betroffen sind durch humanitäre, medizinische und unter anderem auch militärische Hilfe, aber auch durch Gewährung von Asyl und die Schaffung sicherer Fluchtwege insbesondere für all jene Menschen, die sich den Kämpfen entziehen wollen; zweitens einen ethischen Blick auf die Situation, der Zeugnis von den alltäglichen Widerständen der Menschen gibt, und insbesondere auch von Widerständen, die der Logik des Krieges nach nicht vernehmbar sind: darunter Akte der Verweigerung oder der gemeinsamen Organisation des Alltags; drittens die umfassende ethische Kritik an gewaltsamen Strukturen und damit den Einsatz für eine gerechtere Gesellschaftsordnung auch jenseits des Krieges. Wie Weil zeigt, führt die Weigerung, das Leiden des einen Menschen zu dulden, dazu, die Unterdrückung von Menschen überhaupt abzulehnen. Pazifismus wird damit zur kritischen Sozialtheorie, die ausgehend von der Weigerung anderer Menschen, Gewalt zu erleiden, auf eine Transformation der Gesellschaft überhaupt hinwirkt (vgl. Fiala 2018, 63). Pazifismus ist damit die Praxis, auch über den Krieg hinaus gewaltsame Strukturen zu kritisieren und sich für geflüchtete, marginalisierte und ausgebeutete Menschen einzusetzen.

Levinas und Weil regen zu dieser Debatte entscheidend an und schreiben dabei selbst aus der Erfahrung des Krieges. Ihre Philosophien ebnen damit den Weg für einen Pazifismus, der gerade in Kriegszeiten eine neue Wachsamkeit für das Andere oder Unpersönliche in jedem Menschen fordert. Wenn Levinas schreibt, dass es „vom Frieden […] nur eine Eschatologie geben [kann]“ (Levinas 2002, 24) und Weil fordert, im Denken nichts zu bewundern „als die Handlungen und die Leben, die den Geist der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Liebe ausstrahlen“ (Weil 2011a, 210), dann machen sie deutlich, wie umfassend Pazifismus dabei sein muss und dass er gerade im Krieg dazu beitragen kann, das Ethische nicht aus dem Blick zu verlieren.

Dennoch hat Weil selbst klar gemacht, dass Pazifismus gewissermaßen ermöglicht werden muss. Wir müssen darauf hinarbeiten, dass es überhaupt eine wirksame Gewaltlosigkeit geben kann. Das setzt eine umfassende Transformation der politischen Strukturen voraus. Mit diesem Hinweis auf die politische Ermöglichung des Pazifismus lässt sich an zeitgenössische pazifistische Ansätze von Judith Butler und Adriana Cavarero anschließen. So schreibt Butler selbst in The Claim of Nonviolence: „I doubt very much that non-violence can be a principle, if by ‚principle‘ we mean a strong rule that can be applied with the same confidence and in the same way to any and all situations“ (Butler 2016, 165). Auch sie nimmt also Abstand von einem Pazifismus als Prinzip. Stattdessen bestimmt sie Pazifismus als politischen Kampf um egalitäre Ansprechbarkeit, der nicht ohne Gewalt geführt wird, der aber sensibel ist für die Gewalt, die Subjekte formt und definiert, und der dabei einen konstruktiven Umgang mit dieser Gewalt sucht. In Die Macht der Gewaltlosigkeit vertieft Butler dieses Verständnis, indem sie Gewaltlosigkeit als Verpflichtung auf eine Gleichheit definiert, die sie egalitäre Betrauerbarkeit nennt (Butler 2020, 64f.). Damit ist der politische Kampf um eine diskursive Ordnung gemeint, die herausstellt, welches Leben überhaupt als lebens- und schützenswert gilt. Gewaltlosigkeit wäre das Pochen darauf, dass jedes Leben zählt und geschützt werden muss und richtet sich so gegen eine gesamte Ordnung, die Verwundbarkeit unterschiedlich verteilt. Verwundbarkeit ist für Butler damit nicht nur eine menschliche, sondern auch politische Kategorie.

So erweitert Butler die Positionen von Levinas und Weil. Wo diese die Ansprechbarkeit gegenüber einem Menschen, die unverbrüchliche Gültigkeit seines Rufens als ethisches Leitmotiv des Pazifismus herausstellen und dem politisch Geltung verschaffen wollen, betont Butler die politischen Kämpfe um diese Ansprechbarkeit selbst. Wessen Ruf Gewicht hat, wer als Mensch gilt, von dem ich mich überhaupt ansprechen lasse, ist bereits ein umkämpftes Feld. Pazifist:innen müssen also die diskursive Arbeit leisten, damit überhaupt alle Leben als schützenswert anerkannt sind. Dies erfordert auch den Einsatz für infrastrukturelle Bedingungen, die Frieden überhaupt ermöglichen. So verdeutlicht Butler, dass Betrauerbarkeit über die bloß dyadische Beziehung hinausgeht (vgl. Butler 2020, 98f.) – sie sieht, mit anderen Worten, die Quelle der pazifistischen Haltung im Dritten im Anderen, nicht im Anderen im Dritten, wie Levinas es betont. Butlers Ausführungen können in diesem Sinne die starken ethischen Forderungen, die Levinas und Weil in ihrem Denken betonen, politisch zurückbinden. Umgekehrt kann Butlers Pazifismus bei Levinas und Weil eine normative Grundlage gewinnen, weil beide das Ethische erfahrungsorientiert und in aller Tiefe ausgehend von der Weigerung aller Menschen, Gewalt zu erleiden, entwickeln.

