Call for Papers: Schwerpunkt: Philosophie der Sozialen Bewegungen

09.01.2025

Call for Papers: Philosophie der Sozialen Bewegungen

Schwerpunkt in der Zeitschrift für Praktische Philosophie

Einreichfrist: 15. Dezember 2025

Herausgeber*innen des Schwerpunkts: Julian Prugger, Danilo Gajic und Ana Honnacker.

Soziale Bewegungen prägen das globale politische Geschehen der Gegenwart. Ob es sich um den Kampf gegen Klimawandel, Proteste gegen soziale Ungleichheit oder den Einsatz für die Rechte marginalisierter Gruppen handelt – soziale Bewegungen fordern bestehende Verhältnisse heraus. Sie werfen Fragen nach der Legitimität der bestehenden legalen, ökonomischen, politischen und soziomoralischen Ordnung auf, sie bringen gesellschaftliche Probleme zum Ausdruck und artikulieren Vorstellungen einer besseren oder gerechteren Einrichtung der Wirklichkeit. Dabei politisieren sie Unrechtserfahrungen, mobilisieren Emotionen und aktualisieren gesellschaftliche Konfliktpotenziale. Die Aktionen und Positionen sozialer Bewegungen treffen dabei nicht immer auf breite Zustimmung, sondern werden als eine Störung demokratischer Ordnung aufgefasst und rufen sogar staatliche Gegenmaßnahmen hervor. Eine solche Auffassung greift zwar offenkundig zu kurz und verkennt die Bedeutung einer lebendigen und kritischen Zivilgesellschaft für die demokratische Gesellschaft und Lebensform. Umgekehrt ist aber, blickt man etwa auf die Neue Rechte,  auch die pauschale Auffassung inadäquat, der zufolge soziale Bewegungen als solche treibende Kräfte gesellschaftlichen und politischen Fortschritts darstellen. Zudem sind selbst bei ‘progressivem’ Selbstverständnis der Akteure emanzipatorische Effekte ihrer Praktiken nicht garantiert.

All dies macht eine philosophische Reflexion sozialer Bewegungen erforderlich. Der vorliegende Schwerpunkt macht es sich zur Aufgabe, Begriff und Praktiken sozialer Bewegungen zu erhellen. Dabei soll die demokratietheoretische und sozialphilosophische Reflexion sozialer Bewegungen mit der philosophischen Analyse konkreter Praktiken ins Gespräch gebracht und auch die Implikationen für das Verhältnis von sozialen Bewegungen und Philosophie exploriert werden.

Soziale Bewegungen werden in der Diskussion der politischen und Sozialphilosophie zunehmend und aus verschiedenen theoretischen Blickwinkeln adressiert. So wird an den soziohistorischen Befund angeschlossen, dass insbesondere in liberalen Demokratien westlichen Typs die („Neuen“) Sozialen Bewegungen seit den 1970er Jahren dazu beigetragen haben, neue gesellschaftliche Bereiche als öffentliche Angelegenheiten zu definieren und damit das Politische über die Demarkationslinien herkömmlicher Klassen- oder Parteipolitik hinaus auszudehnen (Benhabib 2021). Damit kann sozialen Bewegungen nicht nur trotz, sondern wegen ihrer disruptiven Praktiken eine Bedeutung im Rahmen der gesellschaftlichen Selbstverständigung zukommen (Young 2001). Aus der Perspektive agonaler bzw. radikaldemokratischer Theorien spielen soziale Bewegungen sogar eine ausgezeichnete Rolle, da sie gesellschaftliche Dissense artikulieren und marginalisierte Positionen sichtbar machen. Damit sind sie ein Motor des Kampfes der Ausgeschlossenen um politische Teilhabe und für die „Demokratisierung der Demokratie“ unverzichtbar (Mouffe 1993, Marchart 2013). Auch die pragmatistische Sozialphilosophie hat jüngst Protestbewegungen daraufhin untersucht, inwiefern sie den experimentellen Lern- und Erfahrungsprozess der demokratischen Lebensform bereichern können (Serrano Zamora 2021; Kersting 2023). Das emanzipatorische Potenzial, aber auch die regressiven Tendenzen sozialer Bewegungen wurden insbesondere aus kritisch-theoretischer (Fraser 2022, Jaeggi 2023) sowie aus feministischer und postkolonialer Sicht (Dhawan 2024) zum Gegenstand gemacht.