Cavarero wiederum entwickelt eine Ethik der Gewaltlosigkeit, die von einer anderen Geometrie der Haltung ausgeht. Statt vom geraden (rectitude), das heißt, rechtschaffenen, integren (männlich konnotierten) Subjekt müsse Ethik von der Geneigtheit (inclination) ausgehen, also vom dezentralisierten, an andere angelehnten, leidenschaftlichen Subjekt (Cavarero 2021, 40f.). Dies führt die Idee eines Pazifismus als Haltung zurück auf symbolische Ordnungen. Wenn Levinas meine Infragestellung durch die Ansprechbarkeit gegenüber dem Anderen und dem Dritten beschreibt, und auch Weil die Zerrissenheit des Pazifismus in einer allen Menschen gemeinsamen Verwundbarkeit fundiert, erinnert Cavarero an die zahlreichen diskursiven und politischen Mechanismen, die eine Ontologie der Autonomie und Abschottung gegenüber dem Anderen stützen. Auch hier fände sich ein Ansatz, der die ethischen Maximen bei Levinas und Weil selbst in ihre politischen Kontexte stellt. Eine Haltung, die sich ihre eigene Brüchigkeit zugesteht, um ansprechbar zu bleiben gegenüber dem Anderen, eine Haltung also, die angesichts der Verwundbarkeit des Anderen selbst verwundbar wäre,11 steht einer ganzen Symbolik der Haltung gegenüber, die diese an Integrität und Unbedingtheit knüpft. Gerade im Krieg werden solch brüchige Haltungen negiert. Seine Logik erfordert Geradheit und Integrität. Krieg verneint damit zum Teil die Möglichkeit von Ansprechbarkeit. Eine pazifistische Haltung zeigt sich hiergegen im Beharren auf dieser Ansprechbarkeit, das heißt, im Vernehmen der Ansprüche des Anderen und des Dritten, auch da wo diese in Konflikt zueinander stehen. Pazifismus zeichnet sich als Haltung dadurch aus, dass er sich in diesem Sinn stets infrage stellen lässt.

So könnte eine Anbindung an feministische Theorien des Pazifismus, wie die von Butler und Cavarero, den Pazifismus, wie ich ihn mit Levinas und Weil entwickelt habe, konzeptuell erweitern, indem sie ihn politisch fundieren. Er richtet sich so gegen einen gesamten militärisch-industriellen Apparat und gegen ein Denken, die diese Kriegslogik stützen. Pazifismus geht dann über die Ansprechbarkeit im Krieg hinaus, weil er überhaupt über den Krieg hinausgeht und sich gegen eine ganze politische Ordnung richtet, gegen ein Denken, das zwischen verschiedenen Leben unterscheidet, und gegen eine Ontologie, die diese Epistemologie stützt. Levinas und Weil haben sich selbst inmitten des Krieges gegen diese Ontologie und gegen den Totalitarismus gewendet. Damit bieten ihre Ansätze ein unerschütterliches normatives Fundament, eine Begründung des Pazifismus gerade in der Erfahrung von Unterdrückung und Gefangenschaft, von Krieg und Gewalt selbst. Insofern Levinas und Weil die menschliche Widerständigkeit gegen Gewalt erfahrungsorientiert als Quelle des Pazifismus beschreiben, dienen ihre Schriften auch als Probe eines Pazifismus in Kriegszeiten.

Insgesamt wäre Pazifismus also eine solche Haltung, die sich ansprechen lässt von den Ansprüchen des Anderen und des Dritten, die nicht nach eigenen Prinzipien oder Anliegen entscheidet, sondern nach dem, was diejenigen beanspruchen, die vom Krieg betroffen sind. Eine pazifistische Haltung ist dabei eine, die auch auf Einseitigkeit zielen kann und die sich zur Unterstützung mit Waffen oder Gewalt gezwungen sehen kann, die sich aber ständig infrage stellt, die Zaudern, Überlegung, Zurückschrecken Geltung verschafft. Gleichzeitig geht die pazifistische Haltung über den konkreten Krieg hinaus. Von der Weigerung der Menschen im Krieg, Gewalt und Unterdrückung hinzunehmen, geht eine universelle Verantwortung aus: die Weigerung, Gewalt und Unterdrückung überhaupt hinzunehmen. Auf Basis der Anerkennung einer grundlegenden menschlichen Verwundbarkeit, in der das Heilige des Menschen wurzelt, geht es etwa um unbedingte Fluchthilfe, um die Unterstützung von Geflüchteten weltweit, um eine weitreichende humanitäre Hilfe – um den Einsatz für alle Menschen in ihrer Verwundbarkeit. Das ist der Imperativ, den Levinas und Weil aus dem Krieg gezogen haben: Levinas als Humanismus des anderen Menschen (Levinas 2005) und Weil als Kampf gegen die Entwurzelung durch Kolonialismus, Kapitalismus und Militarismus und für die Hoffnung auf Wiederverwurzelung aller Menschen (Weil 2011a).