Die Philosophie kann jedoch nicht nur zum abstrakten Verständnis sozialer Bewegungen, sondern auch zur Analyse ihrer konkreten Praktiken, Handlungs- und Aktionsformen beitragen. Beispiele hierfür sind epistemische Praktiken in Klima-Protestcamps (Serrano Zamora und Herzog 2022), präfigurative Politik als utopisch-zukunftsgestaltende Handlungsform sozialer Bewegungen (Shotwell 2016), die körperlich-performativen Dimensionen öffentlicher Versammlung und öffentlicher Kritik (Butler 2018; 2019), die Deutung sozialer Bewegungen als „Revolution für das Leben“ (von Redecker 2020), sowie die phänomenologische Analyse von Praktiken zivilen Ungehorsams (Herrmann 2024).

Die Auseinandersetzung mit sozialen Bewegungen wirft indes nicht nur gegenständliche und sozialphilosophische, sondern auch normativ-methodische und epistemologische Fragen auf. So haben einige Theoretiker*innen für eine Verzahnung philosophischer Gesellschaftskritik mit den in Bewegungen geführten sozialen Kämpfen ausgesprochen: Gesellschaftskritik sei heute als Kooperation zwischen Philosoph*innen und sozialen Bewegungen zu verstehen (Celikates 2007). Einige Stimmen stellen sogar die konzeptuelle Arbeit der Philosophie als amelioratives Projekt sogar explizit in den Dienst sozialer Bewegungen (Haslanger 2021). Diese Beispiele zeigen, dass soziale Bewegungen für die Philosophie mehr sind als bloßes Erkenntnisobjekt. Soziale Bewegungen fordern das philosophische Nachdenken heraus, indem sie eine selbstkritische Reflexion der eigenen akademischen Praxis oder eine inhaltliche Rejustierung bisher gängiger philosophischer Begriffe und Konzepte provozieren können.

Vor diesem Hintergrund freuen wir uns über die Einreichung von Beiträgen, die sozialphilosophische, demokratietheoretische, moralphilosophische, phänomenologische, erkenntnistheoretische oder ästhetische Ressourcen zur Reflexion sozialer Bewegungen fruchtbar machen. Bezugnahmen auf empirische Sozialforschung sowie experimentelle Methoden sind explizit willkommen. Die folgenden Fragenkomplexe mögen als Anregung dienen, angrenzende Fragestellungen sind ebenfalls möglich.

  • Begriff sozialer Bewegungen: Wie lassen sich soziale Bewegungen sozialphilosophisch definieren? Inwiefern ist der Terminus “soziale Bewegungen” bzw. der soziologische Befund „Neuen“ Sozialer Bewegungen überhaupt hilfreich? Inwiefern können begriffsgeschichtliche Überlegungen unser Verständnis gesellschaftlicher Kämpfe erweitern? Wie lässt sich die kollektive Praxis sozialer Bewegungen handlungstheoretisch fassen? Wie hängen soziale Bewegungen und sozialer Konflikt zusammen? Welche Perspektiven bieten unterschiedliche philosophische Traditionen und wie ist die Bedeutung sozialer Bewegungen in zeitgenössischen politischen Theorien verankert?
  • Normative und demokratietheoretische Einordnung sozialer Bewegungen: Welche Rolle spielen soziale Bewegungen für ein demokratisches Zusammenleben und für eine Emanzipation von patriarchalen, kolonialen und anderen Formen der Unterdrückung? Inwiefern sind soziale Bewegungen als Motor sozialen Wandels zu verstehen und wie wäre dieser zu bewerten? Welche normativen und ethischen Kriterien sollten wir uns bei der Beurteilung sozialer Bewegungen zu eigen machen? Wie lassen sich etwa progressive von regressiven sozialen Bewegungen unterscheiden und ggfs. auch Widersprüche der Praxis sozialer Bewegungen benennen? Inwiefern fordert die Praxisform sozialer Bewegungen auch unser Verständnis von Politik und Demokratie heraus?
  • Philosophische Analysen konkreter sozialer Bewegungen und Praktiken: Wie lassen sich Soziale Bewegungen und ihre konkreten Aktionen philosophisch analysieren? Welche spezifischen Formen des politischen Handelns lassen sich unterscheiden (z.B. Demonstration, Protestcamps, ziviler Ungehorsam, politischer Widerstand, präfigurative Politik, Aktivismus u.ä.)? Welche Rolle spielen Ästhetik, Solidarität, (politische) Emotionen oder utopisches Denken für die Praxis sozialer Bewegungen?
  • Das Verhältnis von Philosophie und sozialen Bewegungen: Welche methodischen und metaphilosophischen Fragen stellen sich bei der philosophischen Auseinandersetzung mit sozialen Bewegungen? Inwiefern kann die Reflexion der Praxis sozialer Bewegungen das philosophische Selbstverständnis irritieren? Kann die Erfahrung und Artikulation von erlittener Ungerechtigkeit in sozialen Bewegungen als Ausgangspunkt philosophischer Gesellschaftskritik dienen? Unterstützt die Philosophie soziale Bewegungen durch begriffliche Präzisierung, normative Orientierung, kritische Reflexion? Sollte die Philosophie enger mit sozialen Bewegungen zusammenarbeiten und (wenn ja), wie könnte eine solche Kooperation aussehen?

Die Einreichungsfrist für die Beiträge ist der 15. Dezember 2025. Die Veröffentlichung des Schwerpunktheftes ist für Winter 2026 geplant. Alle eingereichten Beiträge durchlaufen den üblichen doppelt-blinden Begutachtungsprozess. Manuskripte können über die Webseite der Zeitschrift für Praktische Philosophie eingereicht werden, wo sich auch Informationen zu Umfang und Gestaltung der Beiträge finden: https://www.praktische-philosophie.org.

Bei Rückfragen kontaktieren Sie Danilo Gajic (danilo.gajic[ät]hfph.de).

 

Literatur

Benhabib, S. (2021). The Democratic Moment and the Problem of Difference. In: Dies. (Hg.) Democracy and Difference: Contesting the Boundaries of the Political, S. 3–18. Princeton University Press.

Butler, J. (2018). Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung. Suhrkamp.

Butler, J. (2019). Rücksichtslose Kritik. Körper, Rede, Aufstand. Wallstein Verlag.

Celikates, R. (2007). Kritik als soziale Praxis. Gesellschaftliche Selbstverständigung und kritische Theorie. Campus.

Dhawan, N. (2024). Die Aufklärung vor Europa retten. Kritische Theorien der Dekolonialisierung. Campus.

Fraser, N. (2022). Three faces of capitalist labor: Uncovering the hidden ties among gender, race and class. Kritische Theorie in Berlin, Benjamin Lectures. https://criticaltheoryinberlin.de/benjamin_lectures/2022/. Zugegriffen: Nov. 2024.

Haslanger, S. (2021). Der Wirklichkeit widerstehen. Soziale Konstruktion und Sozialkritik. Suhrkamp

Herrmann, S. (2024). Civil Disobedience: A Phenomenological Approach. In: Journal of the British Society for Phenomenology 55 (1), S. 61-76.

Jaeggi, R. (2023). Fortschritt und Regression. Suhrkamp.

Kersting, D. (2023) : Demokratie gegen den Klimawandel. John Dewey und die Klimaproteste der Gegenwart. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 48 (2), S. 275-298. DOI:10.12857/AZP.910480220-6

Marchart, O. (2010). Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Suhrkamp.

Marchart, O. (2013): Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung. Transcript.

Mouffe, C. (1993). The Return of the Political. Verso Books.

Von Redecker, E. (2020). Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. Fischer.

Serrano Zamora, J. (2021). Democratization and Struggles Against Injustice. A Pragmatist Approach to the Epistemic Practices of Social Movements. Rowman & Littlefield.

Serrano Zamora, J. und L. Herzog (2022). A Real Epistemic Utopia? Epistemic Practices in a Climate Camp. In: Journal of Social Philosophy 53 (1), S. 38-58.

Shotwell, A. (2016): Against Purity. Living Ethically in Compromised Times. University of Minnesota Press.

Young, I. M. (2001). Activist Challenges to Deliberative Democracy. In: Political Theory 29 (5), S. 670-690.