Literatur


  1. Vgl. zum widerständigen Potential von Flucht und Passivierungen die Analysen von Iris Därmann (2020, 2021).↩︎

  2. Diese Formulierung knüpft an das Unglück an, womit Weil eine radikale Entwurzelung meint. Der Einsatz von Waffen sei also für Täter und Opfer von einem umfassenden körperlichen, seelischen und sozialen Leiden begleitet.↩︎

  3. So lautet der Untertitel von Judith Butlers Buch über Gewaltlosigkeit (Butler 2020), auf das ich in Kapitel 5 eingehe.↩︎

  4. Eindrücklich verbürgt dafür Ruth Klüger in weiter leben. Sie berichtet von einer Selektion im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, bei der sie wusste, dass ihr junges Alter von zwölf Jahren den Tod in den Gaskammern bedeuten würde. Da habe eine junge Schreiberin ihr zugeflüstert: „Sag, dass du fünfzehn bist“, was ihr das Leben rettete, weil sie damit zur Arbeit eingezogen wurde. Klüger reflektiert: „Je genauer ich über die […] Szene nachdenke, desto halt- und stützenloser scheint das Eigentliche daran, dass ein Mensch aus freier Entscheidung einen Fremden rettet, an einem Ort, der den Selbsterhaltungstrieb bis zur Kriminalität gefördert hat. Es ist etwas Beispielloses und Beispielhaftes daran. […] Simone Weil hatte recht, ich weiß es von damals, das Gute ist unvergleichlich und auch unerklärlich, weil es keine rechte Ursache hat als sich selbst und auch nichts will als sich selbst“ (Klüger 1992, 131f.).↩︎

  5. Für eine machttheoretische Analyse der Kriegsberichterstattung siehe die Analysen von Judith Butler (2016).↩︎

  6. In deutschen Übersetzungen ist meist von Der Andere die Rede, wo Levinas mit autrui die Andersheit des anderen Menschen bezeichnet. Ich werde autrui statt in dieser maskulinen Form mit Das Andere übersetzen. Dabei orientiere ich mich an den Ausführungen Pascal Delhoms, wonach autrui ein unveränderliches und unbestimmtes Pronomen ist. Delhom lässt autrui daher sogar unübersetzt (Delhom 2000, 78). Im Sinne der Lesbarkeit bevorzuge ich Das Andere. Analog werde ich im Folgenden auch mit le tiers umgehen und diesen Begriff als Das Dritte übersetzen.↩︎

  7. Ich habe mich für die Übersetzung „Antlitz“ (visage) statt „Gesicht“ entschieden, weil dessen Etymologie einen wichtigen Punkt ausdrückt: Antlitz entstammt dem mittelhochdeutschen antlitze und bezeichnet so viel wie das Zurück-schauende. Ant-litz ist also dasjenige, was mich anschaut, es zeichnet sich durch dieses Entgegenblicken aus.↩︎

  8. Das Französische me voici trifft die Bedeutung des hebräischen hineni besser. Mit hineni antwortet etwa Abraham auf den Herrn und es meint die unmittelbare Bereitschaft, sich diesem Ruf des Herrn anzunehmen. Dabei steht hineni in Form des Akkusativs, die das Französische me voici übernimmt und die Levinas hier im Sinn hat: „Das Wort ich bedeutet: hier, sieh mich, verantwortlich für alles und für alle“ (Levinas 2011, 253). Es geht darum, dass die Verantwortung für das Andere mich als ich konstituiert. Weil ein:e andere:r genau mich anruft, ihr:ihm beizustehen, bin ich vor ihr:ihm nicht austauschbar. Dadurch werde ich zu dem gemacht, der ich bin. Erst in der Verantwortung finde ich zu mir selbst. Levinas nennt dies Inspiration durch das Andere (Levinas 2013, 186). Nicht meine Fähigkeiten und mein Können machen mich aus, sondern meine Verantwortung für das Andere.↩︎

  9. Hier zeigt sich eine Parallele zu Weil, bei der die Verwundbarkeit, das Elend, das sich im Widerstand gegen das Unrecht anzeigt, auf ein allen Menschen gemeinsames Elend verweist, und so auf eine universelle Verantwortung.↩︎

  10. Das geht in Richtung des transformativen Pazifismus, der von Andrew Fiala vertreten wird. Fiala versteht Pazifismus als kritische Sozialtheorie, die sich gegen den militärisch-industriellen Komplex insgesamt wendet und Frieden als höchstes Gut betont. Dabei steht die kontinuierliche Verbesserung der Situation im Vordergrund (Fiala 2018).↩︎

  11. Vgl. zur Verwundbarkeit der Ethik bei Levinas und Weil die Analysen von Reed (2020).↩︎